Stille Nacht, grausames macht...
Die letzten Tage sind angebrochen. Kalt und frostig taucht die Sonne im Nebel des Morgens auf. Eisig, wie der Blick aus manchen Menschenaugen. Trübsal macht sicht breit und verschleiert das Wesentliche. In Melancholie versunken trauern sie um sich selbst. Das Leid in der Welt spiegelt sich in der trostlosen Öde der Natur. Obdachlose suchen ein warmes Plätzchen um den Winter zu überstehen. Hungrig sehen die Münder der Kinder aus. Denen, für die das Wort Eltern ein Fremdwort ist. Ja, wie Hunde vegetieren sie vor sich hin, auf den schmutzigen Gassen der Altstadt. Ein Hauch von Zimt mischt sich unter die vielen Gerüche des weihnachtlichen Getümmels. Für die Armen der Armen ist es das Einzige, was sie von dem Fest erhaschen. Dem Fest der Liebe, das jedes Jahr pompöser ausfallen muss, so dass es alles andere überdeckt in seiner Grausamkeit. Grausam und Weihnachten? ...das passt irgendwie nicht zusammen, oder? Drücken wir also lieber ein Auge zu und setzen uns den hektischen Einkäufen aus. Den Massen in den Geschäften, die rücksichtslos alles niederwalzen, was irgendwie mit Mitgefühl zu tun hat. Jeder will der erste sein, lautet die Devise. Butterberge müssen abgebaut werden, billig soll der Festbraten sein auf Kosten anderer? Nein, die können es ja sowieso nicht zahlen. Gesindel! Soll zusehen, dass es verschwindet. Ein in Lumpen gekleidetes Mädchen sucht verstohlen im Mülleimer. Bestimmt ist dort noch ein Krümelchen zu finden. Garstige Worte erschrecken das Kind. Der brüllende Maronibräter auf dem Markt verscheucht die Kleine. Ja, so mitfühlend ist er mit seiner Kundschaft und seinem Geldbeutel. In der lebensgroßen, errichteten Krippe hinter dem Esel findet sie Unterschlupf. Für diese Nacht hat sie ein wohliges Strohbett. Unerkannt kuschelt sie sich ganz hinten ins Eck. Im Dunkel fällt sie niemanden auf. Langsam kullern Tränen ihre rot gefrorenen Wangen hinunter, die einzige Wärme, die sie spüren lässt, dass sie noch am Leben ist. Allmählich beruhigt sich das wilde Treiben auf den Straßen. Die bunten Lichter erlöschen. Ein Mann nähert sich der Krippe und stellt einen Eimer mit Fressen für die Tiere auf den Boden. Dann verriegelt er das quietschende Scheunentor am Eingang. Stille. Die Kleine kauert noch immer im Eck, doch nun kann sie endlich beruhigt aufatmen. Niemand ist mehr da, der sie tritt und schimpft oder verjagt. Nur sie und die Tiere in der eisigen Nacht der Weihnacht. Vorsichtig tastet sie in den Futtereimer. Sterne leuchten durch die kleine Luke am Dach. Und es scheint so, als ob sie für einen kurzen Augenblick etwas heller funkeln, denn nun erkennt sie das, was sie in der Hand hält. Es ist ein Stück eines richtigen Lebkuchens. Freude erfüllt ihr Herz als sie diese himmlische Köstlichkeit zum Mund führt. Ganz langsam lässt sie die Stückchen auf der Zunge zergehen. Liebevoll streichelt sie den Esel und lässt ihm das letzte Bröckchen mit dem Maul von ihrer Hand lecken. Alles in unwichtig, denn sie fühlt den Zauber, der sie umgibt. Wärme und Liebe sind im Raum. Sie ist angekommen, dort wo die Zeit still steht. Leise bedecken die Schneeflocken die Luke im Dach. Geborgenheit ist einfach da. Und nicht mal im Traum hätte sie daran gedacht, so einen wundervollen Heilig Abend zu verbringen. „Fröhliche Weihnachten“, flüstert sie den Tieren der Krippe zu und schmiegt sich liebevoll an sie. Das Fest der Liebe, das die Liebe ausstrahlt, die man gibt heißt es, das Mitgefühl das einem zuteil wird, das ist das Heilige daran, welches alles heil werden lässt. Allmählich döst sie in den Schlaf und der Engel der Weihnacht nimmt sie behutsam auf seine Flügel, um mit ihr durchs Himmeltor zu schweben...
Silvia J.B. Bartl