Im Auge der Veränderung
„Was das war?“, echote die Magierin erschöpft schmunzelnd, während sie mich ruhig mit ihren azurblauen Augen musterte. Ich versuchte meine Unsicherheit zu überspielen und erwiderte mit gespielter Wut: „Ganz genau! Ich will wisse, was hier geschehen ist! Wer bist du? Und…“, doch dann verstummte ich. Ein schwacher, aber plötzlicher Ruck hatte das Boot in Bewegung gesetzt. Ungläubig beobachtete ich, wie es geradewegs auf die östliche Küste zuhielt. Es kehrte nicht zurück zu der Stadt. Verwirrt schaute ich wieder zur Magierin, doch sie lächelte nur schweigend vor sich hin. Meine Wut verlor ihren gespielten Charakter und ich fuhr sie ungehalten an: „Was geht hier vor? Wohin fährt dieses verfluchte Boot, Magierin?!“ „Beruhig dich doch erst einmal, Junge.“, meinte die Frau sanft und ließ sie sich dann vorsichtig auf der Reling nieder, wobei sie ihren Dreizack noch immer als Stütze benutzte. Nach einem widerwilligen Zögern folgte ich schließlich ihrer Aufforderung und setzte mich vor ihr auf die alten Bretter. Erwartungsvoll fixierte und beobachtete ich sie. Und erkannte, dass ich sie wohl kaum drängen konnte. Ihre Haut war vorher schon sehr hell gewesen, doch nun glich ihr Gesicht einer verschneiten Blumenwiese. Ein Hauch von Mitleid, wie auch von Schuld zog leicht an meinem Gewissen vorbei. Seufzend zügelte ich also meine Ungeduld und wartete, bis sie mit leiser Stimme anfing zu sprechen: „Du hast etwas gesehen, dass du nicht hättest sehen sollen.“ Etwas an ihrer klaren, sanften Stimme schaffte es mich zu beruhigen. Doch als ich den Sinn ihre Worte begriff, wanderte meine Hand unwillkürlich zu meiner Augenklappe und ich erwiderte gleichgültig: „Das ist für mich nun wirklich nichts Neues…“ Ich verstummte und es entstand eine Pause, in der ich ungebetene Erinnerungen in eine versteckte Ecke meines Bewusstseins zurückscheuchte. Dann fasste ich sie wieder in den Blick. „Also? Was ist hier los?“
Doch ihre Antwort bestand zuerst nur aus einem schwachen Kopfschütteln. „Du wärst beinahe ein Opfer eines unheiligen Kriegs geworden.“ Sie machte eine Pause, in der sie mich mit ihrem klaren Blick fixierte. „Junge, mehr kann ich dir nicht sagen. Für dein, wie auch für mein Heil, ist es besser, dass du vorerst unwissend bleibst. Denn bevor du eingeweiht werden kannst, müssen ein paar wichtige Fragen geklärt werden. Doch leider liegt deren Antwort in der Zeit. Also gedulde dich.“ Zähneknirschend hörte ich ihr zu. Ihre Erklärungen stellten mich nicht zufrieden. Ganz im Gegenteil. Sie wollten mir absolut nicht gefallen! Trotzdem sah ich ein, dass sie mir die Gründe für diesen Kampf wohl nicht offenbaren würde. Und ein kleiner Teil in mir wollte es auch gar nicht wissen. Dennoch hinterließ meine Unwissenheit einen bitteren Nachgeschmack und ich wünschte mir, ich hätte die Augenklappe abgenommen. Vielleicht hätte ich dann etwas gesehen, dass mir die Situation hätte erklären können.
Doch bevor ich weiter darüber sinnieren konnte, schlug eine kleine Welle seitlich gegen das Boot und das sanfte Schaukeln lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Meer. Unruhig betrachtete ich die immer kleiner werdende Stadt und plötzlich hallten die vorherigen Worte der Magier mahnend durch meinen Geist. »Doch leider liegt deren Antwort in der Zeit. Also gedulde dich.«
Geschockt fuhr ich zu ihr herum. „Was hast du mit mir vor?“ Die Magierin lächelte jedoch nur und erklärte seufzend: „Ich habe doch schon gesagt, dass ich dir nichts tun werde. Ich bringe dich sogar in Sicherheit! Die Bewohner sind alle auf der Suche nach dir, oder? Und sie haben sich nicht so angehört, als wollen sie schöne Dinge mit dir anstellen.“ Wütend biss ich mir auf die Unterlippe. Ich wusste, dass sie Recht hatte. Ja, verdammt es war offensichtlich, dass es so war. Aber trotzdem bäumte sich der Widerwillen in mir auf.
Da fingen die Augen der Magierin plötzlich an zu glänzen und sie beugte sich mit einem leisen Kichern ein wenig zu mir herüber. „Sag bloß du hast eine kleine Seherin, die auf dich wartet? Jaja, Jugend ist etwas Schönes, wenn man verliebt ist, ist es einem egal, was die anderen denken, nicht wahr?“, flüsterte sie fröhlich und musterte dabei mein Gesicht mit schon fast beunruhigender Aufmerksamkeit. „Glaubst wirklich, dass ich noch hier wäre, wenn du Recht hättest?“, brummte ich und starrte dabei zum Hafen. Hilflos ballten sich meine Fäuste und ratlos öffneten sie sich wieder. Verblüfft fragte die Magierin dann: „Stimmt, nach deinem grimmigen Blick zu urteilen, wärst du wahrscheinlich ins Wasser gesprungen, sobald das Boot sich in Bewegung gesetzt hat. Aber was hält dich dann an diesem Ort? Sag bloß du hast dort normale Freunde gefunden?“
Ich antwortete nicht und eine kühle Stille breitete sich zwischen uns aus. Es war eine trügerische Ruhe. Meine Gedanken rasten, mein Gewissen klagte mich der Feigheit und Hilflosigkeit an. Niemals hätte ich erwartet, dass mich so etwas aus der Stadt reißen würde. Bis jetzt konnte ich immer irgendwie fliehen, mich in Sicherheit bringen und solange warten, bis sich die Wogen der Wut wieder beruhigt hatten. Doch jetzt war es anders. Ich war gefangen. Weder konnte ich fliehen, noch konnte ich mich verstecken. Und kämpfen? Da hätte ich auch gleich Selbstmord begehen können. Zu sehen, was mich umbringen würde, würde nichts an meinem Tod ändern. Ich war einfach machtlos.
Schließlich entschlüpfte meiner Kehle ein resignierendes Seufzen und ich sackte kraftlos zusammen. Ich suchte den sanften Blick der Magierin und antwortete: „Erinnerungen. Nichts weiter…. Nur Erinnerungen…“, »und ein Versprechen…« fügte ich in Gedanken hinzu. „Jetzt machst du mich neugierig. Sind es vielleicht Gedanken an eine frühere Liebe?“ Mein Blick wurde wieder kühler, tadelnd. „Führst du eigentlich alles auf den gleichen Grund zurück?“ „Warum denn nicht? Wenn man jung ist, glaubt man noch, dass die Gefühle Berge versetzen und Wunder geschehen lassen können. Liebe ist ein guter Grund, kleiner Mann. Aber was ist nun? Wenn es sie nicht ist, was ist es dann?“ Erneut seufzte ich. Diese Frau war wirklich zu neugierig. „Das geht dich nichts an.“, erwiderte ich kühl. Einen Moment lang starrten wir uns gegenseitig in Augen, versuchten uns zu lesen und die Gedanken des Anderen zu ergründen. Doch plötzlich zog sie einen kindlichen Schmollmund und murmelte: „Spielverderber… Und ich dachte ich hätte da einen interessanten Zeitgenossen aufgegabelt.“ „Tut mir wirklich fürchterlich Leid, dass ich mich mit dieser Situation nicht sofort anfreunden kann und dir nicht gleich meine ganze Lebensgeschichte erzähle, hochverehrte Magierin.“, gab ich bissig zurück. Ich konnte diese Frau einfach nicht einschätzen. Abgesehen davon, dass sie nicht zu dem Bild, das ich mir von Magiern gemacht habe, passte, wurde ich aus ihrem Verhalten nicht schlau. Zuerst rettet sie mich. Dann will sie mich nicht gehen lassen, will mir aber auch nicht schaden. Sie entführt mich, benutzt aber mein eigenes Wohl als Begründung. Was war ihr Ziel?
„Da anscheinend kein Weg darum herum führt, dass wir die nächste Zeit wohl zusammen verbringen werden, solltest mir wohl deinen Namen sagen. Ich habe keine Lust dich immer mit Magiern anzusprechen.“ Sie lächelte und erwiderte: „Oha du bist ja doch interessant. Nur damit du es weißt, ich bin viel älter, als ich aussehe, also mach dir erst keine Hoffnung, mein kleiner Seher.“ Mein Mundwinkel zuckte genervt und ohne darüber nachzudenken gab ich bissig zurück: „Könntest du deinen Frust darüber, noch nie einen gescheiten Geliebten gehabt zu haben, bitte nicht an mir auslassen? Ich halte nicht viel davon Opfer deiner seltsamen Fantasien zu werden.“ Doch leider erzielte ich damit nicht die Wirkung, die ich mir gewünscht hatte. Anstatt mich böse zu mustern, sich zu verteidigen, oder sonst irgendwie aus ihrem Verhaltensmuster zu fallen, fing sie an zu kichern und sah mich amüsiert an. Ich schnalzte genervt mit meiner Zunge und wandte meinen Blick wieder dem Meer zu. Doch dann verstummte das Kichern und sie sagte in einem versöhnlichen Ton: „Meine Name ist Misu, ich bin erfreut dich kennenzulernen, junger Seher.“ Überrascht sah ich sie an und rang mich ebenfalls zu einem Lächeln durch. „Na also.“, meinte ich, „Und ich bin nicht der junge Seher, sondern Rahsol.“