Der Alte
"Das würde ich an deiner Stelle nicht tuen, Junge!"
Warum denn nicht?  Der Abgrund lockt, er wispert, er singt. Die erlösende Tiefe zwinkert ihm zu. Er wundert sich gar nicht, wieso der alte Mann auf einem der höchsten Gebäude der Stadt steht, nachts, im blassen Sternenlicht.
" Verzieh dich, Alter. Lass mich in Frieden.", sagt er, halb zu der gebrechlichen Gestalt umgekehrt. Der Mann sieht ihn nur ausdruckslos an. Er ist wirklich sehr alt, sein Gesicht ist durchzogen von Falten, sieht aus wie der Grand Canyon. Sein Haar ist weiß und länger als gerade modern ist; es weht um seine Schultern wie ein Umhang aus Nebelfetzen. Und überhaupt, was hat der Kerl denn da an? Weite, weiße Gewänder, die um seine dürren Glieder schlackern.
"Frieden bekommst du früh genug."
Als ob. Er hat den Frieden gesucht, aber der ist ein zu guter Versteckspieler. Mit den Brüdern zerstritten, die Freundin verloren und dann erst die Prügelein gestern.... Der Frieden kommt immer zu spät. Er dreht sich wieder um, die Zehenpitzen ragen schon über die Kante des Flachdachs, der Wind reißt an seinen Kleidern, seinem Haar, seinem Mut... "Ist das hier nicht ein freies Land? Darf man nicht auf dem Dach stehen wann man will?" , raunzt er in Richtung der Autos, die klein wie Glühwürmchen über die Straße zischen. Und leiser fügt er hinzu: " Und vom Fliegen träumen?"
"Freiheit ist ein gefährliches Gut."
Und ein störrisches. Er hat versucht sie zu zähmen, doch sie ließ sich nicht beherrschen. Wie ein Wildpferd ist sie, stark und furchterregend.
Er hatte schon immer Angst vor diesen Viechern, die sein kleinster Bruder so anhimmelt. Anhimmelte.
Stopp!
Schluss jetzt!
Er darf nicht denken, sonst wird es es sich womöglich anders überlegen!
Der Schritt in die Leere ist der einzige Weg, um seine Ehre nocheinmal zu retten.
"Lass mich!", brüllt er, "verschwinde mit deinen ach so weisen Sprüchen! Such dir ein anderes Dach zum klugscheißern! Ich... ach, verpiss dich einfach!"
Er weint. Er will es nicht, aber seine Tränendrüsen habe ein Eigenleben neuerdings.
Nur ein Schritt.
Der 1. Weg.
Der Alte sieht den Jungen an und sieht ihn nicht.
Er sieht sich selbst. Dort. An genau dieser Kante, vor so vielen Jahren. Erinnerung und Gegenwart vermischen sich. Er taumelt.
Er weiß, dass er sich betrogen gefühlt hat, als man ihn fortzerrte, ihm Beruhigungsmittel gab und ihm einredete, alles würde gut werden.
Betrogen um den Fall, den Frieden, die Freiheit...
Seine Beine wollen ihn nicht mehr tragen. Er sinkt in die Knie, als die Vergangenheit über ihn hereinbricht, einer gewaltigen Woge gleich.
Er kann es nicht.
Er hat den Jungen gesehen, mit den krausen Lockenbergen und der bleichen Haut, der die Stufen erklomm, tausende Stufen, hoch zu dem Dach.
Er ist hinterhergegangen, aus einem Gefühl heraus.
Und jetzt kann er nicht tun, wofür er seinen Rücken gefoltert und die Stufen heraufgehumpelt ist.
Er ist so schwach.
Er sieht auf zu der Siluette des Jungen. Der linke Fuß hebt sich vom grauen Boden und senkt sich ins nichts.
"Tu's... nicht....", wispert er.
Zu spät.
Der Frieden kommt immer. Zu spät.
Der 2. Weg
Der Junge wird von Weinkrämpfen geschüttelt, die das Mitleid nur so aus dem alten Mann herausströmen lassen.
Er erinnert sich an die selbe Kante. Da selbe Dach. Die selben, salzigen Tränen.
Und an Hände, die sich ihm auf die Schultern legen, ihn fortziehen und umfangen halten.
Er humpelt auf den Rand zu und legt seine knochige Hand auf die Schulter des Jungen.
Der Junge schüttelt sich und brüllt weiter, doch er lässt nicht los.
"Setz dich.", sagt er. " Lass mich dir etwas erzählen. Wenn du dann immer noch da hinunter hopsen willst, halte ich dich nicht davon ab. Lass mich nur... ausreden.
Der Junge zögert. Und nickt. Und setzt sich. Der Andere setzt sich daneben.
Zwei paar Beine baumeln über der gähnenden Leere.
Und er erzählt. Er erzählt dem wildfremden Kind, was er keinem der Ärtze, nicht einmal seiner Mutter erzählen konnte.
Von Angst, von Zweifeln. Von Freunden, die fremd werden, so fremd, dass es schmerzt sie nur anzusehen. Und von Verzweiflung. Von jener Verzweiflung, die ihn an die Grenze zum schwarzen Nichts. trieb. Er redet und redet, wie er lange nicht mehr geredet hat.
Als die Sonne die ersten Strahlen über den Himmelssaum streckt und die Wolken zart rosa und orange färbt sitzen sie immer noch dort oben und reden.
Und zum ersten Mal seit Monaten, lächelt der Junge wieder.