Eine ägyptische Gothic Novel aus dem 19. Jahrhundert
6. Die Besucherin
Die Turmuhr schlug Mitternacht, doch Johann lag noch immer wach. Die Geisterstunde hat begonnen, durchfuhr es ihn.
Auch drei Wochen nach der Rückkehr des Vaters war er noch immer zu aufgewühlt, alsdass sein Verstand einfach abtauchen wollte. Seine Gedanken kreisten um die Kiste im Keller und er verspürte den Wunsch noch einmal das Mitbringsel aus Ägypten zu betrachten.
Er schlüpfte in seine Pantoffeln und versuchte beim Durchqueren des Raums nicht auf die knarrende Diele vor dem Schrank zu treten, um seinen Bruder nicht zu wecken, der im Nachbarraum schlief. Als er den Deckel der alten Truhe anhob, quietschen die Scharniere leise und Johann hielt einen Augenblick in der Bewegung inne. Dann bückte er sich nach dem Morgenmantel, der auf einem Stoß von Abenteuerbüchern lag, denen Johann längst entwachsen war, die er aber doch nicht einfach wegwerfen wollte.
Er streifte sich den Mantel über und vermeinte im Dunkeln die farbige Blumen zu erkennen, die in den roten Font aus Seide eingewebt waren, da er sich schon so oft im hellen Licht des Tages betrachtet hatte, dass sie sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. Durch das Fenster schien der Mond und Johann suchte sein Spiegelbild im Glas zu erkennen, doch er sah nur einen grauen Schemen.        Â
Morgen will ich zeitig aufstehen, rief er sich ins Gedächtnis. Daher sollte ich endlich schlafen. Also schlüpft er wieder aus dem Morgenmantel. Er nahm sich einen Augenblick Zeit um ihn behutsam auf dem Bett zusammenzulegen und in der Truhe zu verstauen. Vielleicht hatte Peter Recht und er sollte den Morgenmantel zu seinem an die Garderobe hängen, aber irgendetwas sträubte sich in Johann dagegen dies zu tun.Â
Er schlurfte zurück zum Bett, Iegte sich auf den Rücken, überkreuzte die Arme auf der Brust blickte hoch an die Decke. So liegen die Pharaonen in ihrer Gruft, dachte er und sah vor seinem inneren Auge die Mumie im Keller.
Still war es. Nur das Ticken des Holzwurms war zu hören oder bildete er sich dies nur ein? Erinnerungen erschienen in seinem Geist und verblassten wieder. Durch das Fenster schien der Mond und tauchte den Raum in silbernes Licht, das viel zu hell war um zu schlafen.
Ungeduldig drehte Johann sich mit dem Gesicht gegen die Wand und dachte dabei an die Vorlesung über mittelhochdeutsche Literatur, aber deren ermüdende Wirkung wollte sich nicht einstellen. Enerviert zwang er sich dazu, tief durchzuatmen, denn er wollte endlich schlafen. Er schloss die Lider und ein Nachbild aus grauen Flecken bildete sich vor seinen Augen. Langsam lösten sich Johanns Gedanken auf, und er tauchte in eine angenehme, warme Dunkelheit ein. Die Finsternis nahm Kontur an und verdichtete sich zur Silhouette eines fliegenden Vogels.
Bevor das Dunkel ihn umhüllte, durchfuhr ihn eine dunkle Vorahnung. Er vermeinte geradezu körperlich zu verspüren, dass er nicht allein im Raum war. Er riss er die Augen wieder auf und richtete sich halb auf in seinem Bett. Schwer atmend versuchte er in der Dunkelheit Einzelheiten zu erkennen, aber seine Sinne stellten sich nur ganz langsam auf die Finsternis ein.
Bewegte sich da etwas an der Zimmertür? Johann sah einen grauen Fleck vor dem braun gestrichenen Holz und er spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Was mochte das sein?, fragte er sich beklommen. Vielleicht gar nichts. Vielleicht spielten ihm seine überreizten Sinne einen Streich? Johann rieb sich die Augen, riss sie wieder auf und starrte in Richtung Tür, aber der Fleck noch immer  da. Langsam löste er sich von der Tür, doch Im trüben Licht war er nur umrisshaft zu erkennen.
Eine Welle der Panik stieg in Johann auf. Eisige Kälte breitete sich auf seiner Haut aus. Am liebsten hätte er sich im Bett verkrochen und sich die Decke über den Kopf gezogen, aber das würde den Spuk nicht beenden. Johann starrte mit angehaltenem Atem in das Dunkel. Kalter Schweiß lief ihm über die Stirn, rann in seine Augen, aber er schaffte es nicht, eine Hand zu heben um sich über das Gesicht zu wischen. Verzweifelt überlegte er, wie er sich in Sicherheit bringen könnte. Seine Gedanken überschlugen sich, doch er fand keinen Ausweg. Â
Das Phantom erreichte die Mitte des Zimmers. Nun konnte es Johann deutlich erkennen. Es ähnelte in Größe und Gestalt einem Menschen, besaß aber seltsam fließende Konturen. Wie in Nebel gehüllt sah er eine schlanke Person, die in ein graues Gewand trug. Lange, glänzend schwarze Locken hingen unter dem durchsichtigen Tuch wie dunkle Schlangen wirr bis auf die Schultern. Große, dunkle Augen verschönten die unscheinbaren Züge eines geisterhaft bleichen Antlitzes, das fast blutleer schien. Um die blassen Lippen lag ein Zug resignierten Grames, in ihrem Blick eine unendliche Traurigkeit.
Im plötzlichen Erkennen begriff Johann, dass er den Eindringling schon einmal gesehen hatte. Sein Gesicht glich dem des Schattens, der ihn in der Unterwelt fast berühret hätte.
Er schrie vor Schreck laut auf.
„Was um Gottes Willen suchst du hier!“, entfuhr es ihm. „Du bist doch tot!“
„Ich kann im Grab keine Ruhe finden, denn man hat mir die Mumie geraubt“, säuselte der Eindringling mit melodischer Stimme. „Ich bin auf Erden nicht zu meinem Recht gekommen. Ruhelos sind die Schatten der Mädchen, die vor ihrer Hochzeit aus dem Leben gerissen worden sind.“
Unfähig etwas zu erwidern starrte Johann das Phantom an. Es war als hielten ihn unsichtbare Hände davon ab, von dem schwankenden Bett zu fliehen. Er ahnte, dass der Schatten ihm nach dem Leben trachtete, doch etwas zog ihn geradezu magnetisch zu ihm hin.
„Dann sah ich dich vor mir!“, hauchte das Mädchen. Sie sprach immer leiser, bis es kaum mehr als ein Wispern war, doch noch immer ging von ihrer Stimme ein unwiderstehlicher Zauber aus. „Du erinnertest mich an meinen Geliebten, den ich nicht heiraten durfte!“
Als er ihre vom Kummer gezeichneten Züge sah verspürte Johann einen Anflug vom Mitleid. Dann überwog das Grauen. Sein Puls raste, sein Herz klopfte so laut, dass es ihm in den Ohren dröhnte. Kerzengerade saß er im Bett und umkrallte die verschwitzte Decke.
„Wie heißt du?“, fragte er in der verzweifelten Hoffnung, dass er - wie im Märchen Rumpelstilzchen - Macht über das Phantom gewinnen könnte, wenn er nur seinen Namen kannte.
„Wir Schatten haben keinen Namen!“ Die Augen der Besucherin begannen im Dunkeln zu glühen. Sie glühten so rot wie die dämonischen Augen, die Johann aus der Kiste der Mumie angestarrt hatten. „Warum hat man die Ruhe meines Grabes gestört? Nur in meiner Mumie kann ich wohnen.“
Panisch suchte Johann nach einer Idee, wie er den Eindringling ablenken könnte, aber wieder versagte seine Phantasie aufs Kläglichste. Das Wesen flog ganz langsam auf das Bett zu. Johann öffnete den Mund um zu schreien, doch kein Ton löste sich aus seiner trockenen Kehle.
„Heute ist unsere Hochzeitsnacht“, flüsterte die melodische Stimme.
Ganz langsam schwebte sie mit auf ihn zu. Schon war sie so nah, dass Johann ihren Atem spüren konnte. Eine eiskalte Hand berührte seine Schulter und Johann zuckte zurück. Starr vor Entsetzen blickte er in das Gesicht seiner nächtlichen Besucherin. Ihre Wangen waren so weiß und durchsichtig wie kalter pentelischer Marmor. Hell waren auch die leicht geöffnete Lippen. Kalter Atem entwich ihrem Mund, der nach Moder roch. Dann schloss sie die Augen.
Sie will mich küssen, durchfuhr es Johann. Ein verzweifelter Lebenswillen stieg in ihm auf. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, zwang er sich, seine Gedanken zu ordnen. Der Morgenmantel!, durchfuhr es ihn.
„Liebste, bist du nicht neugierig auf mein Hochzeitsgeschenk?“, fragte er mit schwankender Stimme.
Über die verhärmten Züge des Mädchens huschte ein verklärtes Lächeln.
„Du hast ein Geschenk für mich!“ Ihre Augen wanderten von Johanns Gesicht zu seinen Händen, die sich noch immer an der Decke festkrallten. „Könntest du doch ermessen, wie sehr mich dies erfreut!“
Johann betete im Geist zu allen Heiligen, dass sie ihm beistehen mögen und dieses schreckliche Wesen sich ablenken ließ, damit er um Hilfe rufen konnte.
„Wo ist dein Geschenk?“
Noch immer war Johann wider seinen Willen fasziniert von dieser Stimme.
„Es ist in der Truhe neben der Tür“, stotterte er und war dankbar, dass sich das Möbel in der anderen Ecke des Zimmers befand. „Es ist ein Morgenmantel aus reiner Seide.“
Die Besucherin durchmaß den Raum mit erschreckender Geschwindigkeit, die ganz im Gegensatz zu der vorherigen Langsamkeit ihrer Bewegungen stand. Sie erreichte die Truhe und öffnete ihren Deckel.
„Hilfe!“, rief Johann im gleichen Augenblick so laut er konnte. „Sie will mich umbringen. Rettet mich!“
Irgendetwas verursachte einen heftigen Schlag. Die Holzdielen des Bodens erbebten und plötzlich war es hell im Raum.
Das Phantom schrie vor Schmerz auf, es war ein gequälter Aufschrei, wie Johann ihn noch niemals gehört hatte.
Geblendet vom grellen Licht und halb wahnsinnig vor Angst, bedeckte er die Augen mit beiden Händen. Er spürte eine leichte Berührung an der Schulter und zuckte zurück, aber die Hand, die ihn packte war nicht kalt, sondern warm und lebendig. Â
„Was hast du?“, hörte er die Stimme seines Bruders fragen.
Johann blinzelte und sah in Peters Gesicht, der im Nachthemd und mit einer Öllampe in der Hand neben seinem Bett stand. Argwöhnisch ließ seinen Blick im Raum schweifen, aber das Phantom war verschwunden. Die eisige Kälte in seinem Inneren ließ nach, aber noch immer fühlt er sich elend.
„Was ist los?“, fragte Peter nochmals.
Er rückte einen Schemel heran und setzte sich darauf.
Johann schüttelte den Kopf und legte ihn dann auf die Knie, denn er wollte niemanden sehen. Ein Zittern ging durch seinen ganzen Körper. Schwer atmend war er einige Minuten lang unfähig zu sprechen.
Die Hand seines Bruders berührte ihn am Arm und fuhr sofort wieder zurück.
„Du bist ja kalt wie Eis!“
Johann schaute hoch und er sah Peter, der die Hand besänftigend mit der Innenfläche nach oben hob.
„Es ist alles wieder gut“, schärfte er seinem Bruder ein.
Nichts ist gut“, entfuhr es Johann. „Der Geist einer Ägypterin wollte mich umbringen. Sie hat behauptet, dass sie ohne ihre Mumie keine Ruhe findet.“
„Das war bestimmt nur wieder einer deiner üblichen Alpträume“, sagte sein Bruder mit sorgenvollem Blick, als ob er befürchtete, Johann könnte den Verstand verloren haben.
„Beruhige dich doch! Wir stiften unsere Mumie einem Museum und denken nicht mehr an sie.“
„Aber es war alles so real!“, insistierte Johann, der nicht daran glaubte, dass es nur ein Traum gewesen war. Â
Wieder schaute er sich um, denn er frage sich, ob sich das Mädchen irgendwo im Raum versteckt haben konnte.
„Vielleicht hilft es dir, wenn du darüber redest?“, fragte Peter und schaute ihn eindringlich an. „Du musst dich vor mir nicht schämen. Schließlich bin ich dein Bruder.“
„Ich möchte aber nicht darüber reden“, erwiderte Johann heftiger als er beabsichtigt hatte.
“Was genau hast du gesehen?“, fragte Peter nochmals, diesmal in einem geradezu inquisitorischen Tonfall.
Johann kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass er nicht locker lassen würde, also gab er nach.
„Es fing damit an, dass ich neulich geträumt habe, ich sei in die griechische Unterwelt abgestiegen.“
Peter schaute auf den Nachttisch, auf dem die Odyssee lag und er schüttelte missbilligend den Kopf.
„Im Hades wollte mich ein Schatten berühren …“ Johann suchte Blickkontakt mit seinem Bruder, aber dieser sagte nichts. „Vorhin habe ich diesen Schatten wiedergesehen, ein junges Mädchen, es ist einfach durch den Raum geschwebt …  Sie hat sich darüber beklagt, dass man seine Mumie gestohlen habe …  Das Mädchen wollte mein Blut trinken, es wollte mich zu sich in den Hades hinabziehen …“
„Es war nur ein Traum. Er war schrecklich, aber nun ist alles wieder gut“, entgegnete Peter ganz leise und wieder hatte Johann den Eindruck, dass sein Bruder mit ihm wie mit einem Wahnsinnigen sprach. „Ich hätte dieses … Gespenst anderenfalls gesehen als ich die Tür geöffnet habe!“
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Johann dachte über die Worte seines Bruders nach, aber alles in ihm sträubte sich gegen diese banale Erklärung.
„Nein, das stimmt nicht!“, protestierte er schließlich. „Ich habe nicht geträumt, ich war hellwach!“ Â
„Es war nur ein Alptraum“, wiederholte Peter und schaute Johann ernst an.
„Wir gehen jetzt in die Küche und trinken zusammen ein Glas des Marillenlikörs, den Tante Henriette vorbeigeschickt hat“, schlug er vor. „Dann sieht die Welt schon gleich ganz anders aus.“ Â
„Von mir aus“, antwortete Johann ohne große Begeisterung und, obwohl er noch immer etwas weiche Knie hatte, rappelte er sich auf und stellte die Füße auf den Boden. „Wenn ich das tatsächlich geträumt habe, dann nur, weil du mir auf dem Weg zum Arzt von diesen herumfliegenden Seelen …“
Ganz plötzlich kam ihn ein beunruhigender Gedanke: Es gab ein probates Mittel um herauszufinden, ob der Schatten ihn tatsächlich besucht hatte oder ob dies nur ein Traum war, wie sein Bruder behauptete.
„Gleich wirst Du sehen, dass ich mich nicht irre!“ verkündete Johann mit triumphaler Stimme, obwohl er eigentlich das Gegenteil hoffte, „Ich habe die Besucherin abgelenkt, indem ich behauptet habe, mein orientalischer Morgenmantel sei ein Hochzeitsgeschenk für sie.“
„Du hast einer toten Ägypterin den prächtigen Mantel geschenkt, den Vater dir mitgebracht hat?“, fragte Peter völlig entgeistert. „Du gibst das einfach so das Einzige weg, das dir noch von ihm geblieben ist?“
Johann fragte sich, ob sein Bruder wirklich begriff, in welcher tödlichen Gefahr er sich befunden hatte.
„Sie hat ihn sich aus der Truhe geholt.“
Johann zeigte anklagend auf das Möbel.
„Das glaube ich nicht!“
Johann schlüpfte in seine Pantoffeln und stand. Obwohl ihn seine Beine kaum trugen durchquerte er den Raum bis zur Truhe. Sein Herz klopfte fast schmerzhaft gegen seine Rippen als er mit beiden Händen den Deckel anhob.
Als er hineinschaute, ließ der Schock ihn fast in Ohnmacht fallen. Der Mantel war verschwunden!
„In der Truhe sind ja nur alte Bücher und das da!“, entfuhr es Peter, der hinter ihm stand.
Er holte einen roten Fes mit schwarzer Bommel heraus und setzte ihn sich auf den Kopf. „Schade, dass Vater nur einen davon mitgebracht hat …. Bist du ganz sicher …“
„Ja ich bin ganz sicher!“, brüllte Johann seinen Bruder an. „Der Mantel lag auf den Büchern. Der Fes war daneben“
Peter legte den Zeigefinger auf die Lippen.
„Nicht so laut, sonst weckst du die anderen!“
„Sie hat ihn tatsächlich mitgenommen …“ stammelte Johann. „Sie hätte mich sonst getötet … Vaters Morgenmantel hat mir das Leben gerettet!“
Peter starrte seinen Bruder mit weit aufgerissenen Augen an. Erstmals hatte Johann den Eindruck, dass er ihn ernst nahm. Einige Augenblicke lang schauten beide wortlos auf die zerfledderten Schmöker in der Truhe.
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Dann brach Peter das Schweigen: „Ich glaube, jetzt brauche ich auch einen Likör.“
So leise sie konnten stiegen die Brüder auf Zehenspitzen die Treppe hinab, Peter noch immer mit dem Fes auf dem Kopf. Er betrat die Küche, öffnete eine Schranktür und suchte nach geeigneten Gläsern, aber er sah nur normale Wassergläser. Die werden genügen, sagte er sich und stellte zwei davon auf den Küchentisch.
„Was wird Mutter dazu sagen?“, fragte Johann bange, als sein Bruder eine der Flasche entkorkte, die der Apotheker vorbeigebracht hatte.
„Sie hat mir eine Flasche geschenkt, weil ich für sie einen Brief zur Post gebracht habe.“
Sorgfältig, als handle es sich um eine liturgische Handlung füllte Peter die zwei Gläser randvoll mit der klaren Flüssigkeit, die die Flasche enthielt. Johann sah ihm skeptisch zu, als befürchtete er vergiftet zu werden.
Peter ließ sich Johann gegenüber nieder, der mit bleichem Gesicht zusammengesunken auf einem Küchenstuhl saß. Seine Brust hob und senkte sich noch immer viel zu schnell.
„Trink!“ forderte er seinen Bruder auf.
Johann griff mit zitternden Fingern nach dem Glas, schnupperte an dem Likör und verzog dann das Gesicht.
„Woher hat Tante Henriette diesen seltsamen Likör?“, wollte er wissen.
„Keine Ahnung! Wahrscheinlich hat der Onkel ihn selbst destilliert, aber ist eigentlich egal.“ Peter machte eine einladende Geste. „Augen zu und runter damit!“
Noch immer zögerte der Bruder und Peter sagte sich, dass er mit gutem Beispiel vorangehen müsse. Er kippte den Inhalt des Glases hinunter und endlich tat Johann es ihm gleich. Die Flüssigkeit brannte so höllisch im Rachen, dass Peter die Tränen in die Augen schossen. Eine Welle der Übelkeit schlug über ihn zusammen. Das Blut pulsierte wie Feuer in seine Adern. Seine Kehle war rau und schmerzte und er wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Als er wieder zu Atem kam, bemerkte er, dass auch Johann gerötete Augen hatte.
„Was war das für ein Teufelszeug?“, fuhr ihn der Bruder mit bebenden Lippen an. „Sag mal, willst du mich vergiften?“
Peter griff nach der Flasche auf dem Tisch, doch dieser schwankte bedenklich. Erst im zweiten Anlauf bekam er die Likörflasche zu fassen. Auf dem Bauch des durchsichtigen Glases klebte ein handbeschriftetes Etikett.
„Ma, Ma, rillenschnaps“, las er mühsam vor und wurde vor Schreck wieder fast nüchtern. „Wieso das? Ich denke, in den Flaschen soll Likör sein?“
„Konntest du das nicht vorher überprüfen?“, beschwerte sich Johann.
Peter verstand immer noch nicht, warum in der Flasche Schnaps war. Hatte die Mutter nicht etwas von Marillenlikör gesagt? Obwohl ihm schrecklich schwindlig war, erhob er sich und wankte zur Anrichte, wo die anderen Flaschen standen. Die meisten von ihnen bestanden seltsamerweise aus getöntem Glas. Sich auf die Anrichte aufstützend, betrachtete Peter das Etikett einer der Flaschen und er las: „Marillenlikör“.
„Verdammt!“, fluchte er laut, als er realisierte, dass er schlicht die falsche Flasche erwischt hatte.Â
Frustriert ließ er sich wieder auf seinen Stuhl fallen. Noch immer brannte sein Magen und der Boden unter im bebte, als befände er sich auf einem Schiff.
„Meinst du, dass der Schatten zurück kommt?“, fragte Johann unvermittelt.
Er sah Peter mit glasigen Augen an, den Kopf auf die Hände gestützt.
„Nein, er fürchtet sich vor dem  …. Licht“, behauptete Peter, der einen Augenblick lang erwog, dass tatsächlich ein ruheloser Schatten seinen Bruder verfolgte.
Alles in Peter sträubte sich gegen diese Vorstellung, aber das Verschwinden des Morgenmantels gefiel ihm gar nicht.
„Ich meine nicht nur heute!“Â
Johann hob abwehrend die Hand und seine Lippen bebten.
„Wir bringen die Mumie nach Ägypten zurück“, hörte Peter sich selbst sagen und seine Stimme wurde immer lauter. Er hielt sich die Ohren zu, da er das dröhnende Echo im Kopf nicht ertrug. „Dann ist sie wieder … friedlich. ….Außerdem hat Doktor …. Doktor ….. Sommer dir empfohlen zu verreisen  ….   Dann können Moritz und seine, seine, seine … Kumpanen … die Mumie nicht auswickeln … “
„Das klingt ….. vernünftig. Vielleicht lässt sie mich dann wirklich in Ruhe …“ Peter fragte sich, ob ihm seine vom Alkohol benebelten Sinne einen Streich spielten. Hatte sein Bruder ihm tatsächlich zugestimmt? Er hatte mit mehr Widerstand gerechnet. Offenbar hatte der Obstbrand Johanns Lebensgeister wieder etwas geweckt, denn Peter glaubte einen Anflug von Hoffnung in den vom Alkohol geröteten Zügen seines Bruders zu bemerken „Aber wo sollen wir hin? Ägypten ist sehr  …. groß.“
„Nach Alexandria zu … Priester Menas“, erwiderte Peter, sich dabei an der Tischkante festhaltend, weil er befürchtete vom schaukelnden Stuhl zu kippen. Aber ganz plötzlich konnte er wieder einigermaßen artikulieren. „Ihn hat Vater in seinen Briefen erwähnt, jedenfalls so lange er noch geschrieben hat …“
„Du hast die Fahrt schon geplant?“, unterbrach Johann, auch er vor Schreck schlagartig ernüchtert. “Du hast dir den seltsamen Namen wohl nicht zufällig gemerkt!“
Peter nickte bedächtig und er fühlte sich, als ob sein Hirn im Schädel herumschwappte.
„Ich habe sogar schon die Pässe besorgt.“Â
„Aber, was wird Mutter dazu sagen?“, frage Johann und auch Peter sah im gleichen Augenblick ihr vorwurfsvolles Gesicht vor sich. Sie würde alles in ihrer Macht stehende tun, um die Reise der Söhne zu sabotieren. Also würde ihnen nichts anderes übrig bleiben als heimlich zu verschwinden.
„Wir sind beide großjährig! Sie kann es uns nicht verbieten!“, erklärte er mit größerem Optimismus als er empfand. „Also kommst du mit?“
Sein Gegenüber nickte.
„Von mir aus“, antwortete er matt. „So geht es jedenfalls nicht weiter.“
Einen Augenblick lang fehlten Peter die Worte. „Ich hatte schon befürchtet, dieser Traum könnte …“ Peter stockte. Der Traum könnte was? Johann den Rest gegeben haben? Endgültig gezeigt haben, dass er nicht richtig tickte?
„Er hat mir einen Ausweg gezeigt“, ergänzte Johann, „Der Schatten lässt mich nur in Frieden, wenn ich seinen Wunsch erfülle.“Â
Peter hoffte, dass Johann seine Meinung nicht revidieren möge, wenn er wieder nüchtern war.
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5. Der Marillenlikör
Vor dem Haus der Berggruens hielt eine Kutsche, auf deren Türen als Emblem ein weißer Schwan gemalt war und ein Schwarm Krähen flog vom Lärm der quietschenden Bremsen verschreckt auf. Wenige Sekunden später wurde die Haustür geöffnet und die Hausherrin selbst schritt durch den Vorgarten, um den Besuch zu empfangen.
„Du bist spät dran, August“, sagte sie zu dem korpulenten Fahrgast, der sich scherfällig durch die Tür der Kabine schob.
„Tut mir leid, aber mir ist etwas dazwischen gekommen“, brummte der so angesprochene und betupfte sich die verschwitze Stirn mit einem großen, schmuddeligen Taschentuch.
Charlotte vermutete eher, dass der Schwager nicht auf seinen Mittagsschlaf verzichten wollte. Vielleicht glaubte er auch, seinen Auftritt eindrucksvoller zu gestalten, wenn er auf sich warten ließ.
Dazu wollte aber seine Aufmachung nicht recht passen: Der schwarzer Gehrock war schon abgetragen und verblichen und der Hut war längst außer Mode. War die Apotheke weniger erträglich war als die Schwester behauptete oder war der Schwager schlicht geizig? Charlotte sagte sich, dass sie dem Apotheker gegenüber nicht voreingenommen sein durfte, nur weil die Schwester mit ihm angab. Â
„Die Mumie ist im Keller“, erklärte sie ohne weitere Umschweife, da ihr nach der enervierenden Warterei die Lust auf small talk vergangen war.
Wäre der Schwager nur eine halbe Stunde früher gekommen, so hätte sie ihm einen Cognac angeboten, aber nun war es dafür zu spät, denn die Arbeit musste erledigt sein, bevor die Söhne von der Universität zurückehrten.
„Ich habe Fritz mitgebracht, meinen Lehrling“, erklärte August, als ein schlaksiger Junge von etwa fünfzehn Jahren aus der Kutsche stieg, den Charlotte zuvor nicht bemerkt hatte. Seine viel zu weite Kleidung hatte ihm sicher die Mutter mit dem Argument verpasst, dass er in sie noch hineinwachsen würde.Â
„Guten Tag, Frau Berggruen“, grüßte er, „das hat mir die Apothekerin für Sie mitgegeben.“
Er hob einen Korb, der mit Flaschen gefüllt war auf den Bürgersteig. „einige Flaschen mit Marillenlikör.“
Charlotte fragte sich, ob der Schwager sich sein Salär mit Schwarzbrennerei aufbesserte, aber vielleicht war dies auch bei einem Apotheker völlig legal. Sie wollte den Korb anheben, doch sie bekam ihn nicht von der Stelle, so schwer war er.
„Das mache ich schon!“ Wie selbstverständlich hatte der magere Lehrling sich des Korbes angenommen, während der korpulente Apotheker zum Haus voranschritt. Charlotte warf noch einen prüfenden Blick die Straße hinunter und eilte hinterher.
„Stell bitte die Flaschen auf die Anrichte in der Küche“, erklärte sie und dirigierte den Jungen durch den Flur.
Als sie die Tür aufriss, fuhren zwei Frauen vor Schreck zusammen. Es waren Elise und die neue Gouvernante, die Charlotte für Sophie engagiert hatte. Sie saßen am Tisch, tranken Kaffee und schwatzten.
„Bist du schon mit dem Plätten fertig?“, wollte Charlotte wissen, die sich fragte, was der Schwager von einem Haushalt denken sollte, in dem die Dienstboten am hellerlichten Tag in der Küche faulenzten.Â
Mit einer genuschelten Entschuldigung huschte Elise durch die Tür, während Miss MacIntosh vorgab, kein Deutsch zu verstehen. Dabei hatte sie sich doch eben noch glänzend mit dem Hausmädchen verstanden.
Ohne die Schottin eines Kommentars zu würdigen verließ Charlotte die Küche, gefolgt von Fritz und dem Schwager. Sie holte eine Öllampe, zündete sie an und schloss die Kellertür auf, die zu öffnen sie einige Mühe kostete.
„Vorsichtig, die Decke ist sehr niedrig“, warnte sie die beiden anderen, nachdem es ihr endlich gelungen war.
Dann stieg sie langsam die Treppe hinab, wobei sie sich bemühte, den Saum ihres Kleides nicht über die schmutzigen Stufen schleifen zu lassen. Sonnenstrahlen fielen von der Kellertür herab und durchdrangen die staubige Luft. Es roch nach Vermodertem und kaltem Rauch, aber die Luft fühlte sich angenehm kühl an auf Charlottes verschwitzter Stirn.Â
Unten angelangt schaute sie sich - mit der Lampe in alle vier Richtungen leuchtend - um, denn es war schon eine Weile her, dass sie das letzte Mal im Keller gewesen war. Damals standen hier nur ein Paar Weinkisten, während nun ein zum Stauraum unfunktionierter Gang zur Linken voller Regalbretter war, die mit Baumwolltüchern abgedeckt waren. Auch die Wand zur Rechten verschwand hinter Regalen, die mit Schachteln und Kisten beladen waren. Charlotte wollte lieber gar nicht wissen, was Peter hier alles deponierte hatte. Offenbar hatte er den Keller in eine ägyptische Gruft verwandelt. Charlotte schauderte es. Dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie hier nicht länger als nötig verweilen sollte, denn die Mumie musste schleunigst aus dem Haus gebracht werden.
„Da drin ist sie!“. Charlotte deutete auf einen sperrigen Gegenstand, direkt neben dem Treppenabsatz. „Lasst die Versandkiste stehen, dann bemerken die Jungs es vielleicht nicht gleich …. und auch die bemalte Kiste, vermutlich ist sie ziemlich wertvoll, aber die Mumie könnt ihr haben.“
Die grob gezimmerte Versandkiste aus Fichtenholz war vollkommen unscheinbar, eigentlich wie jede beliebige andere Kiste. Es könnte Porzellan darin gelagert sein oder auch Äpfel. Was hatte nur Johann in der Kiste gesehen, dass es ihn halb zu Tode erschreckt hatte?
„Sehen wir mal!“, erklärte der Schwager, als er mit angespanntem Gesichtsausdruck den Deckel der Kiste anhob.
Charlotte stand hinter ihm und leuchtete hinein. Im flackernden Schein der Lampe sah sie eine menschengestaltige, buntbemalte Kiste. Die Bilder, mit denen sie verziert war, hatten sicher irgendetwas mit der Mumie zu tun.
„Mein Gott, ist das schaurig“, murmelte der Lehrling und Charlotte Berggruen wurde ganz plötzlich von einem Schwindel ergriffen.
Sie musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen, da ihr der Boden unter den Füßen schwankte. Das war sicher nur die staubige Luft im Keller, dachte sie und tadelte sich selbst dafür, dass es auch sie einen Augenblick lang gegraut hatte. Schließlich war sie eine Mutter von drei Kindern und kein unreifer Junge, der zu viele Schauerromane konsumiert hatte! Â
Die Kellertür öffnete sich mit einem lauten, knarrenden Geräusch und Charlotte fuhr vor Schreck zusammen.
„Frau Berggruen!“, rief eine leicht hysterische, weibliche Stimme durch den Schacht des Treppenhauses.
Charlotte drehte sich um und sah das Hausmädchen mit sorgenvollem Gesicht vor der obersten Stufe stehende.
„Ja Elise?“, rief Charlotte unwirsch zurück, „was um Gottes Willen ist los? Musstest du mich so erschrecken?“
 „Peter, äh … der ältere Herr Berggruen kommt gerade auf das Haus zu!“
Fast hätte Charlotte laut geflucht. An diesem Tag ging aber auch alles daneben!
„Bitte rührt euch nicht, bis ich Bescheid gebe“, instruierte sie die beiden Männer und erschrak darüber, wie schrill ihre eigene Stimme klang.Â
Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie Peter nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellte. Schließlich war sie seine Mutter. Aber es war ihr unsäglich peinlich, sich vor dem Schwager mit ihrem Sohn herumzustreiten.
„Aber, meine Liebe!“, protestierte der behäbige Apotheker, „Das halte ich aber für etwas übertrieben. Du meinst doch nicht ernsthaft, dass wir hier unten warten sollen?“
„Es muss sein“, insistierte die Hausherrin und stieg so schnell es ihr schweres, langes Kleid zuließ die Kellertreppe hinauf.
Es gelang ihr gerade noch, die Tür hinter sich zu schließen und die Laterne zu löschen, bevor Peter seinen Schlüssel im Schloss herumdrehte und die Wohnungstür öffnete.
Sie schritt ihm entgegen und versperrte ihm dabei den Weg zur oberen Etage, denn sie musste ihn schnellstmöglich dazu bewegen, das Haus wieder zu verlassen.
„Du bist schon zurück?“, fragte sie und versuchte dabei zu lächeln.
„Meine Vorlesung ist ausgefallen“, erklärte Peter seiner Mutter, die währenddessen mit größtmöglicher Beiläufigkeit einen Brief von der Ablage neben der Tür aufhob.
Peter nahm seinen Ranzen ab und warf ihn in die Ecke. Seine Mutter spürte, dass ihn etwas bekümmerte, aber momentan hatte sie keine Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen.
„Wieso steht eigentlich die Kutsche der Schwanenapotheke vor der Tür? Hat Onkel August in der Gegend Geschäfte?“, fragte Peter und seine Mutter erschrak.
Die Kutsche mit dem Emblem der Schwanen-Apotheke, die hatte sie völlig vergessen. Wieder verfluchte sie die Unpünktlichkeit des Schwagers.
„Ja, er liefert in der Nachbarschaft ein Medikament aus“, log sie mit einem etwas angestrengtem Lächeln, „und da hat meine Schwester ihn gebeten, uns etwas von ihrem Marillenlikör mitzubringen.“
Peter versuchte an seiner Mutter vorbeizugehen, aber sie fiel ihm in den Arm.
„Du kommst wie gerufen!“, erklärte sie mit viel zu viel Pathos.
Aus dem Keller drang dumpfes Gepolter und Charlotte Berggruen hoffte, dass ihr Sohn es nicht gehört hatte. Sie überreichte ihm den Brief, den sie in der Hand hielt.
„Ich habe versprochen, auf den Onkel zu warten, aber dieser Brief muss ganz dringend zur Post gebracht werden. Könntest du dies nicht für mich erledigen?“
„Selbstverständlich“, erwiderte Peter und seine Mutter drückte ihm ein paar Münzen in die Hand.
Leider hatte sie keine Ahnung, was eine Briefmarke kostete, denn normalerweise erledigte dergleichen das Hausmädchen, aber sie hoffte, dass es für einen Brief ausreichend war.
„Einen Augenblick noch“, sagte Peter und ging in Richtung Küche.
Als er die Kellertür passierte, blieb er einen Moment stehen und seiner Mutter stockte der Atem. Hatte der Lärm im Keller von vorhin den Argwohn ihres Sohns geweckt? Mit angespanntem Gesichtsausdruck lauschte Peter, aber glücklicherweise war von unten nichts zu hören.
Dann betrat er die Küche und sein Blick glitt suchend durch den Raum glitt. Seine Mutter bekam ein mulmiges Gefühl im Magen und wieder fragte sich, ob er etwas ahnte. Doch dann schnappte Peter sich einen Apfel und wandte sich endlich zum Gehen.
„Du kannst dir nachher auch zur Belohung eine Flasche Likör nehmen!“, rief seine Mutter ihm mit zuckersüßer Stimme nach und beobachtete erleichtert, wie Peter das Haus verließ. Die Tür fiel leise hinter ihm zu.
Charlotte Berggruen schlich zum Fenster und stellte sich einen Schritt hinter den Vorhang, sodass man sie von draußen nicht erkennen konnte. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie ihren Sohn, der herzhaft in den Apfel biss und dabei die Kutsche des Apothekers beäugte. Dann machte er sich endlich auf den Weg. Seine Mutter wartete, bis er um die Ecke gebogen war. Erst dann ging sie zur Kellertür uns riss sie auf.
„Was ist denn da unten los“, rief sie ins Dunkel.
„Was soll schon los sein?“, antwortet der Apotheker mit hörbarer Empörung. „Du hast uns im Finstern warten lassen und da bin ich mit dem Ellbogen gegen ein Regalbrett gestoßen.“
Mit einem leisen Seufzer stieg Charlotte wieder in den Keller hinab. Der Schwager hielt seinen Hut in seinen fleischigen Händen und sein Lehrling war etwas blass um die Nase.
„Wogegen bist du gestoßen?“, fragte Charlotte und versuchte, nicht ungehalten zu klingen.
Der Apotheker machte eine vage Kopfbewegung nach links und rieb sich dann anklagend seine schmerzende Stelle am Ellbogen.
Die Hausherrin schaute sich um, ob die beiden irgendeinen Schaden angerichtet hatten, aber sie konnte keine Veränderung zu vorher feststellen, was aber nichts heißen mochte, bei dem Chaos, das hier unten herrschte.Â
„Jetzt beeilt euch!“, ermahnte sie die Männer. „In zehn Minuten müsst ihr wieder verschwunden sein. Dann kommt mein Sohn schon wieder zurück, denn die Post ist gerade um die Ecke!“
Der Schwager murmelte etwas von „heutiger Jungend“ und von „versäumter Erziehung“ und machte sich mit seinem Lehrling an die Arbeit.
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Während Peter auf dem Weg zur Post rein mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte fühlte er geradezu körperlich, dass zu Hause etwas nicht stimmte. Warum war die Mutter so nervös gewesen? Es war ganz unübersehbar gewesen, dass er sie bei irgendetwas gestört hatte. Einen Augenblick lang überlegte er, ob sie ein Verhältnis mit Onkel August haben könnte. Dann musste er über seine eigene Idee innerlich lachen, so absurd war sie: die elegante Mutter und der dicke Apotheker! Aber warum stand seine Kutsche dann am hellerlichten Tag vor dem Haus?Â
Noch immer vor sich hingrübelnd stieg er die Freitreppe hoch, die zum Eingang des Postgebäudes führte. Er öffnete die Tür und stellte sich am Schalter an. Peter ließ seinen Blick durch die überfüllte Schalterhalle schweifen. Seltsam, dass um die Mittagszeit hier so viel los war! Offenbar hatte heute die ganze Stadt dringende Briefe verfasst.
Wieder dachte er an Ägypten. Der ärztliche Ratschlag hatte in ihm eine Saite zum Erklingen gebracht, die nicht sofort wieder verstummen wollte. Als er dem Bruder spontan vorgeschlagen hatte, mit ihm ins Land der Pharaonen zu reisen, hatte er sich über seine eigenen Worte gewundert. Zwar fühlte er sich seit der Rückkehr seines Vaters von der Kultur des alten Ägyptens angezogen, aber diese Zuneigung war bisher rein platonischer Art gewesen.
Doch, warum sollte er eigentlich nicht nach Ägypten fahren? Je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm diese Vorstellung. Und, wenn der ängstliche Bruder zuhause bleiben wollte?
Dann musste er eben ohne Johann reisen. Schließlich hatte er selbst ihm diesen Vorschlag gemacht. Peter hatte mittlerweile alles gründlich satt: die wankelmütige Anneliese, die ihm noch vor einem Monat ewige Treue geschworen hatte, der Bruder, der nicht erwachsen werden wollte, die vorwurfsvolle Miene der Mutter, die sich zu einer eifrigen Kirchgängerin entwickelt hatte, die scheinheilige kleine Schwester und auch das sauertöpfische Gesicht von deren neuer Gouvernante aus Schottland ließ nichts Gutes erhoffen.
Als Peter dann auch noch an seine Begegnung mit Moritz dacht, war ihm endgültig die Stimmung verdorben: Nach dem Arztbesuch hatte Peter erwogen, doch noch der Mensa einen Besuch abzustatten, als er die kräftige Figur seines Freundes Moritz gesehen hatte, der mit den Armen in der Luft herumrudernd auf ihn zugekommen war, auf dem Kopf eine Studentenmütze und über der Jacke die Schärpe der Burschenschaft Germania.
„Wo warst Du?“, hatte dieser ihm schon aus der Ferne zugerufen. „Wir haben dich in der Mensa vermisst!“
„Ich habe die Pause mit meinem Bruder verbracht“, hatte er absichtlich etwas vage geantwortet.
„Mit dem, der …“
„Ich habe nur einen Bruder“, hatte Peter Moritz unterbrochen, da er es nicht leiden konnte, wenn andere schlecht über Johann sprachen.
„Ehe ich es vergesse“, hatte Moritz, in einen sachlichen Ton verfallend bemerkte. „Die Vorlesung des alten Sedlmaier fällt aus. Angeblich ist er krank. Aber ich habe da aber meine Zweifel, nur eine Woche vor den Semesterferien.“
Peter hatte sofort nach Hause gehen wollen, aber Moritz hatte erklärt, dass er unbedingt mit ihm reden wollte: „Ich habe den Kameraden von der Mumie berichtet …“ Peter hatte gehofft, dass er Moritz nicht zuviel erzählen hatte, aber mit irgendwem musste er schließlich reden. Dazu waren Freunde doch da. „Theodor hat daraufhin berichtet, dass man in England neuerdings Mumien-Partys feiert. Sie werden auch Auswickel-Partys genannt. …“
„Meine Mumie wird nicht ausgewickelt!“, hatte Peter seinen Freund angefahren und sich im gleichen Augenblick gefragt, warum er „meine“ Mumie gesagt hatte. Sie gehörte doch sozusagen der ganzen Familie. Trotzdem hatte Peter sie innerlich vereinnahmt, wie die anderen Altertümer, die sein Vater auch Ägypten mitgebracht hatte.Â
„Sei doch kein Spielverderber!“, hatte Moritz ihn mit einen geradezu nachsichtigem Lächeln getadelt. „So eine Mumien-Party ist bestimmt sehr aufregend. Du weißt doch selbst, dass oft wertvolle Beigaben, wie Schmuckstücke und Skarabäen in die Leinentücher eingewickelt sind. Theodor sagt, dass sich die Teilnehmer Schauergeschichten erzählen um die Spannung zu erhöhen.“
„Per Express oder Normal?“, fragte eine barsche Stimme und unterbrach damit Peters  Erinnerungen.
Der Brief wurde ihm förmlich aus der Hand gerissen. Peter schrak zusammen, sein Kopf fuhr hoch und er sah in das strenge Gesicht eines älteren Postbeamten.
„Express“, stotterte er, denn schließlich hatte die Mutter gesagt, dass der Brief dringend sei. Zur Bestätigung dieser Theorie warf er einen Blick auf die Adresse, aber er konnte sie nicht entziffern. Dazu hätte er unterwegs hinreichend Gelegenheit gehabt!
Der Postbeamte nannte ihm den Preis der Marke, Peter wollte bezahlen, aber die Münzen, die die Mutter ihm gegeben hatte reichten nicht aus. Mit gerunzelter Stirn musterte ihn der Postbeamte, aber Peter förderte schließlich aus seiner Hosentasche den fehlenden Kreuzer heraus.
Dann verließ er das Postgebäude und eilte auf schnellsten Weg zurück, denn mittlerweile fühlte er sich schon ganz schwach vor Hunger. Der Apfel war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen und auf die alten Stullen war ihm der Appetit vergangen, da sie ihn an den unerfreulichen Arztbesuch erinnerten.
Als Peter endlich das elterliche Haus erreichte, war zu seiner Enttäuschung die Kutsche des Onkels verschwunden. Nun würde er wohl niemals erfahren, was sich zu Hause in seiner Abwesenheit ereignet hatte.
Ohne zu klingeln schloss er die Tür auf und Elise verschwand bei seinem Anblick kichernd in der Küche.
„Ich habe einen schrecklichen Hunger!“, rief er der Mutter zu, die im gleichen Augenblick aus dem Salon geschossen kam.
Sie sah auf die Standuhr, die anzeigte, dass es bereits halb drei war.
„Ach, du Armer hast ja noch immer nichts gegessen“, sagte sie dann und tätschelte ihrem Sohn die Wange. „Elise wird dir etwas warm machen!“Â
Sie warf dem Hausmädchen, das neugierig aus der halbgeöffneten Küchentür herausschaute einen aufmunternden Blick zu.
„Möchten Sie Pichelsteiner Eintopf oder Roulade mit Rotkraut?“
„Roulade!“, antwortete Peter, ohne nachzudenken.
Seine Mutter musterte ihn und die Falten, die sich auf ihrer Stirn zu bilden begannen wurden tiefer. So sah sie Peter immer an, wenn er irgendetwas ausgefressen hatte, aber diesmal fühlte er sich keinerlei Schuld bewusst. Er fand, dass die Mutter, trotz ihrer angespannten Haltung, für ihr Alter noch recht attraktiv war. Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihnen den nächsten Stiefvater präsentieren würde. Peter schauderte es bei dem Gedanken, dass auch die Sache mit Wilhelm noch nicht ausgestanden war. Er würde es sich bestimmt nicht nehmen lassen, nach Ablauf des Trauerjahrs aus Königsberg zurückzukehren.
„Warum hast du eigentlich Moritz nicht zum Essen mitgebracht?“, fragte die Mutter unvermittelt. Das erste wirkliche Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Du weiß, er ist in unserem Haus immer willkommen!“
Verbittert presste Peter die Lippen aufeinander
„Seit er in diese komische Burschenschaft eingetreten ist, hat er sich verändert.“
Aus der Küche drang das Klappern von Töpfen und die Stimme des Hausmädchens, das bei der Arbeit vor sich hinsummte.
„Ja so ist das im Leben“, räsonierte die Mutter, „man verliert alte Freunde und gewinnt neue hinzu.“
Warum musste Erwachsene immer derartige Gemeinplätze von sich geben, wenn sie nicht wussten, was sie sagen sollten?
Ägypten!, murmelte Peter innerlich vor sich hin, bevor er sich auf dem Weg in die Küche machte.
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4. Der Spaziergang
Johann verließ als letzter die Aula, da er sich erst einem Ruck geben musste um sich von seinem Klappstuhl zu erheben, so erschöpft war er. Seine Glieder schmerzten, die Augen brannten und schon nach wenigen Schritten wurde ihm schwindlig.
Im Korridor blieb er einen Augenblick stehen, da ihn die Sonne blendete, die ihm durch das Fenster direkt in die Augen schien. Am Wochenende war endlich der Sommer eingezogen, aber Johann war dies von ganzem Herzen gleichgültig.
Im Gegenteil, die ausgelassene Stimmung der Kommilitonen, ja selbst die singenden Vögel auf den Bäumen provozierte ihn geradezu.
Er bedauerte, dass sich das Semester seinem Ende näherte, denn er war momentan für jede Ablenkung dankbar, selbst wenn es nur die in jeder Beziehung erschöpfende Vorlesung über mittelhochdeutsche Literatur war.
„Da bist du ja endlich!“
Es war Peter, der gesprochen hatte und Johann schaute sich erstaunt nach seinem Bruder um, da dieser gewöhnlich die Pausen mit seinem Freund Moritz verbrachte. Er fand Peter neben der Eingangstür der Aula, mit dem Rücken an der Wand lehnend, den Ranzen lässig über die Schulter geworfen.
„Du siehst ja schrecklich aus!“, entfuhr es ihm, als er Johann aus der Nähe sah. „Hast du schon wieder einen Alptraum gehabt?“
„Nein“, beteuerte Johann und dies entsprach auch der Wahrheit. Doch war er wohl nur deshalb von schlechten Träumen verschont gewesen, weil er fast gar nicht geschlafen hatte.
Plötzlich realisierte er, dass es Montag war.
„Aber was ist mit dir?“, fragte er zurück, „bist du nicht montags an die Tafel des Professors von Gaimersdorf geladen?“
Peter schnitt ein verärgertes Gesicht.
„Keine Lust, dann müsste ich mit seiner Tochter Anneliese schöntun.“
Einen Augenblick lang fragte sich Johann, ob er sich verhört hatte.
„Aber ich hatte immer den Eindruck, dass sie dir gut gefällt?“, fragte er dann vorsichtig nach, da er es nicht wagte, die Formulierung „dass du in sie verliebt bist“ laut auszusprechen.
Ein Schatten huschte über das Gesicht seines Bruders.
„Ach, du hast es noch nicht gehört?“
„Was soll ich gehört haben?“
„Professor Friedrich von Gaimerdorf hat am Sonntag offiziell die Verlobung seiner Tochter Anneliese mit dem Rittmeister Ottmar von Semmering bekannt gegeben!“
„Was, mit dem eingebildeten Schnösel? Nur, weil er eine farbige Uniform trägt!“, entfuhr es Johann und er sah vor seinem inneren Auge den blasierten, etwas dümmlichen Mann, der unglaublich stolz auf seine adlige Herkunft war. „Das tut mir aber leid!“
Peter machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Nicht so schlimm“, behauptete er, aber sein unglücklicher Gesichtsausdruck strafte seine Worte Lügen. „Es war mir sowieso nie richtig ernst mit ihr.“
Johann ließ die Sache auf sich bewenden, da ihm Peter mit seiner mal wieder recht abweisenden Art unmissverständlich signalisierte, dass er nicht über Anneliese sprechen wollte. Aber warum traf Peter sich diesen Mittag nicht mit seinem besten Freund Moritz?Â
„Ist Moritz krank?“, fragte er vorsichtig nach. „Du isst doch sonst mit ihm in der Mensa? “
Peter warf ihm einen undefinierbaren Blick zu und wieder hatte Johann den Eindruck, etwas Falsches gesagt zu haben.
„Er hatte heute etwas anderes vor.“
Johann fragte sich noch immer, was Peter von ihm wollte, denn er spürte genau, dass es nicht die Einsamkeit war, die ihn dazu veranlasst hatte ihn vor der Aula zu erwarten.
„Ich bin ziemlich hungrig“, bemerkte er schließlich, eher um irgendetwas zu sagen.
„Dagegen habe ich ein probates Heilmittel. Ich habe nämlich einen Stapel Stullen dabei. In der Mensa gibt es sowieso ständig diese schrecklichen Krautwickel.“ Peter deutete auf seinen Ranzen. Dann blickte er aus dem Fenster. „Lass uns etwas die Beine vertreten. Endlich scheint die Sonne und wer weiß wie lange noch. Ich glaube, hinter den Bergen braut sich wieder etwas zusammen.“
„Wie du willst“, erwiderte Johann fatalistisch, obwohl ihm körperliche Anstrengungen momentan geradezu zuwider waren.
Sie stiegen die Treppe hinunter, durchschritten einen langen Korridor und als sie endlich ins Freie gelangen, hatte der Wind schwarze Wolkengebirge herbeigetrieben, aber wenigstens regnete es nicht schon wieder.
„Das wäre auch zu schön gewesen! Ich habe gehofft, dass das sonnige Wetter etwas länger vorhält“, maulte Peter und schlug den Kragen seiner Jacke hoch, um sich vor dem Wind zu schützen.
„Gib es zu: Das war eine schwachsinnige Idee von dir, ausgerechnet heute Mittag einen Spaziergang zu machen!“, protestierte er nach ein paar Schritten, zumal er sich noch immer fragte, was sein Bruder im Schilde führte.
„Ich konnte schließlich nicht ahnen, dass die Sonne so schnell wieder verschwindet“, bemerkte dieser in einem beiläufigen Tonfall.
„Dann lass und doch wieder umkehren!“
„Der Spaziergang wird dir trotzdem gut tun. Du solltest nicht tagelang nur über deinen alten Büchern brüten. Bei diesem ungesundem Lebenswandel bekäme wahrscheinlich jeder Alpträume!“
Johann ärgerte sich, dass sein Bruder das Lieblingsargument ihrer Mutter aufgriff, nur dass diese ihm immer – nicht ganz uneigennützig – Gartenarbeit vorschlug um auf andere Gedanken zu kommen.
„Willst du damit andeuten, dass ich nicht gesund bin?“, fuhr er seinen Bruder an, hatte aber im selben Augenblick den Eindruck sich im Ton vergriffen zu haben. Schließlich war es Peter, der mit ihm sprach und nicht der verhasste Doktor Eisenbach.Â
„Das habe ich nicht gesagt, aber so geht das nicht weiter mit dir!“, erwiderte Peter, der sich offenbar Mühe gab, geduldig zu klingen. „Aber wenn du weiterhin ständig Alpträume hast, bist du bald ein einziges Nervenwrack.“
Johann verkniff sich mühsam die Bemerkung, dass er nicht aus Vergnügen vom Hades träumte, denn er wusste, dass diese Argumentation zu nichts führte. Also trottete er weiterhin die Straße entlang, die von Häuser gesäumt wurde, deren Fassaden Säulen und Dreiecksgiebel vorgestellt waren.
Hier wohnen keine armen Leute, dachte er. Seltsam, dass er sich noch niemals zuvor in diese Straße verirrt hatte, obwohl sie sich so nah am Campus befand.
Johann bemerkte einen Balkon, der von Karyatiden getragen wurde, die unterhalb der Hüfte mit den Pfeilern verschmolzen. Sie erinnerten Johann an Mumien. Ihm fiel ein, dass die zahlreichen Bücher über Ägypten, die Peter in der Universitätsbibliothek ausgeliehen hatte, vermuten ließen, dass sich sein Bruder mittlerweile in der ägyptischen Mythologie auskannte.
„Sag mal, du hast doch eine Menge über Ägypten gelesen?“, begann er vorsichtig.
„Ja, warum?“
Peters Stimme klang alarmiert, auch wenn er zu verbergen suchte, dass ihn die Frage beunruhigte.
„Da gibt es etwas, was ich mich die ganze Zeit beschäftigt: Warum genau haben sich die alten Ägypter eigentlich mumifizieren lassen? Ich weiß, sie glaubten an eine Art Leben nach dem Tod, aber irgendwie ist das alles seltsam. …“
„Es ist nicht nur seltsam, sondern auch ziemlich kompliziert“, erklärte Peter und die Sorge um seinen Bruder war hörbarem Stolz gewichen.
„Es fängt schon damit an, die Ägypter glaubten drei verschiedene Seelen zu haben …“
„Das hört sich für mich nach Schizophrenie an“, entfuhr es Johann.
Peter zuckte mit dem Schultern.
„Ja, ich weiß auch nicht, ob ich alles richtig verstanden habe, vielleicht sind es auch nur verschiedene Aspekte der Seele, keine Ahnung … jedenfalls eine von ihnen - wenn ich mich richtig erinnere wird sie Ba genannt - hat die Gestalt eins Vogels. Sie braucht die Mumie … als Wohnung sozusagen.“
Das war alles noch viel befremdlicher als Johann vermutet hatte.
„Was für ein Vogel?“, fragte er erstaunt nach. „Ein Rebhuhn? Eine Eule?“,
Peter schüttelte lachend den Kopf.
„Also du stellst mir Fragen! Ich bin schließlich kein Ornithologe. Ich weiß nur, dass das Ba als Vogel mit Menschenkopf dargestellt wird…“
Johann kam dies vage bekannt vor.
„Dieses Bar ist also eine Art Sirene, wie die, deren Gesang Odysseus betört hat?“
Peter verdrehte die Augen in vorgetäuschter Verzweiflung und warf dann seinem Bruder einen Seitenblick zu.
„Lies doch mal etwas anderes!“Â Â Â Â
„Besser als deine juristischen Schwarten!“
Peter verlangsamte seine Schritte.
„Außerdem heißt der Seelenvogel Ba und nicht Bar.“
Die Brüder erreichten das Ende der Straße und Peter bog ohne zu Zögern um die Ecke und sie erreichten einen kleinen Park, wo sie auf einer Bank Platz nahmen, obwohl diese von Regen noch ziemlich feucht war.
„Ich würde gern ungestört mit dir reden“, erklärte Peter. Er sah Johann nachdenklich von der Seite an. „Was hältst du davon, wenn wir beide nach Ägypten fahren?“
Johann schnaubte leise.
„Also, wenn dies ein Scherz sein soll, so geht mir dein Sinn für Humor ab!“
„Keinesfalls“, erklärte Peter und er wirkte plötzlich ganz aufgeregt. „Bald beginnen die Semesterferien und ich für meinen Fall habe genug von diesem grässlichen Wetter.“
Johann erschrak über den Tatendurst seines Bruders.
„Aber gleich nach Ägypten, das ist doch bestimmt sehr teuer?“, wandte er ein, weil ihm spontan kein besseres Argument einfiel.
Peter schüttelte nachsichtig den Kopf.
„Wir können uns das ohne weiteres leisten.“
Noch immer war Johann alles andere als begeistert
„Aber das ist gefährlich, denk nur an Vater!“
„Jetzt übertreibst du aber! Die Kaufleute, mit denen er gereist ist sind schließlich wohlbehalten zurückgekehrt.“ Wieder musterte Peter seinen Bruder von der Seite. „Außerdem komme ich schließlich mit, um dich zu beschützten.“
Johann musste lachen. Gerade sein leichtsinniger Bruder würde diese Reise nicht ungefährlicher machen.
„Also was hältst du davon?“
„Ich werde darüber nachdenken“, erwiderte Johann mechanisch.
Aber, was sagte er da? Eigentlich musste er überhaupt nicht über diesen absurden Vorschlag nachdenken. Was sollte er in der Wüste unter wilden Beduinen?
„Willst du nicht ohne mich fahren?“, fragte er ihn daher.
„Red nicht so einen Blödsinn“, erwiderte sein Bruder unwirsch. „Du bist es, der eine Luftveränderung braucht.“
3. Die Frau des Apothekers
Als Charlotte Berggruen in das leicht hochnäsige Gesicht Henriettes blickte, die ihr die Tür öffnete fragte sie sich, ob es wirkliche eine gute Idee gewesen war, der Einladung ihrer Schwester Folge geleistet zu haben. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie wieder unter Menschen gehen sollte, aber es fiel ihr noch immer sehr schwer an ihr vorheriges Leben anzuknüpfen, als ob nichts geschehen wäre.
„Schwarz steht dir gut, meine Liebe, aber was bist du mager geworden!“, tadelte sie die Schwester, nachdem sie sich gegenseitig begrüßt und begutachtet hatten. „Du solltest wirklich mehr auf dich achten!“
Diesen prosaischen Kommentar hätte sie noch nicht einmal ihrer Schwester zugetraut, die schon immer die praktischere von ihnen beiden gewesen war. Aber das Schlimmste war, dass Charlotte tief in ihrem Inneren wusste, dass Henriette nicht ganz Unrecht hatte. Sie durfte sich nicht gehen lassen, denn nun trug sie die ganze Verantwortung für die Familie.
„Weißt du, ich hatte in letzter Zeit andere Probleme als mich um meine äußere Erscheinung zu kümmern“, stammelte sie, während sie ihre Tochter Sophie vor sich herschiebend ihrer Schwester in den Salon folgte. Aus dem Garten hörte sie das Jauchzen ihrer beiden Nichten, die sich auf der Schaukel vergnügten.
„Hände aus den Taschen!“, ermahnte sie Sophie, die sich errötend nach ihr umdrehte. Aber sie durfte sich ob solcher Manieren nicht wundern, hatte sie sich doch allzu lang die Erziehung ihrer Tochter vernachlässigt.Â
Im Salon war bereits der Tisch gedeckt und das köstliche Aroma von frisch aufgebrühtem Kaffee stieg Charlotte in die Nase. Auch der Kuchen, der auf Porzellanplatten aufgebaut war stellte alles in den Schatten, was Elise jemals fabrizierte hatte.
Hier war überhaupt alles gediegen: Die Einrichtung, der Vorhang, die Stofftapeten und der Konzertflügel in der Ecke. An dem Boden lag ein echter Orientteppich und an Wänden hingen moderne Gemälde. Sie zeigten italienische Landschaften und Porträts der Familie des Hausherrn. Â
Charlotte dirigierte ihre Tochter auf einen Stuhl mit dem Rücken zur Wand und nahm selbst an der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz. Das Dienstmädchen schenkte den beiden Schwestern Kaffee ein, verschwand dann kurz in der Küche und kam mit einer großen Tasse Kakao für Sophie zurück.
Charlotte griff nach der Tortenschaufel und platzierte auf den Teller ihrer Tochter - echtes Meißener Porzellan, wie sie nicht ohne Neid feststellte - ein Stück der Erdbeertorte, der diese bereits begehrliche Blicke zugeworfen hatte. Dann hievte sie höflichkeitshalber mit der Kuchengabel ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte auf den eigenen Teller, obwohl sie eigentlich gar keinen Appetit hatte. Sie schob sich einen Bissen in den Mund und war angenehm überrascht. Die Torte schmeckte noch besser als sie aussah, sie war süß, aber nicht zu zuckrig und so locker, dass sie auf der Zunge verging.
„Ach, du Arme, wie geht es dir denn?“, fragte die Schwester mit einer leicht übertriebenen Freundlichkeit.Â
Charlotte machte kauende Mundbewegungen, um nicht augenblicklich antworten zu müssen, denn noch immer stiegen die Tränen in ihr hoch, wenn sie von Bernhard sprach.
„Es geht so“, behauptete sie schließlich. „Irgendwie geht das Leben weiter. Außerdem habe ja noch die Kinder, um die ich mich kümmern muss.“
Ihr Blick streifte die mampfende Sophie. Dann zeigte sie auf die angeschnittene Torte, die vor ihr stand.Â
„Meinst du deine Köchin kann mir das Rezept dafür aufschreiben?“, frage sie, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
„Das meinst du doch nicht ernst? Eine erstklassische Köchin verrät niemals ihre Rezepte!“, entfuhr es der Schwester und sie warf Charlotte einen missbilligendem Blick zu.
„Ja, um deine Köchin bist du wirklich zu beneiden“, gab Charlotte zu.
„Eine solche Köchin könntest auch du heute haben, wenn du nur den richtigen Mann geheiratet hättest. Ich habe dich von Anfang an vor diesem Bernhard Berggruen gewarnt und wie du siehst, habe ich Recht behalten.“Â
Charlotte verspürte den spontanen Drang Bernhard zu verteidigen, aber dies war leichter gesagt als getan.
„Er war kein schlechter Ehemann …“ Noch immer fiel es ihr schwer von ihm in der Vergangenheitsform zu sprechen. Das hatte sie in all den langen Jahren niemals getan, noch nicht einmal, nachdem sie Wilhelms Heiratsantrag angenommen hatte. „Ich meine, bevor er nach Ägypten abgereist ist.“
Die Schwester schüttelte missbilligend den Kopf und warf ihr dann einen „was soll aus der Armen nur werden?“-Blick zu.
„Er war ein Rumtreiber“, stellte sie sachlich fest. „Mein August hingegen, der hat Verantwortungsgefühl. Seine Apotheke ist die beste und einträglichste der ganzen Stadt.“
Das war exakt, was auch Charlotte ihrem Mann immer vorgeworfen hatte, aber aus dem Munde der Schwester hörten sich diese Worte plötzlich ganz anders an.
„Du kanntest ihn eben nicht so wie ich!“, entfuhr es ihr. „Tag und Nacht quält mich nun die Frage, warum er erst so spät …“
Charlotte beendete den Satz nicht, denn sie wollte nicht vor den Augen ihrer Tochter weinen. Mittlerweile bereute sie, diese mitgenommen zu haben, aber Wilhelm war noch immer mit dem Packen seiner Habseligkeiten beschäftigt und Charlotte wollte nicht, dass die Kleine zwischen die Fronten geriet. Sophie war immer seine Lieblingsschülerin gewesen und dabei hatte Charlotte den Hauslehrer doch nur engagiert, weil sie mit Peter nicht mehr fertig geworden war. Aber dies hatte aber nichts daran geändert, dass der Junge von Tag zu Tag rebellischer geworden war. Peter hatte von Anfang an gegen Wilhelm aufgegehrt und nach ihrer Verlobung keinen Hehl daraus gemacht, dass er ihn als Stiefvater nicht akzeptieren würde.
„Ich lerne jetzt Französisch“, krähte Sophie, die bemerkt hatte, dass die Mutter sie ansah, „das kann nicht einmal der Johann.“Â
Ihre Schwester geizte nicht mit Komplimenten, aber Charlotte erkannte, dass in Anwesenheit Sophies keine ungestörte Unterhaltung mit Henriette möglich war.
„Willst du nicht mit deinen Cousinen spielen?“, forderte ihre Tochter daher auf. „Sie sind schon im Garten.“Â
„Du hast Recht, bei diesem schönen Wetter sollte Sophie ihnen Gesellschaft leisten“, stimmt die Schwester zu. „Dieser Lenz war doch arg verregnet.“
Sophie widersprach nicht, im Gegensatz zu Peter gab sie eigentlich niemals Widerrede, aber sie zog ein Gesicht, als ob sie jeden Augenblick losheulen würde. Sie warf einen steinerweichenden Blick auf den Kuchen und die Tante versprach ihr etwas davon aufzuheben.
Erst als sich die Zimmertür endlich von außen geschlossen hatte begann Charlotte zu sprechen, aber alles, was sie herausbrachte war eine banale Alltagsfeststellung.
„Ich werde mich wohl demnächst nach einem neuen Hausarzt umsehen.“
„Warum?“
„Vielleicht hätte ein anderer Arzt Bernhard retten können.“
Die Schwester schüttelte mit einer geradezu nachsichtigen Miene den Kopf.
„Wahrscheinlich hätte ihn auch der Leibarzt des Kaisers nicht kurieren können.“ Charlotte sah ihr an, dass sie Bernhards Tod für keinen besonders schweren Verlust für die Menschheit hielt. „August hat jedenfalls vollstes Vertrauen in Doktor Winter, du weißt, wieviel er von Medizin versteht.“
Ohnmächtige Wut stieg in Charlotte auf, aber sie versuchte sie zu bekämpfen, denn sie hatte noch immer nicht über das fatale Mitbringsel ihres Mannes gesprochen. Nicht nur, dass der große Kasten im Keller ihren jüngeren Sohn noch immer beunruhigte, sondern Charlotte konnte nicht an die Mumie denken, ohne dass das Bild ihres Mannes in ihr aufstieg, der fiebernd auf seinem Bett lag. Leichtsinnigerweise hatte sie Peter erlaubt, den Inhalt der anderen Kisten zu behalten, aber die Mumie musste verschwinden und zwar so schnell wie möglich.
„Ich verstehe dich wirklich nicht mehr.“ Die Schwester musterte Charlotte missbilligend. „Auf dem Friedhof habe ich meinen Augen nicht getraut, als ich dich verschleiert und wild schluchzend gesehen habe. Wolltest du nicht noch letzten Monat erneut in den Ehestand eintreten? Warum nimmst du dir dann den Tod deines treulosen Mannes so zu Herzen? Du hattest ihn doch schon vor langem verloren. Er war doch längst ein Fremder für dich und für deine armen Kinder.“ Â
Die Schwester warf Sophie durch die Terrassentür einen mitleidigen Blick zu, während sie lachend und unbeschwert mit den Cousinen im Garten spielte.
„Ach das verstehst du ja doch nicht!“, entfuhr es Charlotte.
Besaß Henriette wirklich nicht genug Phantasie um sich vorstellen zu können, dass sie Bernhard geliebt hatte? Dass sie all die Jahre gehofft hatte er könnte doch noch zurückkehren?
„Was machen eigentlich deine beiden Söhne?“, wollte die Schwester unvermittelt wissen und Charlotte war einen Augenblick lang verblüfft über den abrupten Themenwechsel.
„Soweit geht es Ihnen ganz gut, …glaube ich jedenfalls.“ Charlotte musste sich eingestehen, dass sie schon lange nicht mehr wusste, was in ihnen vorging. Außerdem ging es die Schwester nichts an, dass Johann noch immer völlig am Boden zerstört war. „Peter ist neuerdings ganz fasziniert von Ägypten. Er hat darauf bestanden den gesamten ägyptischen Plunder, den Bernhard mitgebracht hat auf sein Zimmer zu schaffen. Der Raum ist jetzt voller staubiger Regale, angehäuft mit Gefäßen, mit Götzenbildern und Figürchen von schrecklichen Tieren, nur die Mumie …“
„Und Johann?“, unterbrach die Schwester.
Charlotte seufzte laut hörbar, nicht nur weil sie sich Sorgen um Johann machte, sondern auch, weil sie die Schwester nur besucht hatte um über die Mumie zu reden und nun ließ Henriette sie nicht zu Worte kommen.
„Johann ist noch immer schrecklich blass und schmal. Und stell’ dir vor, er findet seine Vorlesungen langweilig! Wo er doch unbedingt Germanistik studieren wollte!“, ergänzte sie mit ihrerseits einen Blick auf die Terrasse werfend, denn ihre Tochter hatte ihr diese Neuigkeit kolportiert.
Sie tat dies mit ambivalenten Gefühlen, denn einerseits war sie froh, dass sie aus dem Munde ihre Tochter erfuhr, was ihre Söhne trieben, aber andererseits konnte sich des Verdachtes nicht erwähren, dass Sophie diesen im Gegenzug alles kurz und klein berichtete, was sie über sie selbst in Erfahrung gebracht hatte. Dieses neugierige Kind erinnerte sie fatal an ihre eigene Mutter, Gott hab sie selig.
„Ja, Ja, deine Söhne sind ganz nach deinem Mann geraten“, kommentierte die Schwester sarkastisch, „aber die kleine Sophie ist ein richtiges Goldstück.“
Sie beugte sich vor und winkte ihrer Nichte zu.
Charlotte sagte sich, dass sie endlich zur Sache kommen musste, denn sie war verärgert über die ständigen Sticheleien der Schwester.Â
„Leider haben wir auch noch immer diese grauenhafte Mumie im Keller“, erklärte sie daher ohne Umschweife. „Kennst du vielleicht jemanden, der sie in einem Museum schenken oder eine Wunderkammer bringen kann?“
„Wo denkst hin?“, meinte die Schwester und stopfte ein halbes Stück Kuchen auf einmal in sich hinein. „Da weiß ich etwas Besseren. Ãœberlass sie doch meinem Mann für seine Apotheke. Er macht dir bestimmt einen guten Preis. Zwar ist Mumia als Heilmittel etwas aus der Mode gekommen, aber, wenn nichts anderes hilft dann….“
„Warum hat mir das niemand gesagt?“ Charlotte Berggruen fühlte sich ganz plötzlich elend. „Vielleicht hätte dies Bernhard retten können!“
Ihre Schwester verdrehte die Augen.
„Also, Charlotte, ich muss mich doch sehr wundern. Du willst doch nicht allen Ernstes sagen, dass du an so einen Hokuspokus glaubst?“
„Wie du schon sagtest“, murmelte sie, „wenn es die einzige Hoffnung ist die noch bleibt, dann hätte ich auch ihm auch Mumia verabreicht …“
Charlotte wandte sich ab und schaute aus dem Fenster, damit ihre Schwester nicht sah, dass ihre Augen in Tränen schwammen.
„Willst du noch eine Tasse Kaffee?“, fragte diese nach einigen Augenblicken des Schweigens.
Charlotte drehte sich wieder um und sah, dass ihre Schwester bereits die Kanne in der Hand hielt. Wortlos schüttelte sie den Kopf, denn sie befürchtete, dass ihre Stimme bebte.
„Kopf hoch, das Leben geht weiter! Zuerst verkaufst du August deine Mumie und dann solltest du endlich dein Leben ordnen.“
Charlotte schreckte auf.
„Verkaufen? Ich will gar kein Geld für dieses schreckliche …. Ding.“ Wieder kämpfte sie mit den Tränen, aber diesmal gelang es ihr schneller sie zu bekämpfen. Â
„August wird sich freuen!“, verkündete die Schwester und musterte sie dann von der Seite.
„Und was wird aus dir und Wilhelm?“, fragte sie vorsichtig.
„Ehrlich, Henriette, ich weiß es nicht. Das wird nur die Zeit weisen“, gab Charlotte mit einem tief empfundenen Seufzer zu und strich sich dann gedankenverloren eine störrische Haarsträhne aus dem Gesicht. „Nachdem ich Bernhard wiedergesehen habe …“
„Also, das geht mich zwar nichts an“, meinte die Schwester etwas spitz, „aber etwas Besseres als den findest du alle Tage.“Â
Charlotte erhob sich langsam und bedächtig, fast wie eine alte Frau.
„Du hast völlig Recht, das geht dich wirklich nichts an“, erklärte sie etwas gedehnt und mit für sie selbst überraschend fester Stimme, „ich glaube, ich habe deine Zeit schon lang genug in Anspruch genommen.“Â
Die Schwester ging zu ihr, packte sie am Ärmel ihres schwarzen Kleides, das für das sommerliche Wetter viel zu warm war und zog sie ganz sanft wieder zurück auf den Stuhl.
„Aber, aber, wer wird denn gleich so empfindlich sein! Man wird doch mal seine Meinung sagen können, wenn du vor über zwanzig Jahren nur auf mich gehört hättest …“
„Nicht schon wieder!“, fuhr Charlotte gereizt die Schwester an.
Henriette blickte sie sorgenvoll an und Charlotte bemerkte, wie gut das helle Kleid mit dem Blumenmuster, das nach neuester Pariser Mode geschnitten war, mit den grauen Augen der Schwester harmonierte.Â
„Ich will doch nur dein Bestes! Auch wenn du partout keine wohlgemeinten Ratschläge annehmen willst, so musst du doch nicht so abrupt aus meinem Haus stürmen! Du hast ja noch nicht einmal dein Stück Schwarzwälder Kirschtorte gegessen.“ Das helle Lachen der drei Mädchen war aus dem Garten zu hören. „Außerdem habe ich Sophie versprochen etwas Kuchen für sie übrigzulassen.“
Mit Schrecken realisierte Charlotte, dass sie vor Kummer die schiere Existenz ihrer Tochter völlig vergessen hatte.Â
„Sag, mal sie spielt gerade so schön mit deinen Töchtern, die Jungs sind ja viel älter als sie und …“, begann sie zaghaft, denn sie wagte es kaum, ihren Wunsch zu äußern.
„Sophie kann gern ein paar Tage bei mir bleiben“, bot die Schwester an und Charlotte bekam ein schlechtes Gewissen, dass sie eben so ungehalten gewesen war.
Sie versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Die Schwester brauchte nicht zu erfahren, dass sie Sophie aus dem Haus haben wollte, damit sie nicht Zeuge ihrer Auseinandersetzungen mit Wilhelm wurde. Wenn sie ihn überhaupt heiraten würde, dann allenfalls nach Ablauf des traditionellen Trauerjahrs. Momentan fühlte sie sich nicht imstande, eine neue Bindung einzugehen. Daher hatte sie Wilhelm geraten, die ihm angebotene Stelle in Königsberg anzunehmen, aber dieser Vorschlag war auf wenig Gegenliebe gestoßen. Â
„Das ist wirklich sehr nett von dir, ich muss mich momentan um so Vieles kümmern“, erklärte sie der Schwester, aber der Versuch sie dabei anzulächeln misslang aufs Gründlichste.
„Ich will mich nur schnell von Sophie verabschieden! Dann muss ich aber wirklich endlich aufbrechen.“
Die Schwester machte eine einladende Geste in Richtung Garten.
„Und mach dir keine Gedanken wegen der Mumie. August holt sie vormittags ab, während deine Söhne auf der Universität sind. Dann können sie nicht dagegen protestieren.“
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1. Abstieg in die Unterwelt
Das Schiff passierte die unwirtlichste Küste, die Johann jemals gesehen hatte. Im nebelverhüllten Zwielicht zogen schneebedeckte Berge vorbei. Alles schien sich aufzulösen, es gab weder Land, noch Meer, noch Dunst, sondern alles zugleich und nichts davon. Vor dem Ufer schaukelte eine weiße Fläche im Halbdunkel wie ein Floss. Mit Schrecken registrierte Johann, dass es sich nur um Packeis handeln konnte, ein Phänomen, dass er als Bewohner südlicher Gefilde nur vom Hörensagen kannte. Das Meer war tatsächlich streckenweise zugefroren und so konnte das Schiff nur langsam im trüben Halbdunkel zwischen den Eisschollen navigieren, die wie Geisterschiffe auf dem kalten Wasser trieben.
„Wo bin ich?“, entfuhr Johann, der sich nicht erklären konnte, wie es ihn in diese trostlose Gegend verschlagen konnte.
„Dies ist das Reich, wo die Kimmerer in ewiger Dämmerung lebten! Wir haben endlich den Rand des Okeanos erreicht, erwiderte ein alter Seemann - wohl der Kapitän des Schiffes - der Johann vage bekannt vorkam, obwohl er sich beim besten Willen nicht an seinen Namen erinnern konnte.
Johann traute seinen Ohren nicht: War dies tatsächlich der Okeanos, das Weltmeer aus der Odyssee? Dann lag vor ihm der Hain der Persephone, aber Johann konnte keine Einzelheitern erkennen, denn ein feuchter Nebel verhüllte das Ufer.
Durch das Schiff ging ganz plötzlich ein heftiger Ruck. Johann verlor das Gleichgewicht, stolperte, fiel auf seine Knie und fluchte beim Aufstehen leise vor sich hin. Die unsanfte Landung ließ darauf schließen, dass der Steuermann das Festland zu spät wahrgenommen hatte.
Seeleute hievten ein altertümliches Ruderboot ins Wasser und ausgerechnet Johanns älterer Bruder Peter kletterte als erster hinein. In der Hand hielt er zwei brennende Fackeln. Er nahm auf der Ruderbank Platz, schaute dann zum Schiff hoch und seine Augen suchten die seines Bruders. Als er sie gefunden hatte, machte er eine einladende Geste in Richtung des Bootes.
„Worauf wartest du noch?“, hörte Johann ihn rufen.
Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, gehorchte Johann nach kurzem Zögern, denn er fürchtete sich, ohne Peter an Bord dieses seltsamen Schiffes zurückzubleiben.
„Das wurde aber auch Zeit!“, begrüßte ihn sein Bruder und drückte ihm eine Fackel in die Hand.
Es folgten der Kapitän und zwei Seeleute, die widerstrebenden Hammel hinter sich herschleiften. Â
Als sie ebenfalls an Bord des kleinen Bootes geklettert waren begannen die Seeleute zu rudern. Die Hammel blöken anklagend in das Halbdunkel. Opfertiere, durchfuhr es Johann und ein namenloses Grauen über kam ihn. Wie konnte sein Bruder im fortschrittlichen 19. Jahrhundert auf die Idee kommen, derart barbarische Praktiken wiederbeleben zu wollen?
Ãœber ihm wölbte sich der schwarze Himmel dieser trostlosen Landschaft, in die nie das Licht der Sonne eindrang. Nur mit Mühe konnte er die Blätter der Pappeln erkennen, die am Ufer standen. Sie waren dunkel auf einer Seite, hell auf der anderen. Dies symbolisierte die Grenze zwischen den beiden Welten, der Welt der Lebenden und jener der der Toten. Â
Das Boot lief auf Sand und die Männer stiegen aus. Eine Brise wehte Johann die Kapuze vom Kopf und er fluchte wieder, diesmal deutlich vernehmbar. Er zog sich seinen Mantel fester um die Schultern, der viel zu dünn für dieses Wetter war. Seine Ohren brannten, die Nase triefte und die Hände waren schon ganz klamm vor Kälte.
„Wir müssen einen Graben um diesen Altar ausheben“, verkündete Peter und deutete dabei auf einen großen Stein, der am Ufer herumlag.Â
Johann bearbeitete den halbgefrorenen Boden mit der Schaufel und stellte fest, dass diese körperliche Anstrengung wenigstens den Vorteil hatte, dass ihm gehörig warum wurde und die Kälte nicht mehr ganz so unerträglich war.
Als der Graben tief genug war, goss Peter Honig, Wasser, Milch und Wein als Trankopfer für die Unterweltsgötter hinein. Ein langes Messer blitzte in seiner Hand und er schnitt mit einer schnellen Bewegung einem der Hammel die Kehle durch. Das Blut wie eine Fontäne spritzte heraus, ergoss sich über den Stein und füllte den Graben. Johann wandte sich angewidert ab. Was war nur in seinen Bruder gefahren, der normalerweise keiner Fliege etwas zuleide tun konnte?Â
„Komm herbei, Geist des Teiresias!“ rief Peter mit weithin tönender Stimme. „Nimm unsere Gabe an! Wir haben Blut für dich, Blut, die Nahrung der Toten!“
Peter beschwor den Geist des Teiresias? Johann erinnerte sich ganz langsam: Er kannte diesen Namen aus der Odyssee! Es war der Schatten des Sehers Teiresias, der Odysseus den Rückweg nach Ithaka beschrieben hatte.
Vorsichtig hob Johann seine Augen, obwohl er nicht sicher war, ob er wirklich sehen wollte, was geschehen war, während er sich abgewandt hatte. Seine Befürchtungen bestätigten sich, sein Bruder hatte mittlerweile auch den zweiten Widder getötet. Noch mehr Blut strömte in den Graben. Johann bekämpfte nur mit großer Mühe einen Brechreiz.
Schreckliches Stöhnen durchschnitt ganz plötzlich die finster Stille. Dies waren wahrscheinlich die Schatten, die das Blut rochen. Johann lief ein Schauder über den Rücken.
Peter hingegen ließ sich nicht beirren. Mit der Routine eines Metzgers häutete er die geopferten Tiere, schnitt Fleisch und Fett von ihren Schenkeln und schichtete die Opfergaben auf dem Altar auf. Dann entfachte er ein Feuer, ohne dass Johann nachvollziehen konnte wie er dies bewerkstelligte. Bald brutzelte das Fett in den Flammen und es roch nach verbranntem Fleisch. Die Flammen erloschen und Peter betete laut zu Hades und Persephone.
„Herr der Unterwelt, Herrin des Schweigens, führt den Schatten des Teiresias zu uns!“
Inzwischen hatte der Geruch des warmen Blutes Scharen von Geistern angelockt. Sie erschienen als vage Schemen aus dem Nebel.
„Wir müssen sie mit dem Schwert davon abhalten zu trinken!“, rief Peter ihm zu. „Nur Teiresias darf sich uns nähern!“
Johann mühte sich damit ab, sein schweres Schwert zu bewegen, aber es wollte ihm nicht recht gelingen, denn es drohte ihm aus seinen verschwitzten Händen zu rutschen.
„Ich bin kein Soldat“, entfuhr es ihm, „ich kann mit dem Ding nicht umgehen. Woher hast du nur diese uralte Waffe und was soll das alles?“
„Du musst nur etwas damit herumfuchteln, um die Schatten zu vertreiben!“ erwiderte Peter, ohne ihn anzusehen. „Hab keine Angst! Diese Schatten sind ein menschengestaltiges Nichts. Sie besitzen keinen Körper und können uns daher nicht schaden.“
Johann schlug mit dem Schwert verzweifelt um sich. In der gestaltlosen Masse der Schemen tauchten von Zeit zu Zeit gespenstische Gesichter auf. Es waren die traurigen Gesichter junger Menschen, die zu früh aus dem Leben gerissen worden waren, Mütter mit Säugling im Arm, unverheiratete Mädchen, die sich noch nicht mit ihrer körperlosen Existenz abgefunden hatten, Kinder mit geisterhaftem Spielzeug in den Händen. Der Raum war erfüllt vom Klang ihrer Klagen.
Johann starrte auf den immer schneller werdenden Reigen. Obwohl die Schemen nah an ihm vorbeiflogen, gab es keinen Wind.
Zwischen den Scharen tat sich eine Lücke auf. Die Öffnung drehte sich auf ihn zu und eine grünliche Hand streckte sich nach ihm aus. Die Schatten wollten ihn in den Geistertanz einbeziehen. Johann wich zurück und drohte mit dem Schwert. Die Lücke schloss sich wieder und erneut wirbelten die Phantome so schnell um Johann, dass es ihm schwindlig wurde.
Ein Geist löste sich aus der wilden Jagd und flog auf Johann zu. Es war der Schatten eines Mädchens. Ihre durchsichtige Hand mit den goldenen Armreifen am schmalen Handgelenk kam Johann so nah, dass die Finger fast seinen Arm berührten. Johann wurde vom blanken Entsetzten ergriffen. Sein Magen verkrampfte sich, seine Hände wurden kalt und er wäre am liebsten weggelaufen, egal wohin. Trotz der Kälte brach ihm der Schweiß aus. Der Schreck lähmte ihn derart, dass er nicht einmal imstande war, auszuweichen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er aufgehört hatte, die Schatten mit der Waffe zu vertreiben.
Johann raffte sich auf, schüttelte, die Lähmung von sich und drohte dem Schatten des Mädchens mit dem Schwert. Dabei umklammerte er den Knauf so fest, dass seine Fingerspitzen taub wurden.
„Du kannst mich nicht umbringen“, rief der Schatten mit hohler Stimme, „denn ich bin bereits tot.“
Glücklicherweise nahm der Spuk im gleichen Augenblick ein abruptes Ende. Als ob sie einen, für die Lebenden unhörbaren Befehl erhalten hätten, zogen sich die Phantome ganz plötzlich zurück.
Die Szenerie änderte sich. Aus der Ferne drang das Klirren von Metall auf Metall, als ob dort eine Schlacht tobte. Vage Gestalten eilten herbei, bärtige Männer mit Äxten, Schwertern und Lanzen. Ihnen ritt ein hochrangiger Krieger voran, seiner Rüstung nach zu schließen ein Troianer. Ihm folgten, in nicht endenwollender Reihe die gerüsteten Schatten von Kriegern, darunter eine Schar von Amazonen, angeführt von ihrer Königin.
„Wir Schatten dulden die Lebenden nicht!“, flüsterte und wisperte die graue Schar. Das Echo des schaurigen Chors verhallte nur langsam.
Johann wurde ganz plötzlich schwindlig. Er fühlte sich, als ob er von einem reißenden Strom erfasst würde. Die Schatten wurden immer blasser und Johann spürte, wie ein Ruck durch seinen Körper ging.
Â
Er öffnete die Augen und schaute sich erstaunt um. Einen Augenblick lang konnte er nicht fassen, was er sah, beziehungsweise, was er nicht sah: Die griechische Unterwelt und das altmodische Schiff waren verschwunden. Er lag schwer atmend im zuhause auf seinem Bett. Die Kirchturmuhr schlug und Johann spürte das weiche Kissen unter seinem Kopf. Das ganze war nur ein Alptraum gewesen, realisierte er.
Im Licht des Vollmonds, der durch das Fenster seines Zimmers schien sah er die Vossche Ãœbersetzung der Odyssee auf seinem Nachttisch liegen. Ein Lesezeichen markierte den 11. Gesang, der vom Abstieg des Irrfahrers in die Unterwelt handelte.
Gütiger Gott, wie konnte dieser klassische Stoff bewirken, dass er vom Hades geträumt hatte? Vielleicht träumte er das nächste Mal von der schönen Nymphe Kalypso, dachte Johann halb im Scherz, während er sich zur Wand drehte, denn der Mond schien allzu hell ins Zimmer herein.
Sein Herz pochte, sein Puls raste und er zitterte noch immer am ganzen Leib. Also gab Johann nach einer Weile den Versuch auf, wieder einzuschlafen. Völlig erschöpft und zugleich hellwach starrte er eine Weile die Wand an, deren helle Tapete in der Dunkelheit grau war, aber die Erinnerung an den gerade durchlittenen Alptraum ließ sich einfach nicht einfach abschütteln.
Johann zündete die Kerze auf seinem Nachttisch an. Dann las er noch ein Kapitel in der Odyssee, denn schließlich wurde deren Kenntnis in einem der Seminare vorausgesetzt, die er im folgenden Semester zu belegen gedachte.
2. Die Mumie
Auf den mit Kies bestreuten Wegen und des Innenhofes der Universität hatten sich flache Pfützen gebildet. Studenten hielten sich am Rand der Grünfläche, anstatt sie wie sonst zu überqueren, denn keiner von ihnen wollte mit schmutzigen Schuhen in der Alma Mater erwischt werden. Seit Tagen regnete es und nur ab und zu klärte sich der Himmel für kurze Zeit auf, aber bevor die Pfützen getrocknet waren, trieb der Westwind schon wieder neue Regenwolken vor sich her. Zwar mochte dies den Nebeneffekt haben, dass sich die - von Tausenden von Füßen niedergetrampelten Grasnarben - wieder etwas erholen konnten, aber Peter hätte vorgezogen, trockenen Fußes in die Mensa zu gelangen.
An der Scheibe des Fensters, auf dessen Bank er sich aufstützte rannen unablässig schwere Tropfen herab, ein sich ständig veränderndes Streifenmuster hinterlassend. Hoffentlich gab es wenigstens etwas Gutes in der Mensa, dachte er, als sein Blick die Universitätskantine streifte, aber er hatte wenig Hoffnung, dass sein Wunsch in Erfüllung gehen könnte. Dies verstieß gegen alle Regeln der Wahrscheinlichkeit.
Irgendwie spiegelte die Witterung seine eigene Gemütsverfassung wieder, die sich auch auf einem Tiefpunkt befand. Dabei hatte er sich so auf das Studium der Jurisprudenz gefreut, nicht zuletzt, weil es ihm einen guten Vorwand bot Anneliese von Gaimersdorf regelmäßig zu sehen, die Tochter einer seiner Professoren, die er letztes Jahr auf dem Kirchweihfest kennengelernt hatte.
Doch die Ereignisse der vergangenen Woche hatten selbst ihm zugesetzt, obwohl er dies gegenüber seinem Bruder niemals zugegeben hätte. Seit er denken konnte war er der stärkere Bruder gewesen, der Johann vor der meist grundlosen Schelte der Mutter und den Hänseleien der Nachbarskinder in Schutz genommen hatte. Annelieses liebliche Gestalt verschwand schlagartig vor seinem inneren Auge, und damit auch sein für einen Außenstehenden sicher etwas unmotiviertes Lächeln, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Er schrak zusammen, drehte sich abrupt um und sah in das strahlende Gesicht seines Kommilitonen und besten Freundes Moritz.
„Peter!“ Seine Stimme klang freudig überrascht. „Warum hast du die ganze letzte Woche gefehlt? Du warst doch hoffentlich nicht krank?“  Â
Automatisch schüttelte Peter den Kopf. Gedankenverloren fuhr er sich mit der Hand durchs dunkle Haar und kratzte sich am Hinterkopf.
„Nein, das nicht …“, begann er, aber er beendete den Satz nicht, weil er noch immer zu aufgewühlt war, um die schrecklichen Geschehnisse der letzten Tage in Worte zu fassen.
„Aber?“, ergänzte Moritz.
Als er die Anteilnahme im Gesicht seines Freundes sah gab Peter sich einen Ruck.
„Ich habe dir doch erzählt, dass mein Vater verschollenen ist?“
Der Freund nickte. „Ja... Ägypten, nicht wahr?“
Peter nickte seinerseits und blickte wieder aus dem Fenster. Zwischen den noch immer herunterrinnenden Tropfen konnte er seine eigene Reflexion im Glas wahrnehmen, die einer Marmorstatue glich, so bleich war er.
„Letzte Woche ist er unerwartet wieder ...“ Gegen seinen Willen spürte er einen Schwall Tränen in sich aufsteigen, schloss aber die Augen und kämpfte sie nieder, indem er krampfhaft an Anneliese dachte. Wenn sie ihn in diesen desolaten Zustand sehen könnte, würde er vor Scham im Erdboden versinken! „aufgetaucht. Einfach so, ohne sich vorher anzukündigen.“
Moritz ließ seinen Mund vor Überraschung offenstehen.
„Vier Tage später ist er gestorben.... und niemand weiß...“
„D... Das tut mir wirklich sehr leid.“, stammelte sein Freund leise.
Peter, der mühsam wieder seine Fassung erlangt hatte, winkte ab. „Ist nicht so schlimm.“ Er wünschte, der könnte sich selbst vom Wahrheitsgehalt seiner Worte überzeugen. Vergeblich versuchte er zu lächeln und verzog doch dabei nur das Gesicht. „Er war praktisch ein Fremder für mich.“
„Das ist trotzdem schrecklich!“, entfuhr es seinem Gegenüber. „Du musst mir das aber noch etwas ausführlicher berichten. Schließlich bin ich doch dein Freund!“
Peter blickte ihn unglückliche an, spürte aber keinen Drang, über die tragischen Ereignisse in seinem Hause zu sprechen, obwohl er sonst mit seinem besten Freund alles teilte.
„Ich lade dich auch ins Gasthaus „zur alten Mühle“ ein“, fügte Moritz hinzu als Peter nicht reagierte, „Heute gibt es wieder diese ungenießbaren Kohlrouladen in der Mensa.“
Bei der bloßen Vorstellung wurde Peter übel, denn er verabscheute – ganz im Gegensatz zum Koch der Mensa – alles, was nur entfernt etwas mit Kohl zu tun hatte.
„Von mir aus“, murmelte er daher und fragte sich einen Augenblick lang ob Moritz Gedanken lesen konnte. Er wusste, dass er über kurz oder lang nicht umhin kommen würde seinem Freund alles zu berichten. Also war es vielleicht das Beste die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. „Aber lass uns in den 'Fasan' gehen. Ich habe keine Lust, dem alten Sedelmaier über den Weg zu laufen.“
Moritz verdrehte dazu die Augen. „Dem möchte ich auch lieber nicht begegnen. Der bringt es noch fertig, uns eine Hausarbeit aufzubrummen, nur weil wir angeblich zuviel Zeit haben. Das ist nämlich neulich dem Ferdinand passiert als er ihn unten am Fluss begegnete.“
Schweigend durchquerte Peter den Innenhof und ging, ohne auf den immer stärker werdenden Regen zu achten, durch verwinkelte Gassen bis er endlich das Gasthaus erreichte. Erst jetzt gewahrte er Moritz, der schweigend hinter ihm hergetrottet war.
Die Fenster des 'Fasan' waren beschlagen und daher sah Peter erst als er bereits die Tür geöffnet hatte, wie voll das Gasthaus war. Offenbar waren sie nicht die einzigen Studenten, die sich vor der Kohlroulade hierher geflüchtet hatten. Junge Männer mit feuchten Haaren und klammen Fingern machten sich gierig über ihre Gerichte her, während die Tochter des Wirts etwas überfordert war, all die Bestellungen aufzunehmen, die Speisen auszutragen, abzurechnen und die leeren Teller wieder abzuräumen. Der Raum war erfüllt vom Klappern der Teller und vom Geplauder der Kommilitonen. Peter fühlte sich deplaziert unter all diesen fröhlichen jungen Männern.
Glücklicherweise sah er in der Menge kein bekanntes Gesicht, aber er machte sich keinerlei Illusionen: Bald würde die halbe Universität über seine Familie tratschen. Hoffentlich verbreiteten sich die sensationellen Neuigkeiten erst in den Semesterferien, denn dann wäre die größte Sensationsgier zu Beginn es neuen Semesters bereits befriedigt.
Mit etwas Glück fand Peter einen Platz in der hinteren Ecke der Stube, da ein ältlicher Angestellter – der sich in dieser Umgebung ausmachte wie der Oberlehrer eines Internats - sich gerade zum Gehen erhob. Moritz bestellte zweimal das Tagesgericht: Spickbraten mit Klößen und während die Freunde aufs Essen warteten, begann Peter zu erzählen. Er sprach mit gesenkter Stimme, aber er hätte den „Fasan“ nicht ins Spiel gebracht, wenn er gewusst hätte, welcher Beliebtheit er sich an diesem Tag erfreute.
„Vor über zehn Jahren hat sich mein Vater einer Handelsmission von Kaufleuten angeschlossen, die nach Ägypten aufgebrochen ist. Das Ziel meines Vaters war aber das Tal der Könige. Als begeisterter Hobby-Archäologe wollte unbedingt der erste sein, der ein Pharaonen-Grab auftun, das nicht schon in der Antike ausgeraubt worden ist. Mutter war natürlich dagegen, denn sie meinte, dass sich ein Familienvater nicht einfach so vor seiner Verantwortung drücken dürfe und schon gar nicht so kurz nach der Geburt seines dritten Kindes. Sie versuchte Vater umzustimmen, aber es half nichts. Er sagte immer nur „Ich komme doch in wenigen Monaten schon wieder zurück“. Schließlich musste sie ihn doch trotz aller Proteste ziehen lassen, aber sie hat fast acht Jahre auf ihn gewartet.“
„Ich weiß. Sie hat doch jetzt einen Neuen, euren alten Hauslehrer?“, fragte Moritz.
„Das macht die Sache ja so kompliziert“, entfuhr es Peter, heftiger als er beabsichtigt hatte.
„Erst muss ich noch etwas trinken. Mein Hals ist völlig ausgetrocknet!“
Peter bestellte ein Glas Rotwein, das die sonst so langsame Wirtstochter ihm augenblicklich kredenzte. Er genehmigte sich einen großen Schluck und genoss das Gefühl, wie eine wohlige Wärme in ihm aufstieg.
Dann begann er endlich zu erzählen: „In den ersten Monaten trafen regelmäßig Briefen ein, in denen Vater seine baldige Rückkehr versprochen hat. Dann schrieb er immer seltener, bis die Briefe schließlich völlig ausblieben. Auch das Konsulat in Kairo konnte - oder wollte - nicht helfen. Selbst an den König haben wir geschrieben. Von seinem Amt haben wir ein Schreiben zurückbekommen. Es war in schlechtem Englisch verfasst, jedoch mit einem bombastischen Siegel verschlossen, enthielt aber auch nicht viel mehr als großes Bedauern seiner Exzellenz. Mein Vater habe sich angeblich in Alexandria mit einem koptischen Priester namens Menas zusammengetan, die beiden sollen sich dann den Beduinen anschlossen haben. So war keine Information zu bekommen. Die Jahre vergingen, zwischenzeitlich hat meine Mutter den Antrag gestellt, meinen Vater für tot erklären zu lassen, damit sie sich neuvermählen könne ...“
.... „Warte“, unterbrach Moritz, du sagtest doch, er sei mit einer Gruppe von Frankfurter Kaufleuten gefahren, habt ihr die gekannt? Sind die wenigstens zurückgekehrt?“
„Wir kannten keinen von ihnen. Später hat Mutter natürlich mit ihnen Kontakt aufgenommen. Die meisten sind auch wirklich nur wenigen Monate in Kairo geblieben. Von Vater wussten sie auch nur zu berichten, dass er nach Alexandria weitergereist ist. Niemand weiß, was geschehen ist. Vater ist einfach verschwunden.“
„Jeder hätte vermutet, dass er tot ist“, seufzte Moritz.
„So ging es auch mir, aber wir haben uns alle geirrt“, fuhr Peter fort. „Vorletzten Sonntag war einer dieser grauenhaft verregneten Tage, an denen es eigentlich gar nicht lohnt das Bett zu verlassen.“
„Das kann man wohl sagen“, stimmte Moritz ihm zu. „So einen grässlichen Frühling hatten wir schon lange nicht mehr.“
Peters Gedanken wanderten zurück zu diesem schrecklichen Sonntag.
….
Ein grollender Donner weckte Peter gegen acht auf. Er warf einen Blick durch das Fenster auf die schwarzen Wolken, die über den Himmel zogen. Dann drehte er sich nochmals im Bett um und schlief weiter, bis er zwei Stunden später wieder aufwachte und ihn sein knurrender Magen aus den Federn trieb. Er warf sich einen Morgenmantel über das Nachtgewand und schlurfte in Pantoffeln die Treppe hinab.
Die anderen hatten bereits gefrühstückt, sein Teller stand jedoch noch da. Peter holte eine Scheibe Brot aus dem Brotkasten, bestrich sie mit Butter und häufte anschließend mit dem Messer mindestens zwei Zentimeter Erdbeermarmelade darauf.
Elise, das Hausmädchen, schoß herein und machte sich sogleich daran, ein Kännchen Kaffee frisch zubereiten. Peter setzte sich und genoss sein Marmeladenbrot.
Mit vollem Mund murmelte er „Danke“ als Elise den wunderbar duftenden Kaffee auf den Tisch stellte und das Hausmädchen verschwand mit einem angedeuteten Knicks.
Peter erwog, sich eine zweite Scheibe zu schmieren, aber er verzichtete darauf, da das Mittagsmahl war schon nah war. Er brachte sein Gedeck auf die Anrichte und verließ die Küche Richtung Treppe um sich endlich umzuziehen.
Seine Mutter stand hinter dem Vorhang und blickte starr auf die Straße hinaus. Peter bemerkte sofort eine gewisse Anspannung an ihr und seine Neugier war geweckt. Was mochte da draußen Ungewöhnliches vor sich gehen? Auch er ging zum Fenster, der Kopf seiner Mutter fuhr herum, und im Augenblick des Widererkennens mischte sich etwas Abweisendes in ihren Blick, wie als wäre es ihr nicht recht, dass er sie beobachtet.
„Sieh nur“, flüsterte sie, „aber geh nicht zu nah ans Fenster“
Peter trat einen Schritt zurück und lugte hinaus.
Sonntagmorgens ruht gewöhnlich der Verkehr in der Seitenstraße vor dem Haus. Daher staunte er über eine Droschke, die vor dem Gartentor stand. Der Kutscher saß unschlüssig auf dem Bock und blickte abwechselnd zur Kabine hinunter und zum Haus hinauf.
„Erwarten wir Besuch?“, fragte Peter seine Mutter, die noch immer auf die Straße starrte.
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, und schon gar keinen, der in einer Mietdroschke vorfährt“, murmelte sie alarmiert. „Ich hab ein ganz seltsames Gefühl.“
„Wie lang steht er schon da?“
„Einige Minuten.“
„Wer kann das nur sein?“
Hinter dem Glas des Kabinenfensters regte sich ein Schemen, jemand schien herauszublicken. Es war jedoch nichts Genaues zu erkennen.
„Steigt da jemand aus?“, fragte Peter und blickte zu seiner Mutter.
Sie fuhr sich nervös mit der Hand durch das Haar.
Die Türe des Wagens öffnete sich. Ein Mann mit ungewöhnlich gebräunter Gesichtshaut stieg mit etwas steifen Bewegungen heraus und sagte ein paar Worte zu dem Kutscher. Er trug bürgerliche, schwarze Kleidung und einen Hut. Für einen Moment stemmte er die Linke Hand in den Rücken und betrachtete das Haus als überlegte er, ob es das richtige sei.
Der Fremde machte sich am Gartentor zu schaffen und öffnete es. Die Mutter trat mit erschrockenem Gesichtsausdruck einen Schritt zurück und hob die Hand an den Mund.
Verwirrt blickte Peter zu ihr hinüber und sah, wie sie erblasste.
„Was hat dies zu bedeuten?“, fragte er. „Ein Einbrecher am hellerlichten Tag?“
„Mein Mann!“, entfuhr es der Mutter. Ihre Lippen bebten. „Dein Vater!“, wiederholte sie etwas leiser.“
„Vater?“, fragte Peter zurück, aber alles erschien ihm so unwirklich.
Die Erinnerung an seinen Vater war beinahe völlig verblasst, obwohl er schon alt genug gewesen war, um den Schmerz seiner Mutter um seinen Weggang zu verstehen. Peter dachte an den jungen Mann auf der schwarz gerahmten Miniatur im Schlafzimmer, der eher ihm selbst ähnelte als dem unheimlichen Mann im Vorgarten.
Unfähig irgendetwas zu sagen starrte er weiterhin aus dem Fenster.
Peter wartete auf das schrille Geräusch der Glocke, aber es blieb auch. Der fremde Mann, der angeblich sein Vater war, versuchte stattdessen die Wohnungstür aufzuschließen.
„Peter!“
Er erwachte aus seiner Starre und blickte zurück zur Mutter, die er noch niemals so aufgewühlte erlebt hatte.
„Du musst sofort Wilhelm suchen...“
Es läutete. Die Messingglocke der Haustür durchschnitt die Stille. Die Mutter zuckte zusammen, fasste sich aber wieder. „Wilhelm darf nichts über die geplante Hochzeit sagen, ja nicht einmal darüber, dass wir beide ein Paar sind. Das dürfen wir deinem Vater nicht sofort auftischen! Sonst gibt es eine Katastrophe! Wilhelm ist euer Hauslehrer und mein Sekretär, mehr nicht! Sag es auch Johann und Sophie.“ Der Blick der Mutter glitt tadelnd am Morgenmantel ihres Ältesten hinab. „Und zieh dir endlich etwas Anständiges an!“
Die Klingel ging ein zweites Mal. Elise kam in den Flur geschossen, den Staubwedel in der rechten Hand. Seit wann putzte sie am heiligen Sonntag? Bestimmt hatte das Mädchen gelauscht.
Doch die Mutter rief sie zurück. Während Peter aus dem Zimmer eilte, hörte er, dass  auch das Hausmädchen instruiert wurde.
Mit rasend klopfendem Herzen eilte er zum Bibliothekszimmers, in dem sein angeblicher Hauslehrer die Vormittage verbrachte und durch die Zimmertür hörte er seine Mutter, die den Vater begrüßte. Es kam ihm vor als hätte er all dies bereits einmal erlebt, aber das war natürlich unmöglich.
Wilhelm - ein hagerer, angespannter Mann, dem Peter normalerweise möglichst aus dem Weg zu gehen suchte - stand auf der Leiter und studierte mit zusammengekniffenen Augen die Rücken der Bücher des obersten Regalbretts, in dem sich die englische Literatur, überwiegend Schauerromane befanden. Fast wäre er heruntergefallen, als Peter die Türe mit Wucht aufriss.
Wilhelm schob seine Brille auf der Nase zurück und blickte strafend auf Peter herab, doch bevor er eine Rüge aussprechen konnte, fing Peter schon an: „Herr Doktor Eisenbach...“
Diese Anrede war Peter herausgerutscht, obwohl er Wilhelm sonst nur so ansprach, wenn er ihn ärgern wollte, Wilhelm verzog das Gesicht und öffnete den Mund zum Protest, aber Peter schnitt ihm das Wort ab.
„Mutter hat mich beauftrag, ihnen mitzuteilen, dass der Vater aus der Fremde zurückgekehrt ist. Sie bittet Sie, Stillschweigen über ihre Beziehung zu ihr zu wahren, um unangenehmen Szenen vorerst aus dem Weg zu gehen, bevor... “
„Verdammt!“, entfuhr es dem Doktor der Altphilologie, der sonst versuchte, seinen Stiefsöhnen in spe mit gutem Beispiel voranzugehen,. Bevor er sich fassen konnte, polterte ein Buch zu Boden. Peter sah, dass es sich um „Malmoth the Wanderer“ von Maturin handelte. „Das doch nicht...“
„Wie gesagt, Herr Doktor Eisenbach, verursache Sie bitte keinen Skandal, das möchte Mutter um jeden Preis vermeiden!“, wiederholte Peter und fragte sich, warum ausgerechnet er mit dieser undankbaren Aufgabe betraut worden war.
Da war es wieder, dieses déjà vu-Gefühl und diesmal wusste Peter warum, die Situation erinnerte ihn an die Rückkehr des Agamemnon, wie sie in der Odyssee geschildert wurde, die sein Bruder wieder und wieder las wie der Pfarrer sein Brevier: Agamemnon kehrte vom Krieg zurück, aber seine Frau war bereits sein neue Bindung eingegangen. Wie wollte es Mutter vor Vater verheimlichen, dass Wilhelm und sie bereits das Aufgebot bestellt hatten? Peter verspürte den starken Wunsch, durch den Hinterausgang des Hauses zu verschwinden, einfach zu verschwinden wie sein Vater es vor zehn Jahren getan hatte und alle Probleme hinter mir in diesem Haus zurückzulassen.
„Einen Moment mal“, stammelte Wilhelm und seine Stimme ließ erkennen, dass ihn diese Neuigkeit genauso schockierte wie die Mutter, „du willst mich doch hoffentlich nicht zum Besten halten? Mit solchen Dingen macht man keine Scherze!“
Doch Peter hatte bereits die Türe aufgerissen und hätte sie fast mit Elan hinter sich zugeschmissen, aber er beherrschte sich, da er noch mit seinen Geschwistern sprechen musste, bevor er die Aufmerksamkeit seines Vaters erregen durfte.
Während er sich die Treppe hinaufstahl, konnte er die Mutter in der Diele sprechen hören. Er blieb einen Augenblick stehen um zu lauschen und vernahm, dass der Vater den Kutscher anwies, sein Gepäck ins Haus zu schaffen. Offenbar beabsichtige er zu bleiben.
So hatte Bernhard Berggruen sich seine Rückkehr in den Kreis seiner Familie nicht vorgestellt. Freudentränen und Jubelschreie hatte er erhofft, aber an der Mittagstafel herrschte eine geradezu unerträglich angespannte Atmosphäre.
Niemand freute sich: Johann kämpfte mit den Tränen. Seine Mutter war erstarrt wie ein mechanisches Spielzeug. Doktor Wilhelm Eisenbach litt unter Appetitlosigkeit, während Peter gedankenlos alles in sich hineinschaufelte und Elise, die das Mahl auftrug den Eindruck erweckte, als könnte sie jeden Augenblick loskichern. Nur die kleine Sophie betrachtete ihn mit unverhohlener Neugier.
Seine Frau hatte ihm zu Beginn des Mahls einige Fragen gestellt, deren Beantwortung sie aber nicht weiter zu interessieren schien. Ganz unvermittelt hatte dieser Doktor Eisenbach sie unterbrochen und von einer Anstellung berichtet, die ihm von der Bibliothek eines Gymnasiums in Königsberg angeboten worden war und Charlotte war daraufhin noch blasser geworden, falls dies überhaupt noch möglich war.
Nachdem er selbst zum zweiten Mal festgestellt hatte, dass seine Kinder groß geworden waren, war das Gespräch schließlich völlig verebbt. Die einzigen Geräusche, die nun das bleischwere Schweigen durchbrachen waren das Schaben der Messer auf den Tellern, leises Schlürfen und das Zurückstellen von Gläsern auf die Tischplatte aus Mahagoni.
Bernhard Berggruen fühlte sich ziemlich verloren und sein Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen.  War dies nicht seine Familie, zu der er endlich zurückgekehrt war? War dies nicht sein Haus, das sein eigener Vater hatte erbauen lassen? War dies nicht sein Tisch, unter den die Anwesenden ihre Füße streckten? Sein Verstand sagte ihm, dass all dies zutraf, aber sein Gefühl sprach eine andere Sprache.
An den Söhnen, die ihm mittlerweile beide über den Kopf gewachsen waren konnte er die inzwischen verstrichene Zeit ermessen und auch die Tochter war dem Kleinkindalter entwachsen. Wie alt mochten sie sein? Bernhard Berggruen durchforstete mühsam seine halb verschütteten Erinnerungen: Peter war ein Jahr nach seiner Eheschließung geboren. Eine schemenhafte Erinnerung des Glücks, das er damals empfunden hatte stieg in ihm auf, aber sie war unendlich weit entfernt wie die Vergangenheit eines anderen. An den Fingern zählte er ab, dass sein Ältester nun bereits zwanzig Lenze zählen musste. Der ein Jahr jüngere Johann war also neunzehn und seine Tochter, die er nur als Säugling kannte immerhin elf Jahre alt.
Zu feschen Burschen hatten die Söhne sich entwickelt, vor allem Johann mit seinen kastanienbraunen Locken und den melancholischen braunen Augen. Der dunkelhaarige Peter hingegen, der ihn aus den Augenwinkeln musterte, wenn er sich unbeobachtet fühlte, wirkte für sein jugendliches Alter recht verschlossen, was aber nichts war im Vergleich mit diesem verbissenen Doktor Eisenbach.
Wieso saß an der Tafel ein Hauslehrer? Waren die Jungs nicht längst dem Schulalter entwachsen und seit wann engagierte man Literaturwissenschaftler zur Beaufsichtigung seiner Töchter und keine Gouvernanten? Aber warum wunderte er sich? Er hätte seine Frau nicht so lange allein lassen sollen! Bernhard Berggruen schob diesen unangenehmen Gedanken beiseite, denn er glaubte noch immer an eine gemeinsame Zukunft.
Monomanisch wiederholte er im Geiste: Es hatte sich nichts geändert: die Stadt, das Haus, die Möbel, seine Frau, alles war so, wie er es in Erinnerung hatte! Tief in seinem Inneren wusste er jedoch, dass sich alles geändert hatte, vor allem er selbst war nicht mehr derselbe.
In einem hilflosen Versuch, die abgerissene Verbindung zu seiner Frau wiederzubeleben, förderte er die prächtige Kette aus seiner Jackentasche zutage, die er kurz nach seiner Ankunft in Ägypten auf dem Basar von Kairo erworben hatte. All die Jahre hatte er sie seiner Frau mit der Post zukommen lassen wollen, aber er hatte es immer wieder verschoben.
So schnell, dass sie nicht zurückweichen konnte trat er hinter seine Frau und hängte ihr das Geschmeide um den Hals. Betreten schielte sie nach hinten, wo sich erstmals ihre Blicke trafen. Bernhard Berggruen lächelte, obwohl er sich unendlich müde fühlte. Was hatte seine Frau? Warum zuckte sie zusammen? Störte sie der Bart, den er sich hatte sprießen lassen, um die Narben in seinem Gesicht zu verbergen? Sein Herz klopfte so laut, dass sie es hören musste.
„Danke, Bernhard... Das war nicht nötig… Vielen Dank, es ist wunderschön aber... viel zu wertvoll...“, stammelte sie, sprang von ihrem Platz auf und wandte sich nochmals zu ihrem Mann um. Für einen Moment stand sie wie angewurzelt da und Bernhard Berggruen bekämpfte den Impuls sie zu umarmen, denn Charlotte blickte nun wie vom schlechten Gewissen geplagt zu Boden. Dann stürmte sie aus dem Speisezimmer. Die Türe des Salons schlug zu, und ein leises Schluchzen war zu hören.
Johann sprang auf, doch Peter packte ihn bei der Schulter.
„Lass sie“, wisperte er seinem Bruder zu und warf im gleichen Augenblick seiner Schwester einen flehentlichen Blick zu. „Ich glaube, sie will allein sein.“
Mit sorgenvoller Mine verließ der Vater die so abrupt aufgehobene Tafel, aber er versuchte nicht die Mutter zu trösten, sondern inspizierte sein Gepäck. Neben zahlreichen Koffern und Taschen, stapelten sich auch einige Holzkisten unterschiedlicher Größe in der Diele, darunter eine ganz besonders große, die etwa fünf Fuß lang war.
Peter, der dem Vater zusammen mit seinen beiden Geschwistern gefolgt war sah zurückschauend durch die geöffnete Esszimmertür, dass Wilhelm noch immer allein am Ende des Tisches saß. Erstmals verspürte er fast so etwas wie Mitleid für seinen ehemaligen Hauslehrer, aber dieses Gefühl hielt nicht lange an, da er sich an die endlosen Grammatikübungen erinnerte, die er ihm vorzugsweise an milden Frühjahrstagen aufgebrummt hatte.
Der Vater öffnete einen alten, abgewetzten Koffer, auf dessen Deckel so viele farbige Aufkleber von Hotels platziert waren, dass das Leder nur noch an wenigen Stellen freilag.
„Das ist für euch!“, sagte er fast beiläufig und schenkte seinen Kindern je einen morgenländischen Hausmantel aus farbiggewirkter Seide.
Johann schlüpfte hinein und tänzelte durch die Diele, um sich im Spiegel zu betrachten und Peter nannte ihn einen Maharaja. Der Bruder grinste zurück. Plötzlich hellte sich auch das bärtige Gesicht des Vaters auf und Peter fragte sich wie er ihn vorhin noch so unheimlich finden konnte. Endlich schloss der Vater seine Söhne in die Arme, ohne, dass diese sich dagegen wehrten und auch Sophie kam ihm treuherzig entgegen. Der Vater strich ihr über das blonde Haar und gab ihr einen angedeuteten Kuss auf die Wange. Â
„Wollt ihr nicht nachschauen, was ich noch alles mitgebracht habe?“, fragte er nach einer Weile und es gelang ihm nur mit Mühe seine Rührung zu verbergen.
Peters Neugier war geweckt. Er zerschnitt die Schnüre, mit denen die erste Kiste umwickelt war und zog mit der Zange die Nägel aus dem Holzdeckeln. Er wurde für seine Mühe belohnt, als er die in der Kiste verstauten Kunstschätze auspackte: Orientteppiche, altägyptischen Gefäße aus durchscheinendem Alabaster, Statuetten von Fremden Göttern und von wilden Tieren, Dosen, Papyrusrollen und Gruppen von kleinen Figuren, die in puppenhausartigen Mauern den verschiedensten Verrichtungen des täglichen Lebens nachgingen.
Johann schaute Peter mit vor Aufregung geröteten Wangen über die Schulter. Auch Wilhelm zeigte sich fasziniert, vor allem von den Schriftrollen und Peter dachte, dass er ein grauenhafter Angeber war, der nur so tat als könne er die Hieroglyphen entziffern. Nur Sophie war ins Esszimmer zurückgekehrt und schaute mit traurigem Gesicht aus dem Fenster.
Elise brachte schnell das Geschirr und das damastene Tischtuch in Sicherheit und bald war der Esstisch von historischen Schätzen übersät. Alles sah so makellos aus, als sei es erst gestern gefertigt, perfekt konserviert von der trockenen heißen Luft Ägypten. Vor allem die Artefakte aus Gold hatten eine geradezu erschreckende Präsenz und der Vater erklärte, dass die Ägypter Gold für das Fleisch der Götter hielten
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Die große Kiste lag noch immer auf dem Kelim-Teppich in der Diele. Offenbar wollte sie der Vater bis zum Schluss aufbewahren. Johann fragte sich warum er ein so riesiges Geheimnis um sie machte. Als er um die Kiste herumging bemerke er plötzlich, dass sich Wilhelm mittlerweile dezent zurückgezogen hatte, wohl um sich mit der Mutter zu besprechen und er fragte sich, wie das alles noch enden sollte.Â
Johann trat einen Schritt zurück um die Kiste aus einer größeren Distanz zu betrachten. Sie sah aus wie die anderen Kisten, nur etwas größer. Trotzdem fühlte Johann sich von dieser speziellen Kiste zugleich angezogen und abgestoßen. Vorsichtig beugte er sich vor und fuhr mit den Fingerspitzen über ihren Deckel. Er blickte zu seinem Vater auf, der lächelnd hinter ihm stand und eine einladende Geste in Richtung der Kiste machte.
Johann fasste sich ein Herz und nahm das Stemmeisen um den Deckel mit kräftigen Stößen abzuhebeln. Als der Deckel aufsprang, schlug Johann eine übelrichende Staubwolke ins Gesicht. Er schrak zurück und schaute hoch zu seinem Vater, aber dieser nickte ihm nur lächelnd zu. Hatte er nichts bemerkt?
Johann hingegen graute es. Er hatte einen Hauch auf seinen Wangen verspürt als ob sich aus der mysteriösen Kiste etwas Lebendes entwichen wäre, wie ein Geist aus einer verkorkten Flasche.
„Worauf wartest du noch? Mach es doch nicht so spannend!“, hörte er seinen Bruder sagen, der aus dem Esszimmer geschlendert kam, wo er die mittlerweile vor sich hinquengelnde Schwester getadelt hatte, die es nicht gewohnt war, dass keiner von ihr Notiz nahm.
„Wenn es ihm Spaß macht“, erwiderte der Vater, doch seine Stimme schein von weit her zukommen. Â
Als Johann nicht reagierte stieß Peter selbst den Deckel zurück. Johann schaute hinein und sah ein farbig bemaltes Holzobjekt. Es war eine Art große Schachtel. Sie hatte dieselben länglichen Ausmaße wie die Transportkiste, aber der obere Teil war schmaler, abgerundet und bemalte mit exotisch stilisierten, weiblichen Gesichtzügen. Auch die restliche Oberfläche war mit feinen Gold- und Steineinlagen reich verziert und lackiert. Peter erkannte erschauernd Bilder von tierköpfigen altägyptischen Gottheiten, darunter der mumiengestaltige Osiris.
Wieder fuhr er mit den Fingern über die Oberfläche, die glatt und kühl war, aber plötzlich war ihm, als ob die Schachtel vor ihm zurückgezuckt wäre. Wie durch einen Nebel hörte er Peter lachen. Johann schaute sich um und erschrak über das feixende Gesicht seines Bruders.
Peter stumpte ihn zur Seite und hob den Deckel an. Der Sand der Sahara rieselte aus der Kiste und dann sah Johann eine Art Wolke, in der er eine menschliche Gestalt zu erkennen vermeinte. Er schrie vor Angst laut auf. Sein Bruder ließ den Deckel fahren, der krachend zurückfiel und Johann stürzte durch einen, dunklen Brunnenschacht, der nicht enden wollte. Dort, wo die Schwärze am tiefsten war, starrte er in zwei glühende Augen. Sie fixierten ihn, ohne auch nur einmal zu blinzeln und verschwanden wieder in der dunklen Nacht. Schrille Geräusche durchschnitten das Dunkel, die nichts Menschliches an sich hatten. Sue schwollen rhythmisch an und verebbten, nur um erneut zu ertönen. Dann herrschte ganz plötzlich Stille und Licht.
Sophie begann laut zu weinen als Johann ganz langsam zu Boden sank. Die Türe des Salons flog auf, und die Mutter stürmte heraus, mit verheulten Augen und aufgelösten Haaren. Peter holte ein Glas Wasser um seinem Bruder die Stirn zu benetzen. Zu seiner großen Erleichterung öffnete dieser sogleich die Augen.
„Was ist geschehen?“, fragte er bestürzt, doch Johann brachte kein Wort heraus. Er zitterte am ganzen Leib und schwitzte zugleich. Seine Kleidung klebte ihm feucht am Körper.
Hinter ihm heulte noch immer die kleine Schwester und die Eltern beschuldigten sich gegenseitig dieses Unglück verursacht zu haben.
„Johann! Was hast du?,
Peter schloss den noch immer zitternden Bruder in die Arme und endlich spürte er, wie sich das Beben in seines Bruders Körper nachließ. Elise war mittlerweile auch herangeeilt, ebenso wie Wilhelm, der versuchte, sich demonstrativ hinter die Mutter zu stellen, aber da er kaum größer als sie war wirkte es eher als ob er sich hinter ihr versteckte.
„Was zum Teufel ist da drin?“, fragte die Mutter in einem inquisitorischen Tonfall auf die Kiste deutend.
„Die Mumie eines Mädchens...“
Die Mutter straffte sich umgehend. „So etwas bringst du mir ins Haus? Sieh nur, was du damit angerichtet hast!“
Sie deutete anklagend mit dem Finger auf Johann.
„Aber wie konnte ich es ahnen, dass er so darauf reagieren würde!“, wehrte der Vater ab.
„Was wunderst du dich? Eine Mumie ist schließlich kein Kunstwerk!“, beschwerte sich die Mutter. „Ich weigere mich, einen Leichnam im Haus aufzubewahren!“
Mit einem halbunterdrücktem Seufzer half sie ihrem jüngeren Sohn, der sich der Mutter gegenüber sichtbar an der Leine riss wieder auf die Beine.
Sein zielloser Blick richtete sich und er kam wieder zu Atem.
„Du hast uns ja einen Schrecken eingejagt“, meinte Peter. „Was in aller Welt war mit dir los?“
„Es war nur ein Schwächeanfall“, beteuerte Johann.
„Das ist nichts für die Kleine“, nörgelte Wilhelm im Hintergrund. „Außerdem kommt das nur von deiner Lektüre. Die 'Odyssee' in deutscher Sprache, wenn ich das nur höre!“
„Wir sind jetzt Studenten. Du hast uns gar nichts mehr zu befehlen!“, protestierte Peter und empfing dafür verärgerten Seitenblick von der Mutter.
Wilhelm wandte sich wortlos zum Gehen. Die noch immer quengelnde Sophie vor sich hertreibend verschwand er hinter der zufallenden Tür.
„Da hat dir deine Phantasie aber einen ziemlichen Streich gespielt“, meinte Peter, der sich freute, dass Johann wieder etwas Farbe im Gesicht hatte.
„Vielleicht sollte ich mir von Wilhelm eine lateinische Grammatik leihen“, erwiderte dieser mit einem matten Lächeln.“ Dann werde ich vielleicht genauso prosaisch wie er.“
Peter lachte.
Draußen heulte der Sturm und aus dem Salon dröhnten wieder lautstarke Stimmen, Peter spitzte die Ohren, denn der Streit tönte durch die halb offenstehende Tür. Er vernahm Begriffe wie „Verantwortungslosigkeit“ und „deine Erziehung“, aber plötzlich verstummte der Zank.
Auf Zehenspitzen näherte sich Peter der Tür und er sah seine Eltern in der Mitte des Raumes stehen. Die Mutter hob die Hand als wolle sie den Vater schlagen, der Vater fasste sie sanft am Handgelenk und beugte sich zu ihr herunter. „Bernhard...“, flüsterte die Mutter als der Vater sie an sich zog und sie küsste. Einen Augenblick lang versuchte sie ihn zurückzustoßen, dann gab sie den Widerstand auf.
Jetzt hat es sich endlich ausgeeisenbacht, dachte Peter befriedigt, bevor er sich ganz langsam zurückzog und ganz leise die Salontür schloss.
Aber es kam ganz anders. Am folgenden Morgen hatte der Vater starkes Fieber bekommen.
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„Das ist ja entsetzlich“, flüsterte Moritz, tief bewegt. „Er hat sich sicher in Ägypten irgendetwas eingefangen.“
Peter nickte. „Er ist in einen... katakombischen“
„Katatonisch.“, verbesserte Moritz.
„Ja, richtig... er ist in einen katatonischen Zustand verfallen.“
Während er sich des Anblickes seines Vaters erinnerte, fühlte Peter eine Welle des Elends in ihm aufsteigen.
„Nicht mehr ansprechbar war er. Unser Hausarzt kannte nicht einmal den Namen seiner Krankheit. Seine Säfte, seine Pillen, sie haben nicht geholfen. Im Gegenteil: Vater ist immer schwächer geworden und hat nur ab und zu noch im Delirium seltsamen Dingen vor sich hingemurmelt. Er sprach von einer Oase, von einer Frau mit ihrer Tochter und von einem Tempel, aber alles war so wirr, dass ich mir keinen Vers daraus machen konnte. Drei Tage lag er auf dem Bett und kämpfte gegen den Tod. Währende der ganzen Zeit hat Mutter an seinem Bett gesessen, aber sie wirkte seltsam weggetreten, wie eine Schlafwandlerin, aber Vater ist einfach so dahingesiecht, und am Abend des dritten Tages hat er die Augen für immer geschlossen.“
„Das tut mir schrecklich leid für Dich und Johann“, flüsterte Moritz.
Peter nickte
„Johann geht es noch immer sehr schlecht. Keine Nacht, in der er ruhig schläft.“
„Ja, und Deine Mutter, ich meine... will sie noch immer den Doktor Sowieso heiraten?“
„Sie weiß selbst nicht, was sie will. Eigentlich wollte sie immer nur unseren Vater zurück, glaube ich... Der Eisenbach war nur eine Vernunftlösung, ein Ersatz.“
„Jetzt habt ihr eine echte...“, begann Moritz, und seine Augen leuchteten auf einmal. „Sag, darf ich die Mumie mal sehen?“
Peter schüttelte den Kopf. „Nein, das geht nicht. Wir haben sie vorerst in den Keller geschafft, aber Mutter will sie so schnell wie möglich loswerden.“
„Bitte! Ausnahmsweise.“, flehte Moritz. „Ich bin schließlich dein Freund, du selbst hast sie dir inzwischen bestimmt auch angesehen?“
„Nein, dass habe ich nicht“, beteuerte Peter und fragte sich, seit wann sein Freund ein so gefühlloser Klotz war.
Verstimmt packte er seinen Ranzen und mit einem „Danke für die Einladung“ ließ er Moritz mit seinem halbvollen Weinglas im „Fasan“ sitzen.
14. Das Wasser des Osiris
Als Peter kurz nach Sonnenaufgang unsanft von einem laut gebrüllten Kommando geweckt wurde, brauchte er einen Augenblick lang um zu bereifen, warum Takait als Junge verkleidet neben seinem Lager stand. Sie sah aus, als habe sie nicht geschlafen und abgenommen hatte sie auch.
Dann besann er sich, dass die Karawane ziemlich überstürzt und mehrere Tage früher als geplant von der ersten Oase aufgebrochen war. Eine Stunde nachdem der Sphinx zu einem Sandhaufen zusammengestürzt war, hatte sich ein aufgebrachter Mob vor der Karawanserei zusammengerottet, der die Fremden zum Sündenbock für die schrecklichen Ereignisse machen wollte. Nur indem sie geflohen waren, hatten sie sich vor den lynchwütigen Oasenbewohnern retten können. Wenn die Beduinen diese nicht mit ihren Gewehren in Schach gehalten hätten, hätten sie die erste Oase wohl nicht lebend verlassen. Es war eine seltsame Welt, in der man heidnische Götter anbetete, aber Schusswaffen kannte. Wenn die aufgebrachte Menge die tödliche Wirkung der Gewehre nicht gekannt hätte, wäre sie nicht augenblicklich geflüchtet. Wahrscheinlich war es schon in der Vergangenheit zu Zusammenstößen zwischen den bewaffneten Karawanenführern und den Einheimischen gekommen.
Peters erster klarer Gedanke galt der wertvollen Zwiebel und er schaute sich möglichst unauffällig um. Keiner der Kaufleute blickte in seine Richtung. Trotzdem drehte Peter ihnen vorsichtshalber den Rücken zu, damit sein Körper ihnen den Blick verstellte. Dann kramte er nach der Zwiebel in einem ledernen Beutel, den er am Gürtel trug. Er hatte sie in ein feuchtes Taschentuch eingeschlagen, das aber inzwischen knochentrocken war. Wüstenstaub fiel heraus, als er das Tuch auffaltete und der darin geborgene Oasenkrokus bot einen traurigen Anblick. Seine rote Blüte und die Blätter hatten keinen einzigen Tag in der sengenden Hitze überstanden. Dies war eigentlich zu erwarten gewesen, denn es war ein wahnsinniges Vorhaben, eine blühende Pflanze durch die Wüste zu transportieren. Sie konnten sich glücklich preisen, falls es ihnen gelänge, wenigstens die Zwiebel heil in die nächste Oase zu schaffen, wo sie gut beraten waren, die Medizin daraus zu bereiten.
„Nur gut, dass der Oasenkrokus eine verdickte Wurzel besitzt“, sagte Takait und Peter fuhr zusammen, denn er hatte sie nicht herannahen gehört. „Sonst hättet ihr den langen, beschwerlichen Weg durch die Wüste völlig umsonst gemacht.“
Peter würdigte Takait keines Blickes, denn er hasste es, wenn sich jemand von hinten an ihn anschlich und ihn erschreckte. Mit großer Sorgfalt wickelte er die Zwiebel wieder in das Tuch und verstaute dieses in seinem Beutel.Â
Als er sich den anderen wieder zuwandte war Takait mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt und der Bruder hockte untätig neben ihr auf dem Boden, wobei seine Knie fast seine Ohren berührten. Das Mädchen trug wieder ihr eigenes, kurz geschnittenes Haar. So konnte sie - zumindest für einen unaufmerksamen Betrachter wie Johann - als Junge durchgehen, aber Peter fragte sich, ob es sich nicht inzwischen unter den Händlern herumgesprochen hatte, dass sie es war, die vor dem Sphinx getanzt hatte. Was für ein Jammer, dass Takait keine Tempeltänzerin mehr sein wollte, dachte Peter, denn er hatte noch nie einen so beeindruckenden Tanz gesehen. Daher wunderte er sich auch noch immer darüber, dass Takait sich ihnen bei ihrer Flucht angeschlossen hatte. War sie denn nicht zur ersten Sobek-Oase gereist, um Hathor-Priesterin zu werden?
Peter steckte die Kälte der Nacht noch immer in den Knochen und er sog gierig die warme Luft ein, die der Wind ihm ins Gesicht blies, aber er war noch immer von den schrecklichen Ereignissen des Vortags ganz aufgewühlt. Zeit seines Lebens hatte er sich geweigert an Übernatürliches, Spuk und anderen Hokuspokus zu glauben, weshalb er auch Johanns Bericht vom Besuch des mörderischen Schattens mit großer Skepsis aufgenommen hatte. Nun hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie ein steinerner Sphinx zum Leben erwacht und kurze Zeit später durch den Tanz einer jungen Frau zu Sand verwandelt worden war.
Als Peter Takait am Lagerfeuer herumwerkeln sah, fragte er sich, ob er es tatsächlich einer Tempeltänzerin zumuten konnte, weiterhin seine Dienerin zu sein. Außerdem hatte sie ihnen nicht nur geholfen, den Oasenkrokus zu stehlen, sondern sie hatte ihnen schließlich das Leben gerettet. Doch die Frage, ob Takait die Brüder für die zurückliegenden Ereignisse verantwortlich machte, lag noch immer unausgesprochen zwischen ihnen.
„Einen Vorteil hat diese schreckliche Sache: Wenigstens begleitest du uns jetzt noch bis zur nächsten Etappe“, sagte Peter nach einer Weile zu Takait, die in einer Pfanne rührte und dabei leise eine traurige Melodie vor sich hinsummte. Peter fand den Geruch des Breis, den sie darin briet nicht sehr appetitanregend und er wollte lieber gar nicht wissen, worum es sich handelte.
Takait schaute von ihrer Arbeit hoch. Schmerz und Erschöpfung schienen ihr in den Augen.
„Dabei wollte ich wirklich gern auf der ersten Oase bleiben.“
Peter wurde bewusst, dass seine Bemerkung nicht sehr diplomatisch gewesen war.Â
„Ja, das war eine kurze Laufbahn als Priesterschülerin“, sagte er daher schließlich in einem entschuldigenden Tonfall zu ihr, und fragte sich im nächsten Augenblick, wofür er sich eigentlich entschuldigte.
„Das ist nicht so schlimm. In diesem Tempel hat es mir sowieso nicht gefallen“, erwiderte Takait mit einer fahrigen Handbewegung, bei der ihr fast der Rührlöffel in die Pfanne gefallen wäre. Es war unübersehbar, dass sie versuchte, ihre Nervosität zu verbergen, aber es gelang ihr nicht.
„Ich verstehe dich nicht! Zuerst läufst du von zu Hause weg, um Priesterschülerin zu werden und dann macht es dir plötzlich nichts aus, alles wieder aufzugeben?“, mischte sich Johann ein, Takait skeptisch von der Seite musternd.
Takait wandte sich ab, so dass die Brüder ihr Gesicht nicht sehen konnten. Einen Augenblick lang schaute sie mit der Pfanne in der Hand wortlos in die Wüste.
„Ich bin nicht als Schülerin angenommen worden“, sagte sie dann, sich wieder umdrehend mit leiser, tonloser Stimme. „Die oberste Hathore hat gesagt, dass sie nur Neulinge annimmt und keine ausgebildete Tänzerinnen anderer Kulte. In Wahrheit war sie nur neidisch, weil ich jünger bin als sie. Ich war gut genug, sie bis zum nächsten Feiertag zu vertreten - denn die Hohepriesterin besucht gerade ihre Verwandten auf der zweiten Oase – aber dann sollte ich wieder gehen. Nur deshalb habe ich euch geholfen, den Oasenkrokus zu stehlen, weil ich mich so über die Hohepriesterin geärgert habe.“
Jetzt schaute Johann betreten auf den Boden, denn diese Antwort hatte er sicherlich nicht erwartet. Peter fühlte sich verpflichtet, irgendetwas zu sagen, um das peinliche Schweigen zu beenden.
„Willst du dich nicht im Tempel der zweiten Oase bewerben?“
„Dass weiß ich noch nicht“, brummte Takait ihn an und Peter fragte sich, was eigentlich dagegen sprach.
„Bestimmt gibt es auch auf der dritten Oase einen Tempel?“, fragte Johann, sicher nicht ganz uneigennützig.
„Mehrere, zum Beispiel der Neith-Tempel.“
„Der Neid-Tempel?“, entfuhr es beide Brüder zugleich.
Takait schaute sie tadelnd an und Peter fragte sich, warum sie so schlecht gelaunt war.
„In dem größten Tempel der dritten Oase wird die Göttin Neith verehrt.“ Takait sprach das Wort sehr deutlich aus, sodass Peter und Johann verstanden, dass es offenbar mit einem T endete. „Ihr Name bedeutet die Schreckliche“, fügte sie in einem Tonfall hinzu, in dem Peter heute ist ein schöner Tag gesagt hätte. „Sie ist eine der vier Schutzgottheiten der Toten. Auf dem Gebälk ihres Tempels steht die Inschrift: Ich bin alles, was war, alles, was ist und alles, was sein wird. Keinem Sterblichen ist es jemals gelungen meinen Schleier abzustreifen.“
„Hat sie den Kopf eines Tieres?“, fragte Johann mit gerunzelter Stirn.“
„Nein, sie wird in menschlicher Gestalt dargestellt und ist häufig mit Pfeil und Bogen ausgestattet. Da sie im Nildelta ihren Hauptwohnsitz hat, trägt sie die rote Krone Unterägyptens.“
Nach dieser Erklärung, von der Peter nicht recht wusste, wie er sie einordnen sollte, herrschte wieder bedrückende Stille.
„Nur gut, dass wir bewaffnete Karawanenführer haben“, bemerkte Peter auf die in lange Umhänge gehüllten Gestalten deutend. Er kam sich ziemlich einfältig vor, aber er fühlte sich  verpflichtete, irgendetwas zu sagen.
„Sie tun nur so, als ob sie sich nicht fürchten. Der Einsturz des Labyrinths und der wütende Sphinx werden sie genauso erschreckt haben wie euch“, erwiderte Takait, offensichtlich froh das Thema wechseln zu können.
„Warum sagst du das in einem derart vorwurfsvollen Tonfall“, protestierte Johann, „wir sind weder für das Erdbeben verantwortlich, noch ist es unsere Schuld, dass Räuber ins das Labyrinth eingebrochen sind!“
„Aber immerhin seid ihr in die Grabkammer eingedrungen, die der Sphinx bewacht hat“, erklärte Takait mit finsterem Gesicht.
„Aber die anderen haben die Tür geöffnet. Wir sind nur zufällig da drinnen gelandet! Wenn du mitgekommen wärst, wie es eigentlich deine Aufgabe als Dolmetscherin gewesen wäre, wären wir nicht vom Weg abgekommen! Das ist alles nur deine Schuld!“
Peter wunderte sich, warum der Bruder Takait gegenüber immer gleich so feindselig war.
„Möglicherweise hat aber auch das Herausreißen der Blume durch profane Hände den Sphinx geweckt!“, vermutete Takait, den Vorwurf ignorierend.
„Warum hast du das dann nicht  für uns getan, wo deine Hände doch offenbar nicht profan sind?“, fuhr Johann die Tempeltänzerin an.
Ich habe einen heiligen Eid schwören müssen, dass ich keinen Oasenkrokus ausgraben darf.“Â
„Bestimmt willst du als nächstes meinem Bruder weismachen, dass er es war, der den Sphinx auf den Plan gebracht hat, weil er im Sandsturm eine streunende Katze getreten hat“, konterte Johann boshaft und Peter kannte den Bruder gut genug, um zu wissen, dass er selbst dies für eine absurde Idee hielt.
„Dann hätte der Sphinx sich früher geregt!“, erklärte Takait sachlich, die den Kommentar offenbar ernst genommen hatte.
„Eigentlich ist es doch ziemlich gleichgültig, was den Sphinx geärgert hat“, erklärte Peter, in einem Versuch Frieden zwischen den Streithammeln zu stiften, „Hauptsache, wir sind ihm entkommen.“
„Aber ….“
Takait stieß das Wort mit einem empörten Gesichtsaudruck aus, wandte aber dann abrupt ihre Aufmerksamkeit wieder der Pfanne zu, die sie während des Gespräches kurzzeitig vom Feuer genommen hatte. Peters Blick, der ihr folgte streifte die Nomaden, die ein Kaninchen am Feuer rösteten, das einer von Ihnen gejagt hatte. Köstlicher Bratenduft drang bald durch das Lager, aber die Beduinen machten keinerlei Anstalten, ihre Beute mit den anderen zu teilen.
„Mehr haben die geizigen Kaufleute nicht herausgerückt.“ Takait zeigte sie mit einer einladenden Bewegung auf die nach Fett riechenden grauen Fladen, die sie zubereitet hatte. „Sie behaupten, dass sie ihre Geschäfte auf der Oase noch nicht abgeschlossen hatten, aber ich finde, sie hätten uns trotzdem wenigstens ein paar Oliven abgeben können.“
Angewidert betrachte Peter den Inhalt der Pfanne. Dabei dachte er mit Mordgelüsten an den Wirt, der den Kontakt zu den Beduinen hergestellt hatte. Ihm hatten sie Geld für ihre Verpflegung bezahlt und nun behaupteten die Händler, davon nichts zu wissen. Vielleicht waren es aber auch die Kaufleute, die ihn betrogen, aber Peter konnte es ihnen nicht nachweisen, denn schließlich besaß er keine Quittung. Lustlos biss er in einen Fladen, der noch fader schmeckte als er aussah und Peter hatte nur Wasser, um ihn herunterzuspülen. Ein Becher Kaffee wäre eigentlich das Mindeste, was man nach einer Nacht in der Wüste erwarten konnte! Wehmütig dachte Peter an das Gasthaus zum Fasan in seiner Heimatstadt.
Auch Takait hatte offenbar keinen Appetit, denn sie legte ihre Portion schon nach wenigen Bissen mit einem leisen Seufzer in die Pfanne zurück. Nur Johann stopfte unverdrossen den Fladen in sich hinein.
„Geht es dir gut?“ fragte Peter, während er Takait von der Seite zu mustern suchte, aber sie wich seinen Blicken aus.
„Ja, es geht mir gut. Ich bin nur müde“, murmelte sie, aber sie klang nicht sehr überzeugend.
„Dich bekümmert doch etwas?“, fragte Peter daher in einem drängenden Tonfall nach. „Wenn wir mit diesen zwielichtigen Kaufleuten reisen, sollten wir wenigstens voreinander keine Geheimnisse haben!“
Johann, der neben ihm saß musste über diese Worte lachen und verschluckte sich an dem Bissen in seinem Mund. Er wurde von Hustenanfällen geschüttelt. Takait hingegen seufzte erneut, diesmal deutlich vernehmbar. Dann schaute sie mit ernstem Gesichtsausdruck in Richtung der Beduinen, stand auf und schritt auf die Karawaneführer zu.
„Ich glaube, es ist besser, wenn du mir die Zwiebel gibst“, sagte Johann leise, „Takait hat vorhin zugesehen, wie du sie weggepackt hast. Ich traue ihr nicht zehn Zentimeter über den Weg.“
Wortlos drückte Peter dem Bruder den Beutel in die Hand, da er zu erschöpft war um sich herumzustreiten. Johann griff sich leise bedankend nach der Zwiebel und verstaute sie in seinem Bündel und Peter hatte das ungute Gefühl, einen Fehler begangen zu haben, aber er konnte kaum dem Bruder die Zwiebel gleich wieder wegnehmen. Aber es war ja nur für einen Tag. In der nächsten Karawanserei würde Peter ihn zu Medizin verarbeiten und diese dann in seinem Gepäck verstauen.
Peter rieb sich die brennenden Augen, die vom heißen Wind gereizt waren. Dann drückte er den Rücken durch und ließ seinen Blick über das Lager schweifen, mehr aus Langeweile, als, dass er erwartete, etwas Ungewöhnliches zu bemerken. Plötzlich schreckte er aus seinem dämmrigen Zustand auf, denn er hatte den Eindruck, dass die Karawane geschrumpft war. Dies war ihm am Vortag in der Hektik des Aufbruchs entgangen. Er zählte die Köpfe der vermummten Kaufleute und es waren tatsächlich nur dreizehn. Wo mochten die fehlenden beiden Händler stecken? Waren sie auf der Oase umgekommen? Hatte man sie vergessen oder waren sie freiwillig zurückgeblieben? Peter grübelte einen Augenblick darüber nach, dann fiel es ihm ganz plötzlich wie Schuppen von den Augen.
„Jetzt weiß ich, warum mir die beiden dicken Grabräuber unten im Labyrinth bekannt vorgekommen sind!“, entfuhr es ihm spontan und er war froh, dass keiner der anderen Deutsch verstand, „Es waren zwei der Händler!“
Und was war mit den anderen?, durchfuhr es Peter bang? Gehörten sie zur gleichen Räuberbande? Peter weigerte sich innerlich, dasselbe von Takait zu vermuten.
„Wie, um Gotteswillen kommst du denn auf diese Idee?“
Johann blickte den Bruder wie vom Donner gerührt an.
„Ganz einfach: Auf dem Hinweg waren es fünfzehn Kaufmänner und jetzt sind es nur noch dreizehn“, erklärte Peter.
Johann zählte mit ausgestrecktem Zeigefinger die Kaufleute ab, die mittlerweile aufgebracht gestikulierend in einer Gruppe beisammen standen, wohl weil die Nomaden ihnen nichts von ihrem Braten abgaben. Takait verließ die Streitenden und schlenderte zu den Brüdern zurück.
„Es sind wirklich zwei weniger, aber vielleicht sind einfach zwei Kaufleute in der Oase geblieben“, wandte er ein. „Bist du sicher, dass du die Räuber wiedererkannt hast? Unter ihren Umhängen sehen sie doch alle gleich aus.“
„Nein, ich habe ihre Gesichter aus der Nähe gesehen…“
„Aber es waren doch drei Räuber“, unterbrach Johann, „und nur zwei Kaufleute fehlen!“ Â
Peter dachte einen Augenblick rüber diesen Einwand nach.
„Du hast natürlich Recht, aber der dünne Ägypter kannte sich sehr gut aus. Er war wahrscheinlich ein Priester des Labyrinthes.“
„Ein Priester würde niemals ein Grab berauben!“, rief Takait empört aus, die bisher schweigend, doch aufmerksam den Wortwechsel verfolgt hatte.
Peter bezweifelte dies. Schließlich wussten die Priester am besten, welche Schätze in den unterirdischen Gewölben lagen, Schätze, mit denen die Lebenden mehr anfangen konnten als die Toten und er bedauerte noch immer, dass er aus der Grabkammer nichts mitnehmen konnte.
Der ältere der beiden Nomaden gab das Zeichen zum Aufbruch. Die Kaufleute beendeten ihre Auseinandersetzung, zumal das Kaninchen mittlerweile verspeist war und ein jeder bestieg sein Kamel.
In den nächsten Stunden durchquerte die Karawane einen besonders monotonen Kieswüstenabschnitt. Dann wurden die Gesteinsbrocken immer kleiner bis nur noch grober Sand übrig war. Riesige gelbe Dünen türmten sich in der Ferne vor dem azurblauen Himmel auf. Die heiße Luft flirrte den Reisenden vor den brennenden Augen. Aus dem warmen Morgen war mittlerweile ein – selbst für hiesige Verhältnisse –ungewöhnlich heißer Mittag geworden.
Johann gähnte herzhaft, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Er litt unter chronischem Schlafmangel und jetzt, wo die Karawane geschrumpft war, würde er noch häufiger zu Nachtwachen herangezogen werden. Missmutig schaute er sich nach den anderen um. Auch Peter saß apathisch auf seinem Kamel. Hinter ihm ritt Takait. Sie schaute immer wieder zurück, warum war Johann unklar, denn hinter ihr befand sich ein ältlicher, harmlos aussehender Kaufmann. Fürchtete sie sich davor, dass die Priester der ersten Oase ihnen folgten? Oder die aufgebrachte Volksmenge, aber das konnte nicht sein, denn sie besaßen sicher nicht alle Kamele?Â
Als die Karawane eine schattenspendene Felswand passierte, hoffte Johann auf eine kurze Pause, aber die Nomaden machten keinerlei Anstalten dazu und leider beschwerte sich auch keiner der Kaufleute.
Der monotone Schritt des Kamels versetzte Johann in einen angenehmen Dämmerzustand, in dem sich die Hitze leichter ertragen ließ. Immer wieder sank sein Kinn langsam auf die Brust und er musste seine gesamte Willenskraft sammeln um den Kopf wieder hochzuheben.Â
Johann schrak zusammen, als ein schrilles Geräusch die Stille durchschnitt. Schon wieder die Dämonen, dachte Johann, aber es war Takait, die einen spitzen Schrei ausgestoßen hatte, der offensichtlich nicht nur Johann durch Mark und Bein gegangen war, denn alle drehen sich nach Takait um, so auch Johann.
Er hätte nicht zu sagen vermocht, was er am Horizont zu sehen erwartete, aber der Anblick, der sich seinen Augen nun bot war es bestimmt nicht. Hinter der Karawane erhob sich zum Greifen nahe das Hochplateau, in dessen Schlucht sich die Nordoase befand. Wie konnte das sein, wo sie doch schon so lange durch die Wüste ritten? Hatten die Karawanenführer sie im Kreis herumgeführt? Waren sie, nach all der Plackerei wieder zu dem verfluchten Ort zurückgekehrt, von dem sie am Vortag aufgebrochen waren? Hatten die Oasenbewohner sie dafür bezahlt? Vor seinem inneren Auge sah Johann den lebendig gewordenen Sphinx und das eingestürzte Labyrinth.
„Nein!“, schrie Takait, noch immer außer sich vor Angst. „Ich bin deine Tempeltänzerin! Hathor verschone mich! Du bist doch die Beschützerin der Fremden!“
Johann fragte sich, ob sie den Verstand verloren hatte. Warum fürchtete sie sich plötzlich vor der Göttin Hathor, deren Priesterin sie werden wollte? Oder sah Takait etwas, was Johann verborgen war? Warum versuchte der Bruder nicht sie zu beruhigen? Johann schaute Peter an, aber auch dieser machte einen ratlosen Eindruck, sicherlich nicht nur wegen der hysterischen Takait, sondern auch, weil sie unerwarteterweise zur Oase zurückgekehrt waren.
„Nein!“, schrie Takait erneut. „Hathor, habe Erbarmen!“
Alle Augen waren nun auf die junge Frau in Männerkleidern gerichtet, deren hohe Stimme sie mit tödlicher Gewissheit zu verraten drohte. Erst jetzt realisierte Johann, dass Takait auf Deutsch geschrieen hatte. Was mochte dies nur bedeuten? Johann konnte kaum glauben, dass dies dieselbe furchtlose junge Frau war, die für den Sphinx getanzt hatte.Â
„Nicht so laut“, sagte Peter, der endlich zu Takait geritten war. Er berührte sie an der Schulter, zog aber seine Hand sofort zurück. „Willst du, dass alle merken, dass du ein Mädchen bist? Dann bekommst du bestimmt Ärger oder die Kaufmänner belästigen dich.“
Der ältere der Beduinen richtete einige unfreundliche Worte an Takait. Das Mädchen widersprach, aber der Nomade brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. Takait starrte ihn mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen an. Der Mann machte einen weiteren barschen Kommentar und drehte sich abrupt um. Takait rief ihm etwas nach. Ihre Stimme überschlug sich dabei vor Empörung.
„Was hat er gesagt?“, fragte Peter, der dieser Szene mit gerunzelter Stirn beigewohnt hatte.
Takait atmete schwer. Ihr Gesicht war blass, aber sie hatte sich wieder etwas gefangen.
„Er behauptet, dass er nicht vom Weg abgekommen sei und, dass die Berge nur eine Fatamorgana sind. Wir sagen in den Oasen Wasser des Osiris dazu. Das, was wir sehen ist angeblich nicht real. Die Wüstendämonen gaukeln uns nur vor, dass dies die erste Oase sei.“
„Schon wieder die Dämonen! Eine absurdere Erklärung habe ich noch nie gehört!“, entfuhr es Johann, der grenzenlos darüber erleichtert, dass es nur eine Fatamorgana war, die sie getäuscht hatte. Auf diese Idee hätte er eigentlich selbst kommen müssen, aber es war eben etwas anderes in Büchern von dergleichen zu lesen oder sie mit eigenen Augen zu sehen.
„Er sagt, er kennt die Wüste wie seinen Wasserschlauch“, erwiderte Takait mit matter Stimme und Johann realisierte, dass sie seinen Kommentar falsch verstanden hatte. Â
Wieder fuhr der Beduine Takait an. Zorn flackerte in seinen Augen auf, der aber nichts war gegen den finsteren Gesichtsausdruck des Anführers der Kaufleute, der Takait in einem scharfen Tonfall aufforderte, still zu sein.
„Hathor, Hathor, Hathor“, murmelte Takait monomanisch vor sich hin. „Verwandle dich nicht in Sackmet, werde nicht zur blutdürstigen Löwin!“
„Lass uns weiterreiten“, sagte Peter zu ihr, „Wenn du das Felsplateau nicht mehr siehst, wirst du dich besser fühlen.“
Takait sah Peter an, als ob sie ihn noch nie gesehen hätte, aber ganz plötzlich huschte ein Lächeln des Wiedererkennens über ihr blasses Gesicht.
„Als Sackmet geht Hathor in die Wüste und schlachtet wahllos Menschen ab. Sie watet in ihrem Blut und möchte die Menschen ausrotten!“
„Aber bestimmt nicht heute, das weiß ich ganz genau“, meinte Peter und Johann fragte sich, wie er dazu kam dies zu sagen.
Was für eine seltsame Religion, dachte er, aber wenigstens atmete Takait nicht mehr so schnell. Sie war noch etwas käsig im Gesicht, aber sie hatte sich wieder etwas beruhigt. Mit einem leisen Seufzer spornte sie ihr Dromedar an und die Karawane setzte ihren Weg fort. Bald war hinter ihnen das Bild des Hochplateaus verblasst. Die Kaufleute saßen wieder entspannt auf ihren Kamelen, nur Peter wirkte weiterhin bekümmert und auch Takait gelang es nur mühsam die Fassung wiederzuerlangen.
Trotzdem verlief der verbleibende Ritt zur zweiten Oase ruhig und ohne weitere Zwischenfälle. Sie durchquerten eine felsige Region und manchmal polterte ein von den Füßen der Kamele losgerissener Gesteinsbrocken die Hänge hinunter und verfing sich schließlich im verdorrten Gestrüpp. Geier flogen vom Aas einer jungen Gazelle auf und schwangen sich krächzend in die Lüfte, hektisch kreisend warteten sie darauf, wieder unter sich zu sein, um sich um das Aas streiten zu können. Â
Ab und zu heulten auch die Dämonen, aber nach der Begegnung mit dem Sphinx hatten sie für Johann viel von ihrem Schrecken verloren. Am Abend näherte sich der jämmerliche Zug bereits der zweiten Oase. In einem Stall wieherte laut ein Esel, als wolle er seinen Artgenossen die Ankunft der Karawane ankündigen.
Wenn man sie hier als Priesterin annimmt, werden wir Takait endlich los, dachte Johann als er sah, dass das Ortsbild wieder von einem Tempel beherrschte wurde. Hoffentlich überredete Peter Takait nicht sie weiterhin zu begleiten! Johann schluckte, denn tief in seinem Inneren wusste er, dass dies leider unumgänglich sein würde, da sie Takait als Dolmetscherin brauchen würden. Aber spätestens in Alexandria würde Johann sie wegschicken! Und wenn sie sich weigerte zu gehen? Johann sagte sich, dass er momentan andere Sorgen hatte, denn Alexandria war noch fern.
Die Karawanserei war eine ärmliche Anlage, deren weiße Wandfarbe an vielen Stellen von den regelmäßig wiederkehrenden Sandstürmen abgeschmirgelt worden war, sodass die gelben Ziegel des Mauerwerkes bloßlagen. Als die Reisenden ihr Ziel endlich erreicht hatten, war Johann so erschöpft, dass er nur hastig ein paar Bissen herunter schlang und sich dann auf sein Lager warf. Er schlief sofort ein und träumte von Sand, Sand unter den Füssen, Sand in den Augen, Sand in den Gewändern, Sand, der durch die Finger rieselt.Â
Gegen sechs Uhr schreckte er aus dem Schlaf auf und hatte das Gefühl, dass etwas Grässliches vorgefallen war. Er streckte und räkelte sich. Die Nacht war viel zu kurz gewesen, seine Glieder waren steif und die Kleidungstücke klebten auf der Haut. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah sich im Raum um. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Außer ihm schliefen alle. Das Schnarchen eines Kaufmannes erfüllte den Raum, sonst war es still.
Johann bemerkte, dass das übernächste Lager verwaist war. „Takait!“, Durchfuhr es ihn. Ihre Abwesenheit verhieß nichts Gutes.
Im selben Augenblick wusste Johann intuitiv, was vorgefallen war. Mit zitternden Händen durchwühlte er sein Bündel. Achtlos warf er alle Dinge heraus, die sich darin befanden. Dann war er den Beutel leert, aber die Zwiebel befand sich nicht darin. Trotz der Hitze lief Johann ein Schauer über den Rücken. Jemand - und es gab für ihn keinen Zweifel daran, wer dieser jemand war – hatte die Zwiebel gestohlen!
Einen Moment lang sah Johann fassungslos in den leeren Beutel in seiner Hand. Dann schleuderte er ihn wütend auf den Boden. Es fehlte nicht viel und er hätte laut geflucht, aber es machte den Diebstahl auch nicht ungeschehen, wenn er alle weckte.
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15. Der Kaufmann
Johann kroch zum Nachbarlager und schüttelte Peter an der Schulter. Mit einem leisen Fluch wachte dieser auf und als er den Bruder erkannte, verzog er das Gesicht zu einer missmutigen Grimasse.
„Was um Gotteswillen ist denn in dich gefahren, mich nach diesem anstrengenden Ritt so früh zu wecken?“
„Takait ist mit dem Oasenkrokus durchgebrannt!“, sagte Johann mit gedämpfter Stimme, denn ihm viel keine Formulierung ein, die dies beschönigt hätte.Â
„Das glaube ich nicht!“, protestierte Peter spontan. „Du musst dich irren. Such noch mal gründlich in deiner Tasche nach der Zwiebel!“
Wortlos zeigte Johann auf das leere Lager.
„Sie kommt bestimmt bald wieder“, erklärte Peter, doch er klang mittlerweile ziemlich beunruhigt.
„Lass uns draußen reden“, schlug Johann vor. “Das geht schließlich niemandem an.“
„Von mir aus!“
Peter klang nicht sehr begeistert, aber er rappelte sich endlich von seinem Lager auf. Der Sand, der durch die Fenster hereingeweht war, knirschte unter ihren Füßen als die Brüder versuchten leise zwischen den Lagern der Schlafenden hindurchzuschreiten.
Sie schoben das Tor auf und traten in das gleißende Sonnenlicht hinaus. Trotz der frühen Stunde herrscht auf den Gassen bereits erstaunlich viel Betrieb. Es waren wahrscheinlich ganz normale Ägypter, die die kühleren Morgenstunden ausnutzten, um noch vor der mittäglichen Hitze ihre gesamten Besorgungen zu erledigen. Trotzdem konnte Johann sich des Verdachts nicht erwehren, dass sämtlicher Bewohner dieser Oase Diebe, Schmuggler, Grabräuber oder Hehler waren, denn wie sonst sollten sie hier draußen fernab der Zivilisation ihren Lebensunterhalt verdienen?
„Also, was ist passiert?“, wollte Peter vor dem Tor der Karawanserei wissen.
„Der Oasenkrokus ist aus meinem Beutel verschwunden und von Takait fehlt jede Spur!“, stellte Johann so sachlich wie möglich fest, obwohl er immer noch innerlich vor Wut kochte. Gleich macht Peter mir schreckliche Vorwürfe, dachte er bang.
„Vielleicht ist er dir unterwegs raus der Tasche gefallen?“, wandte Peter mit gerunzelter Stirn ein, offenbar bestrebt Takait zu verteidigen.
„Nein, das ist er nicht!“ Peter sah ihn skeptisch an als ob er vermutete, dass Johann dies nur so behauptete. „Erstens lag die Zwiebel ganz unten in meinerTasche, wo sie nicht zufällig herrausfallen konnte und zweitens war sie Gestern Abend noch da. Das habe ich nämlich noch als letztes vor dem Einschlafen kontrolliert! Da auch Takait verschwunden ist, dürfte wohl klar sein, wer die Zwiebel gestohlen hat.“
Peter schwieg einige Sekunden lang, als ob er über ein schwieriges Problem grübeln würde. Eine heiße Brise kam auf, die Sand und verdörrte Blätter die Gasse entlang trieb und Johann leckte sich nervös über die trockenen Lippen, denn es war nur eine Frage der Zeit, dass der Bruder ihn beschimpfen würde. Mittlerweile standen einige halbnackte Jungs im Halbkreis um die Fremden und starrten sie mit unverholender Neugier an, als ob sie einen sportlichen Wettkampf oder eine Theateraufführung beiwohnen würden. Was mochten diese Oasenkinder wohl über sie denken?
„Vielleicht hat sie ihn nur ausgeliehen“, meinte Peter in einem letzten halbherzigen Versuch, Takait in Schutz zu nehmen. Dann fand er sich langsam mit der unangenehmen Wahrheit ab, denn er konnte sich nicht gegen die logische Schlussfolgerung verschließen, dass es kein Zufall sein konnte, dass auch Takait und nicht nur der Oasenkrokus über Nacht verschwunden war.
Ein etwa sechsjähriges Kind zeigte auf die Fremden. Die Mutter, die daneben stand und mit einer Nachbarin klatschte, tadelte es und die beiden steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten. Das Kind lachte. Demonstrativ kehrte Johann ihnen den Rücken zu. Aus dem Inneren der Karawanserei drangen lebhafte Stimmen. Offenbar schlief an diesem Morgen niemand lang.
„Wir müssen mit dem Verwalter der Karawanserei reden“, sagte Peter schließlich mit einem resignierten Gesichtsausdruck. „Vielleicht kann er uns bei der Suche nach Takait behilflich sein.“ Â
„Aber, wir haben keinen Dolmetscher mehr! Wir können mit niemandem reden!“
„Verdammt!“
Johann staunte, denn Peter fluchte fast nie.
„Sie hatte es doch von Anfang an nur auf den Oasenkrokus abgesehen!“, stellte Johann, dem diese Idee zuvor nicht gekommen war, wütend fest. In diesem Augenblick hätte er Takait mit bloßen Händen erwürgen können, „sie ist bestimmt nur mitgekommen, weil du so vertrauensselig warst ihr zu erzählen, dass wir einen dieser komischen Krokusse brauchen!“
„Das glaube ich nicht. Bestimmt hat sie die Zwiebel spontan entwendet. Man hat sie nicht als Tempelschülerin angenommen und sie war darüber verzweifelt“, murmelte Peter. Er fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar.  „Außerdem ist das Blödsinn, was du da sagst. Sie war allein im Tempel und hätte alle Krokusse für sich selbst stehlen können, wenn dies ihr Ziel gewesen wäre.“
Johann verkniff sich mühsam jeglichen Kommentar, da er dankbar war, dass ihm der Bruder bisher keine Vorwürfe gemacht hatte und er deshalb lieber keinen Streit mit Peter anfangen wollte. Aber hatte der Bruder tatsächlich vergessen, dass Takait durch einen Eid gebunden war, der ihr das Ausgraben der Zwiebeln verbot?
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Johann vorsichtig, „wir können schließlich nicht den ganzen Tag hier draußen in der glühenden Sonne herumstehen und uns von den Kindern angaffen lassen.“
„Einer von uns schaut sich nach dem Grab um, aus dem die Mumie stammt und der andere sucht Takait“, antwortete der Bruder nach einer Weile und er wirkte maßlos enttäuscht.
„Ich möchte so wenig wie möglich mit der Mumie zu tun haben!“, stellte Johann mit Nachdruck fest.
„Also wirst du Takait suchen. Am besten, du beginnst sofort damit. Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Sonst vergrößert sich ihr Vorsprung noch mehr.“
„Das sagst du so einfach, aber wie, um Gotteswillen soll ich Takait finden?“, fragte Johann verärgert zurück. „Sie kann sich in jeder Hütte versteckt haben. Wir sind nicht die Polizei und haben daher keinen Durchsuchungsbefehlt! Außerdem kann ich nicht einmal mit den Einheimischen reden!“
„Das vergesse ich immer wieder! Wir hätten zu Hause Arabisch lernen sollen“, brummte Peter, „versuch es im Zweifelsfall mit Englisch. Lass dir irgendetwas einfallen! Schließlich hast du uns diese Geschichte eingebrockt!“
Also doch, dachte Johann und versuchte sich nicht zu ärgern, aber es gelang ihm nicht. Es war ein Fehler gewesen, die Zwiebel vom Bruder erbeten zu haben. Anderenfalls hätte Takait sie Peter gestohlen und er könnte ihn jetzt in die Wüste schicken, um die Diebin und ihre Beute aufzuspüren.
„Du warst es, der Takait angeheuert hat!“, giftete er nach einer Schrecksekunde zurück, „ich habe ihr von Anfang an nicht über den Weg getraut, schon als ich dachte, sie wäre ein Junge!“
Die Stimmen, die aus der Karawanserei drangen wurden immer lauter. Ob dies mit dem Verschwinden Takaits zusammenhing?Â
„Wer hätte gedacht, dass sie so etwas tun könnte? Sie sah wie ein harmloses junges Mädchen aus. Ich wusste nicht einmal, dass sie Tempeltänzerin ist“, lenkte Peter ein. Dann warf er dem Bruder einen finsteren Blick zu, „aber warum stehst du noch herum? Geh endlich und bring sie wieder zurück!“
„Wie du meinst“, erwiderte Johann gedehnt, denn mit dem Bruder war offenbar momentan nicht vernünftig zu reden.
Er beschloss, sich nach dem ägyptischen Äquivalent einer Gastwirtschaft umzuschauen. Wenn es dergleichen nicht gab oder Takait sich dort nicht zufällig aufhielt, war seine Mission bereits gescheitert.
„Einen Augenblick noch“, rief Peter Johann nach, als er erst drei Schritte gegangen war, „du trägst doch deine Uhr noch bei dir?“
„Falls Takait sie nicht geklaut hat“, erwiderte Johann schlecht gelaunt und fingerte in der Innentasche seiner Jacke herum. Er fand die goldene Taschenuhr, die er zum achtzehnten Geburtstag von Großvater geschenkt bekommen hatte, aber sie war von einer feinen Staubschicht bedeckt und tickte nicht mehr.
„Geht deine Uhr noch?“, fragte er Peter und hielt ihm seinen stehengebliebenen Chronometer vor die Nase.
„Selbstverständlich“, erwiderte der Bruder leicht herablassend und fischte seine Uhr aus der Tasche, „ich habe sie nämlich jeden Abend aufgezogen. Wir haben gerade halb sieben ägyptischer Zeit …“
„Da siehst du, wie lange wir uns sinnlos herumgezankt haben“, unterbrach Johann den rechthaberischen Bruder und zog das feine Rädchen an der Schmalseite der Uhr heraus, um die Zeit einzustellen.
„Um zwölf Uhr treffen wir uns wieder vor diesem Tor!“, erklärte Peter unvermittelt und stürmte in die Karawanserei zurück.
Das klingt, wie bei Philippi sehen wir uns wieder dachte Johann, während er die erstbeste Gasse einschlug. Er spürte geradezu körperlich, wie die Augen der Kinder ihm folgten und bekämpfte nur mühsam den Impuls, sich umzudrehen und ihnen die Zunge rauszustrecken.
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Peter betrat den Innenhof, um den die Gebäude angeordnet waren, durch eine gewaltige hölzerne Tür mit Griffen aus Messing. Sein Ziel war der Lagerraum, denn er wollte überprüfen, ob die Mumie noch an ihrem Platz war. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, dass Takait diese gestohlen haben konnte, aber er wollte sich davon lieber mit eigenen Augen überzeugen.
Er hatte den Bruder einfach draußen stehen lassen, weil er kurz davor war, zu explodieren. Es war typisch für Johann. dass er sich den Oasenkrokus hatte stehlen lassen und noch dazu so kurz vor dem Ziel. Peter hatte vorgehabt, in der Karawanserei daraus eine Medizin für den Bruder und sich selbst zu bereiten und den restlichen Sud in einer Flasche nach Hause zu transportieren. Nun bereute er bitterlich, dass er dem Bruder die Zwiebel anvertraut hatte. Wenn Johann eine Aufgabe übernahm, so konnte man sich darauf verlassen, dass er sie vermasselte.
Zwar war er unglaublich wütend auf Johann, aber noch mehr ärgerte sich Peter über sich selbst. Er musste zugeben, dass der Vorwurf, den Johann ihm gemacht hatte, nur allzu gerechtfertigt war: Er war viel zu vertrauensselig gewesen, was Takait betraf, denn sie hatte ihm auf den ersten Blick gefallen. Seit sie Alexandria verlassen hatten, hatte er nur ein einziges Mal an die treulose Anneliese gedacht, nämlich als der Bruder beim Anblick der ersten Oase den befremdlichen Wunsch geäußert hatte, bald wieder nach Hause zu fahren.
Peter hatte inzwischen den Lagerraum erreicht, aber er betrat ihn nicht, sondern blieb verblüfft in der Türöffnung stehen, denn drinnen war der Teufel los. Die meisten Kaufleute standen in der Mitte des Raums und zankten sich so lautstark, dass es die Kamele im angrenzenden Stall nervös machen musste. Peter versuchte, die Streithammel möglicht unauffällig zu passieren, aber die Blicke aller folgten ihm. Wenn er jetzt zu seiner Transportkiste ging, so machte er möglicherweise die zwielichtigen Reisegefährten erst auf die Mumie neugierig. Also gab er vor, sich in der Tür geirrt zu haben und verließ mit einer leise gemurmelten Entschuldigung, die sowieso niemand verstehen konnte den Raum.
Missmutig stapfte er in Richtung des großen Tempels, der die elenden Häuser der Bewohner überragte, da er vermutete, dass sich dort Grabanlagen befanden. Der Gebäudekomplex ähnelte dem Tempel der ersten Oase so stark, dass er vom selben Architekten entworfen sein musste. Aber Peter interessierte sich momentan nicht besonders für altägyptische Sakralbauten, denn ihm kam sein Vorhaben hoffnungslos vor: Ohne die Vermittlung Takaits konnte er sich noch nicht einmal danach erkundigen, ob hier im letzten Jahr ein Mumie abhanden gekommen war.Â
Vor dem Tempel lungerte ein auffällig gekleideter Mann mit rotem Turban, goldenen Ohrringen und gepflegtem Bart herum und spielte mit seinem Gebetskettchen. Er war nicht nur der erste nach Landessitte gekleidete Ägypter, den Peter auf einer dieser Sobek-Oasen gesehen hatte, sondern er war einer dieser Bilderbuchorientale, wie er sie bisher nur von Gemäldereproduktionen kannte. Im Vorbeigehen nickte er dem Fremden zum Gruß zu und war schon im Begriff den Bau zu betreten, als er zu seinem Erstaunen auf Englisch angesprochen wurde.
„Warum so eilig, junger Effendi?“
Peter blieb abrupt stehen und seine Augen suchten nach dem Sprecher, doch er sah nur den Orientalen, über dessen Gesicht ein ironisches Lächeln huschte. Erst in diesem Augenblick erkannte er ihn: Es war der Händler, der während der Reise für die anderen gesprochen hatte. Offenbar trug er zur Feier des Tages seinen Sonntagsstaat und Peter bemerkte, dass er jünger war als er ihn bisher eingeschätzt hatte. Er konnte nicht älter als Ende Zwanzig sein.
„Junger Effendi! Wir sollten endlich einmal miteinander reden“, sagte der Kaufmann mit einer so unterwürfigen Verbeugung, dass sie nur ironisch gemeint sein konnte und Peter starrt ihn einen Augenblick lang sprachlos an, geschockt darüber, dass der Kaufmann bisher nicht hatte zu erkennen gegeben hatte, dass er Englisch sprach.
„Und worüber?“, fragte er unwirsch zurück, denn er verspürte wenig Neigung, sich mit diesem heimtückischen Menschen zu unterhalten.
„Ãœber ihren reizenden Reisegefährten vielleicht“, schlug er mit einem schiefen Lächeln vor, „oder über die Mumie in ihrem Gepäck.“
„Wie viel?“, wollte Peter wissen, denn er war nicht in der Stimmung um herumzufeilschen.
„Wie viel was?“, fragte der Kaufmann amüsiert zurück.
„Wie viel Geld verlangen Sie für die Informationen, die Sie mir geben wollen?“
Der Kaufmann schüttelte bedächtig den Kopf und schaute Peter mit der herablassenden Nachsicht an, mit der man mit einem Kind spricht.
„Es macht keinen Spaß, mit Europäern Geschäfte zu machen! Die meisten von euch sind unhöflich, unkultiviert und stillos. Bei uns trinkt man zuerst einen Tee zusammen und spricht über die Familie. Dann raucht man eine Pfeife. Erst dann spricht man über das Geschäft.“
„Aber ich habe es eilig“, erwiderte Peter, der sich fragte, ob der Kaufmann sich über ihn lustig machte, „ich wäre Ihnen also sehr verbunden, wenn Sie mir ohne weitere Umschweife mitteilen könnten, was Sie wissen. Sie werden mich bestimmt nicht undankbar finden.“
„Das ist schon besser!“, erwiderte der Ägypter und streckte seine rechte Hand ohne das geringste Zeichen von Verlegenheit aus.
Peter gab ihm eine Silbermünze und er dachte an den Bruder, der den Zollbeamten bestochen hatte. Vielleicht besaß Johann in diesen Dingen ein größeres diplomatisches Geschick.
„Wissen Sie wo Takait steckt?“, wollte er dann wissen.
„Das nicht, aber es wird sie vielleicht interessieren, dass die Karawanenführer heute Morgen außer sich darüber, dass man ihren ein Dromedar gestohlen hat. Als sie dann bemerkten, dass auch Takait verschwunden war, haben sie eins und eins zusammengezählt.“
Peters Magen zog sich zusammen und augenblicklich war aller Zorn auf Takait verflogen, denn er traute den grimmigen Beduinen zu, ihr etwas anzutun. War sie am Ende so leichtsinnige gewesen, von der Oase zu fliehen? Vor seinem inneren Auge sah Peter Takait sich halb verdurstet durch Sanddünen schleppen.
„Sie wird doch nicht allein in die Wüste geritten sein?“, rief er daher erschrocken aus.
„Sie brauchen sich nicht um Takait zu sorgen!“ Der Kaufmann machte eine wegwerfende Handbewegung und begann dann wieder die elfenbeinernen Perlen, seines rosenkranzähnlichen Kettchens um das Handgelenkt zu drehen. „Es ist nur ein Katzensprung bis zur dritten Oase, sie ist kaum zwei Tagesmärsche weit. Und außerdem befindet sich eine weitere, wenn auch ganz kleine Oase auf dem Weg. Ich habe diese Strecke schon so oft zurückgelegt, dass auch ich allein dahin reiten könnte. Dies dürfte also ein Kinderspiel für jemanden sein, der hier geboren und aufgewachsen ist.“
Peter wunderte sich, dass plötzlich von einer weiteren Oase die Rede war.
„Dann gibt es also insgesamt vier Sobek-Oasen?“, stellte er automatisch fest, obwohl er eigentlich momentan andere Sorgen hatte.
„Die kleine Oase wird nicht mitgezählt. Sie besteht nur aus einem Brunnen, circa zehn Palmen und fünf Häusern, darunter eine Schenke.“
„Eine Schenke?“, fragte Peter verblüfft nach, da er glaubte, dass der Kaufmann, der ansonsten erstaunlich gut Englisch sprach, eine falsche Vokabel verwendet hatte. „Sie meinten doch sicher eine Karawanserei?“
„Selbstverständlich gibt es dort auch Gästebetten und einen Mietstall, aber das Haus ist vor allem eine Schenke. Dort treffen sich die jungen Leute der zweiten und der dritten Sobek-Oase, denn es ist nicht gut, in der Nachbarschaft zu heiraten, wo alle miteinander versippt und verschwägert sind. Außerdem können sich in dieser Wirtschaft die Vertreter der verfeindeten ersten und dritten Oase auf neutralem Boden treffen. Sie ist sozusagen das Wasserloch in der Wüste, an dem Frieden zwischen Löwen und Gazellen herrscht.“Â
Peter schwirrte der Kopf und er fragte nicht nach, warum die Bewohner der zweiten Oase offenbar mit denen der dritten befreundet und mit denen der ersten zumindest nicht verfeindet waren, während die der ersten und der dritten nicht miteinander verkehrten. Was diese Schenke betraf, so hörte sich die Beschreibung für Peters Geschmack nach einem Schmugglertreff an, wo Takait ihre Beute zu verschachern versuchen würde.
„Offiziell gibt es natürlich keine einzige Sobek-Oase“, fügte der Kaufmann mit einem komplizenhaften Lächeln hinzu, „denn diese Oasen sind auf keiner modernen Karte notiert.“
„Was bedeut eigentlich Sobek?“, wollte Peter wissen, der diese Frage schon mehrfach Takait stellen wollte, aber dies immer wieder vergessen hatte.
Der Kaufmann verzog das Gesicht, als ob er über einen peinlichen Verwandten sprechen sollte.
„Sobek ist der Name eines schrecklichen Krokodils, das die Heiden anbeten. Auf der dritten Oase hat man einen Tempel zu seinen Ehren errichtet.“
Peter vermutete, dass der Wüstensohn eine krokodilköpfige ägyptische Gottheit meinte und er musste an Johanns Vermutung denken, dass man möglicherweise in den Dorftümpeln Krokodile hielt. Peters Begeisterung für das alte Ägypten war mittlerweile auf dem Nullpunkt angelangt. Je schneller sie diese seltsamen Oasen verließen, desto besser! Aber vorher würden sie nicht umhinkommen, die dritten dieser Krokodilsoasen aufsuchen. Fast hätte Peter spontan nachgefragt, ob der Kaufmann augenblicklich mit ihm aufbrechen könnte - denn er verstand seine Bemerkung von vorhin als Angebot, sich als Führer anheuern zu lassen - als ihm schmerzlich einfiel, dass er noch nach dem Grab suchen musste.
„Könnten Sie vielleicht so freundlich sein, mich – selbstverständlich gegen gute Bezahlung - in diesen Tempel zu begleiten?“, fragte er daher den Kaufmann so höflich wie er es in seiner derzeitigen Verfassung nur zustande brachte und deutete dabei auf den Bau, vor dem sie die ganze Zeit herumdiskutierten, „ich möchte die Priester etwas fragen und habe bekanntlich leider keinen Dolmetscher mehr.“
„Leider spreche ich auch kein Ägyptisch“, erwiderte der Kaufmann bedauernd, „aber vielleicht kann ich auch so behilflich sein.“
Peter dachte, dass dies nicht gerade sein Glückstag war. Zu allem Überfluss machte ihn das kontinuierliche Klappern der Perlen zunehmend nervös.
„Mich interessiert, ob hier Pharaonen begraben sind“, erklärte er absichtlich vage und hoffte, dass man ihn nicht schon wieder für einen Grabräuber hielt.
„Das halte ich für völlig ausgeschlossen“, antwortete der Kaufmann ohne nachzudenken und kratzte sich dann am Bart. „Schließlich ist die ganze Anlage ist nur wenige hundert Jahre alt.“
Diesen Verdacht hatte Peter auch schon gehabt, aber momentan war ihm diese Bestätigung seiner Kennerschaft herzlich egal. Er räusperte sich. Dann gab er sich einen inneren Ruck, denn er wusste, dass er ohne den Kaufmann niemals das Grab finden würde, aus dem die Mumie stammte.Â
„Da Sie offenbar schon wissen, dass wir eine Mumie …“
„Nicht nur ich!“, unterbrach ihn der Kaufmann mit einem amüsierten Gesichtsausdruck, „die ganze Karawane redet darüber, dass sie eine Mumie durch die Wüste transportieren!“
Ein grässlicher Verdacht stieg in Peter auf und er schwor sich, nie wieder einer Frau zu vertrauen.
„Hat Takait das herumerzählt?“ Â
„Ich weiß nicht, von wem die Informationen stammten, aber jedenfalls wussten es alle: Wir Kaufleute, die Karawanenführer, die Stallknechte und die Oasenbewohner, aber Takait hat Sie als einziger in Schutz genommen.“
„Was heißt hier in Schutz genommen?“, entfuhr es Peter. Die Sache wurde immer dubiose, „Was um Gottes Willen vermuten die anderen, was wir mit der Mumie vorhaben?“
Der Kaufmann strich sich bedächtig durch den Bart.
„Einige sagen, Sie wollen Lösegeld von den Nachfahren der Verstorbenen fordern. Andere meinen, Sie hätten vor, mittels heidnischer Magie die Mumie wieder zum Leben zu erwecken. Bei einem Giaur kann man nie wissen …“
„Einem was?“, unterbrach Peter, der gar nicht fassen konnte, was er soeben erfahren hatte.
„Einem Ungläubigen!“
Peter schloss die Augen und zählte innerlich bis drei, um nicht laut loszulachen. Wenn das die Mutter gehört hätte!
„Und was hat Takait gesagt?“, entfuhr es ihm dann bang, obwohl er nicht sicher war, ob er die Antwort wirklich hören wollte.
„Die Theorie Takaits war die seltsamste von allem. E r “, der Kaufmann sprach das Wort sehr gedehnt aus, „hat gesagt, sie hätten vor, die Mumie in ihr Grab zurückzubringen. Ich habe es ihm geglaubt, denn so etwas Verrücktes erfindet niemand. Das muss wohl die Wahrheit sein.“
„Wo Sie so auffallend gut informiert sind“, begann Peter vorsichtig, das anzügliche Grinsen des Kaufmanns ignorierend, „wissen Sie vielleicht zufällig auch, woher unsere Mumie stammen könnte, wenn nicht von hier? Man hat uns nämlich gesagt, sie wäre auf dieser Oase gefunden worden.“
Der Mann blickte ihn leicht gelangweilt an, immer noch mit den Holzperlen herumspielend und Peter vermutete, dass er auf das nächste Bakschisch wartete.
„Von den drei Oasen der Sobek-Gruppe besitzt nur eine einzige alte Grabanlagen, nämlich die dritte“, erklärte er, nachdem eine weitere Silbermünze ihren Besitzer gewechselt hatte. Die meisten Finger der Hand, die nach dem Geld gegriffen hatten, waren mit Juwelenringen bedeckt.
Kein Wunder, bei den üppigen Einnahmen, dachte Peter, der wider seinen Willen von dem Kaufmann beeindruckt war. Aber konnte er dem ihm vertrauen oder gehörte er zu der Bande von Grabräubern und Meuchelmördern, die er im Labyrinth bei ihrem schändlichen Treiben beobachtet hatte?
„Mich hat gewundert, dass zwei Kaufleute fehlen“, begann er vorsichtig, „was ist mit ihnen geschehen?“
„Ja, das ist auch mir nicht entgangen“, erwiderte der Ägypter nachdenklich, „aber ich weiß leider nicht, was dahinter steckt. Sie haben sich erstmals unserem Zug angeschlossen. Auch die Karawanenführer waren neu im Geschäft. Alle anderen Teilnehmer kannte ich.“ Peter blickte ratlos auf den Boden, denn im Grunde genommen half ihm diese Antwort auch nicht weiter, da er nicht beurteilen konnte, ob der Kaufmann log. „Angeblich haben die Beduinen überall nach ihnen gesucht, aber sonst hat sie niemand vermisst.“
Dieser Kommentar gab den Ausschlag. Peter beschloss spontan, dass er wohl keinen vertrauenswürdigen Führer unter all den Schmugglern finden würde, als diesen raffgierigen Kaufmann, der wenigstens nicht wie ein Mörder aussah.
„Ich würde gern so bald wie möglich zur dritten Oase aufbrechen“, erklärte er daher, „Ich vermute, Sie können das für mich organisieren?“
„Mir Vergnügen, junger Effendi“, erwiderte der Kaufmann zufrieden, „aber Sie sprechen nur von sich selbst. Was ist mit Ihrem verehrten Bruder? Gedenken Sie ihn hier, auf der zweiten Oase zurücklassen?“
Dies war sicherlich nur ein schlechter Scherz, aber Peter verspürte für einen Augenblick die Versuchung, genau dies zu tun. Dann erschrak er über sich selbst.
„Selbstverständlich, kommt auch mein Bruder mit. Wir brauchen also drei Kamele, zwei für uns und eins für das Gepäck. Vielleicht können Sie unsere bisherigen Reittiere von den Beduinen leihen? Schließlich reisen wir auf dem Karawanenpfad und werden uns daher wahrscheinlich in der nächsten Oase wieder der restlichen Karawane anschließen.“
Peter musste dreimal schlucken, als der Kaufmann die Summe nannte, die er als Gegenwert für seine Dienste für angemessen hielt.
„Sie schämen sich wohl gar nicht, uns so auszunehmen?“, fragte er ihn dann empört, „die Strecke ist doch angeblich ganz kurz und außerdem haben wir doch gewissermaßen bereits dafür bezahlte!“
„Die Entscheidung liegt selbstverständlich bei Ihnen, Sie können auch gern eine Woche lang warten, bis wir Kaufleute unsere Geschäfte getätigt haben. Aber wer weiß, wer ihre Wüstenblume bis dahin gepflückt hat.“ Â
„Wie nennt sich eigentlich ihr eigenes Geschäft? Erpressung?“
Dies war Peter nur so herausgerutscht, aber er bereute seine Worte nicht.
„Organisation. Der Engländer würde sagen Management.“
Peter kommentierte diese unverschämte Bemerkung nicht, sondern er unternahm einen halbherzigen Versuch zu feilschen, auf den der Kaufmann mit sichtlichem Vergnügen einging. Schließlich einigten sie sich auf einen Betrag, der deutlich unter der zuerst genannten Summe lag.
„Woher können Sie eigentlich so gut Englisch?“, fragte Peter, der sich eingestehen musste, dass der Kaufmann ihm darin haushoch überlegen war.
„Ich habe in Oxford studiert!“
Peter fragte sich, ob es dort einen Master-Studiengang in Schmuggel und Erpressung gab und noch immer verübelter er seinem Gegenüber seine Heimlichtuerei.
„Und warum haben Sie nie zuerkennen gegeben, dass Sie Englisch sprechen?“
„Sie haben mich nicht danach gefragt!“, stellte der Kaufmann mit einem undefinierbaren Lächeln fest und Peter fühlte wahre Mordgelüste in sich aufsteigen. Nur gut, dass sie untereinander Deutsch gesprochen hatte.
„Wann können wir aufbrechen?“, fragte er dann, denn es gab wohl nichts mehr zu besprechen.
„Ich werde sehen, was ich machen kann, junger Effendi! Um zwölf Uhr vor der Karawanserei erwarte ich Sie“, erklärte der Kaufmann und verbeugte sich erstaunlich tief für einen Mann so gut gekleideten Herrn.
Woher weiß der das?, durchfuhr es Peter oder konnte es ein Zufall sein, dass der Kaufmann ihm diesen Treffpunkt vorgeschlagen hatte?
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie sich noch nicht einmal vorgestellt hatten.
„Ich heiße übrigens Peter Berggruen“, erklärte er, sich aus Gewohnheit mit dem Finger dahin tippen, wo sich normalerweise seine Hutkrempe befände, „und wie lautet Ihr werter Name?“
Mein Gott, jetzt spreche ich schon so blumig wie er, dachte Peter im gleichen Augenblick.
„Nennt mich Saladin“, erwiderte der Kaufmann, aber Peter war davon überzeugt, dass dieser genauso wenig Saladin hieß wie er selbst Barbarossa.
Mit einer landestypischen Grußgebärde verließ ihn Saladin recht unvermittelt und Peter stand noch einige Minuten lang wie vor dem Kopf geschlagen vor dem Tempel, denn er kam sich vor wie ein kompletter Idiot. Was hatte er eben erfahren müssen? Alle wussten, dass sie eine Mumie mit sich herumschleppten! Und unterwegs hatten sie die abwegigsten Theorien entwickelten, was sie damit bezweckten. Der Gipfel war, dass ihn die Kaufleute offenbar für eine Art Frankenstein hielten, der Tote zum Leben zu erwecken suchte. All das war so hanebüchen, dass es schon wieder komisch war.
Als Peter sich wieder etwas beruhigt hatte, beschloss er, Johann zu suchen, der bestimmt noch immer von Haus zu Haus irrte, auf der vergeblichen Suche nach Takait. Schwer konnte nicht sein den Bruder aufzuspüren, da es auf der Oase – außer dem Tempel und der Karawanserei - nur wenige Bruchbuden und Gassen gab.
Nachdem er vergeblich jede einzelte dieser Gassen abgeschritten hatte, fand er Johann schließlich in einer Plantage unter einer Palme auf dem Boden sitzen. Auf seiner Stirn stand Schweiß und er machte einen so erschöpften Eindruck, dass Peter der Vorwurf im Halse stecken blieb, der ihm schon auf der Zunge lag. Zikaden zirpten im spärlichen Gras, sonst war kein Geräusch zu hören.
„Wie ist es gelaufen“, fragte Johann als er den Bruder sah, „sind wir endlich die Mumie los?“
Peter ließ sich neben dem Bruder auf den Boden sinken und berichtete, was er erfahren hatte, aber er schwieg sich über seine Informationsquelle aus. Sonst würde ihm Johann wieder vorwerfen, dass er zu vertrauensselig sei.
„Vielleicht holen wir Takait ja tatsächlich ein“, meinte Johann als Peter geendet hatte, „ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben.“Â
Es gab aber noch etwas, das Peter nicht verstand.
„Wieso gibt es angeblich keine alten Gräber auf der zweiten Oase?“, sagte er eher zu sich selbst, „Laut Priester Menas steht in Vaters Aufzeichnungen, dass er die Mumie hier gefunden hat.“ Â
„Das muss nichts bedeuten“, erwiderte der Bruder ohne Nachzudenken, „der Priester hat sich bitterlich über Vaters schlechtes Koptisch und seine unlesbare Handschrift beschwert. Entweder hat er den Text falsch entziffert oder Vater hat bei der Ãœbersetzung einen Fehler gemacht.“ Johann machte eine Pause. Dann sah er den Bruder bedeutsam an. „Aber du hast mich gar nicht gefragt, wie es mir sonst so ergangen ist. Ich muss dir etwas ganz Wichtiges erzählen.“
„Du weißt wo Takait steckt?“, fragte Peter und sein Herz setzte einen Augenblick lang aus. Dann sah er einen Schatten über das Gesicht des Bruders huschen und er wusste, dass es etwas anderes war und Peter fühlte eine grenzenlose Enttäuschung in sich aufsteigen.
„Nein es viel wichtiger“, antwortete der Bruder, aber sein Enthusiasmus war etwas verflogen, „ich habe vorhin zufällig einen der Kaufleute getroffen …“
„War er orientalisch gekleidet und hat dich mit junger Effendi angeredet?“, unterbrach Peter.Â
Johann nickte.
„Und er nannte sich Saladin?“
„Woher weißt du das?“
„Es war kein Zufall, dass du ihn getroffen hast, aber spann mich nicht auf die Folter, was hat er zu dir gesagt?“
Der Bruder sah ihn bedeutungsvoll an und Peter befürchtete, dass der schlitzohrige Kaufmann Johann die gleichen Informationen für teures Geld verkauft hatte wie ihm selbst.
„Er hat mir erzählt, dass er früher oft auf der dritten Oase einen älteren Effendi gesehen hat, der mir ähnlich sieht.“
Peter war es in diesem Augenblick völlig gleichgültig, wie viel Johann für diese Information bezahlt hatte, Hauptsache sie entpuppte sich nicht als Irrtum oder als Lüge.
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16. Die Beduinen
Takait erschrak, als sie hinter sich Schritte hörte. Sie schaute sich um, aber sie sah nur einen betrunkenen Bauer, der in Richtung Gastwirtschaft torkelte. Er konnte lästig werden, aber er war nicht gefährlich. Die Dämmerung kündigte sich bereits an. Dies war kein guter Zeitpunkt für eine Frau, um allein einen derartig verrufenen Ort zu besuchen, aber wo sollte Takait sonst hingehen, nun, da sie sich endlich auf diese winzige Oase gerettet hatte? Je früher sie von hier wieder wegkam desto besser, aber vorher musste sie etwas trinken, denn sonst verdurstete sie!
Seit sie Hals über Kopf aus der Karawanserei geflüchtet war, hatte Takait keine ruhige Minute mehr gehabt. Noch immer graute es ihr bei der Vorstellung, die Göttin Hathor könnte sie zur Rechenschaft ziehen. Takait bereute es bitterlich, den Fremden beim Diebstahl des Oasenkrokus geholfen zu haben. Die schlechte Behandlung seitens der obersten Hathore des Tempels hatte ihr nicht das Recht gegeben, dieses Sakrileg zu begehen.
Fast zärtlich betastete Takait ihre Tasche aus Palmstroh, in der sie ihre Habseligkeiten verstaut hatte. Wenigstens befand sich die wertvolle Zwiebel nun in ihrem Besitz. Die Fremden konnten sie nicht mehr außer Landes bringen.Â
Takait hoffte inständig, dass diese möglichst lange auf der zweiten Oase festsaßen, denn an diesem Tag war alles schief gegangen. Zuerst hatte sie einen schmerzhaften Wadenkrampf bekommen und als sie abgesessen war, um sich etwas die Füße zu vertreten, war ihr Kamel weggelaufen. Es war einfach in Richtung zweite Oase weggerannt, und Takait musste den Rest der Strecke zu Fuß zurücklegen. So war ihr Vorsprung dahingeschrumpft.
Takait zählte an den Fingern ab, wer sie mittlerweile verfolgte: Ihr Stiefvater, die beiden Brüder, die Priester des Hathor-Tempels – sofern sie den Diebstahl des Oasenkrokus bemerkt haben sollten - und, wenn sie Pech hatte sogar Hathor persönlich. Als sie an Peter dachte, schämte sich Takait ein wenig, denn er hatte sie immer sehr höflich behandelt Wenn nur sein misstrauischer Bruder nicht wäre! Takait stieß einen tief empfundenen Seufzer aus. Wenn sie die Vergangenheit hätte ungeschehen machen können, dann würde sie…, aber sie konnte dies nicht! Takait zwang sich, an die Zukunft zu denken, zumal sie fast das schäbige Gebäude erreicht hatte, in dem sie endlich Hilfe zu finden hoffte.
Sosehr es ihr widerstrebte, musste sie doch hier einkehren, denn ihre Füße brannten vom Marsch durch die Wüste, ihr flimmerte es vor den Augen und vor allem hatte sie seit Stunden nichts getrunken, denn ihren Wasserschlauch hatte das entflohene Dromedar mit sich davongetragen. Sie hoffte, dass der Wirt auch Wasser ausschenkte und mit etwas Glück würde sie einen Bewohner der dritten Oase treffen, der sie gegen Bezahlung auf seinem Kamel reiten ließ.
Takait schaute an sich herab. Ihr Gewand saß tadellos. Es war das einfache, weiße Gewand, mit dem sie von zu Hause ausgerissen war, denn es erschien ihr für den Anlass angemessen. Sie hatte kurz vor der kleinen Oase ohne Namen den Beduinenumhang abgelegt und die Zeremonialgewänder, die man ihr im Tempel gegeben hatte, lagen sorgfältig zusammengelegt in ihrem Bündel. Trotzdem sah bestimmt jeder, wie müde und abgekämpft sie war.
Laute Stimmen drangen durch die geöffneten Fenster der Schenke, deren Besitzer die Anlaufstelle für Schmuggler und Diebe war. Takait zupfte ihre Perücke so zurecht, dass diese ihre abstehenden Ohren bedeckte. Seit frühester Kindheit hasste sie diesen Schönheitsfehler, über den sich die anderen Kindern der dritten Oase mit vorliebe lustig gemacht hatten. Peter hatte keine Vorstellung davon, was für eine Zumutung es für sie gewesen war, während der Reise auf ihre Perücke zu verzichten!Â
Mit einiger Überwindung öffnete Takait die Tür, denn sie war zwar auf der Nachbaroase aufgewachsen, doch niemals zuvor hatte sie am Abend einen Fuß über die Schwelle dieses verrufenen Lokals gesetzt, wo sich der Abschaum zweier Oasen traf. Geschäfte, deren sich selbst die übelsten Halsabschneider zu Hause schämten, wurden hier abgewickelt und außerdem gab es in dieser Spelunke mehr Prostituierte als in allen drei Sobek-Oasen zusammen. Hoffentlich verschlug es Peter und Johann nicht zufällig hierher! Takait würde sich ihrer Heimat schämen.
Im Schankraum ging es erwartungsgemäß hoch her. Zu dieser fortgeschrittenen Stunde hatten die Gäste – die meisten von ihnen waren aus der dritten Oase hierher geritten - schon reichlich dem Starkbier und dem roten Wein zugesprochen. Beim Anblick der Betrunkenen wünschte Takait sich erstmals, sie wäre in Alexandria geblieben, wo der Konsum von Alkohol verpönt war. Dabei wäre das Lokal mit einer kultivierteren Kundschaft durchaus gemütlich gewesen: Entlang der Wände liefen Sitzbänke aus Palmenholz, vor denen elegant gedrechselte Tische und Stühle mit geflochtener Sitzfläche standen. In vier Fuß Höhe waren farbenfrohe Nillandschaften auf den weißen Putz gemalt. Die Deckenbemalung hingegen erzeugt täuschend echt den Eindruck einer Laube und von deren Mitte hing ein Straußenei herab.
Ein Rebab-Spieler zupfte sein Instrument, in der Ecke sangen einige junge Männer, offensichtlich jeder ein anderes Lied und selbst der Wirt hatte glasige Augen.
„Endlich lässt du dich mal wieder blicken!“, rief er ihr durch den Raum entgegen. „Dein Stiefvater hat schon mehrmals hier vorbeigeschaut, um nachzufragen, ob ich weiß wo du steckst und heute hat sich auch noch ein Gast nach dir erkundigt.“
Peter! Oder vielleicht Johann?“ durchfuhr es Takait und sie glaubte einen Augenblick lang, sie würde in Ohnmacht fallen. Dann begann sie trotz der sommerlichen Hitze am ganzen Körper zu zittern.
„Ein Fremder?“, fragte sie und versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Wie konnte es sein, dass die Brüder sie überholt hatten? Sie hatte unterwegs nur zwei Beduinen gesehen, die mit so großer Geschwindigkeit an ihr vorbei geritten waren, dass Takait sie noch nicht einmal um Hilfe bitten konnte.
„Wo denkst du hin?“ Der Wirt lachte und enthüllte dabei eine hässliche Zahnlücke, die er sich wohl bei einer Schlägerei zugezogen hatte. „Er ist ein sehr guter Freund von mir.“
Der Wirt winkte einem Mann zu, der Takait bisher den Rücken zugewandt hatte. Dieser drehte sich um und Takait erkannte ihn augenblicklich, obwohl er sich die Kapuze tief in das Gesicht gezogen hatte. Es war der ältere der beiden finsteren Karawanenführer, denen sie immer aus dem Weg gegangen war, wo es nur ging. Was um Isis Willen machte er jetzt hier? Hatte sich das Verschwinden der Oasenkrokus-Zwiebel herumgesprochen? Unwahrscheinlich, denn Peter und Johann konnten sich ohne ihre Hilfe nicht bei den Einheimischen beschweren. Takait konnte nur hoffen, dass der Beduine sie in Frauenkleidern nicht erkannte hatte, aber wieso hatte er sich dann nach ihr erkundigt? Hatte er den Namen Takait genannt oder nach der Frau gefragt, die für den Sphinx getanzt hatte?
Der Nomade musterte Takait mit wachen, intelligenten Augen.
„Dein Tanz war eindrucksvoll. Du solltest dein Talent nicht als Priesterin verschwenden, sondern im Tempel tanzen.“ Er lächelte verschlagen. „Wenn ich mich richtig erinnere, besteht der Gottesdienst im Tempel der dritten Oase vorwiegend darin, dass Priesterinnen vor dem Bildnis der Neith tanzen?“
Takaits war einen Augenblick lang perplex. Wieso erwähnte der Nomade die Göttin Neith? Und was wollte er mit dem Hinweis auf den Tanz sagen? Was wusste dieser grauenhafte Mensch? Takait zwang sich, bedächtig zu reagieren, denn vielleicht wusste er gar nichts. Was er gesagt hatte, war eine allgemein bekannte Tatsache. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass die Tänzerin, die er gesehen hatte mit dem Jungen identisch war, der die Fremden als Diener begleitet hatte. Vielleicht sollte sie sich über die vertrauliche Anrede beschweren? Nein, es war wohl besser, keinen Streit anzufangen.
„Ja, so ist es. Vielleicht werde ich irgendwann wieder tanzen, aber momentan habe ich etwas anderes vor. Es ist mein sehnlichster Wunsch, eine Priesterin zu werden“, sagte sie daher so beiläufig wie möglich, „aber momentan brauche ich etwas zu trinken, denn sonst verdurste ich.“
Takait legte zur Motivierung des Wirtes eine Münze auf den Tisch, den dieser mit professioneller Behändigkeit einsäckelte.
„Wasser bitte“, fügte Takait hinzu, da sie befürchtete anderenfalls Starkbier vorgesetzt zu bekommen, „wenn es geht einen ganzen Schlauch.“
„Wenn du wirklich willst“, meinte der Wirt mit einem dreckigen Grinsen und holte das Gewünschte von unter der Theke hervor.
Takait setzte den Schlauch an die Lippen und schluckte das Wasser gierig herunter bis ihr der Magen schmerzte. Als sie den Wasserschlauch wieder absetzte, packte der Nomade sie unvermittelt am Arm.
„Was soll denn das?“ rief Takait aus und versuchte vergeblich die Hand des Beduinen abzuschütteln.
Die anderen Gäste lachten. Jemand machte eine frauenfeindliche Bemerkung. Takait versuchte immer noch sich zu befreien, aber, obwohl sie recht kräftig war, musste sie feststellen, dass der Beduine ihr körperlich haushoch überlegen war.
„Wo ist das Kamel, den du mir gestohlen hast?“
Einen Augenblick lang war Takait verblüfft. Das Dromedar hatte sie völlig vergessen. War es möglich, dass der Nomade sie trotz ihrer Verkleidung erkannt hatte?
„Welches Kamel?“, stotterte sie. „Ich weiß gar nicht, wovon du redest?“
Sie schlug die Augen auf und versuchte einen unschuldigen Eindruck zu erwecken.
„Tu nicht so scheinheilig! Du hast du dich in aller Frühe aus der Karawanserei davongestohlen, aber einer der Stallknechte hat dich fliehen sehen, und zwar mit einem meiner Kamele!“
Takait blickte hilfesuchend den Wirt an, aber dieser schaute ungerührt zu, als der Nomade sie auf die Gasse schleifte. Das Grölen der Betrunkenen und weitere hämische Bemerkungen der Gäste folgten Takait und ihrem Entführer. Dann schlug die Tür hinter ihr zu und sie stand auf der sandigen Freifläche zwischen den wenigen Häusern.Â
„Hast du wirklich gedacht, dass du mir entwischen kannst? Hierher zu flüchten war eine ziemlich einfältige Idee!“
Dies fand Takait mittlerweile auch, denn als sie vor den Brüdern geflohen war, hatte sie keinen Gedanken an Karawanenführer und das Dromedar verschwendet, das sie ausgeliehen hatte.
Der Nomade musterte Takait von Kopf bis Fuß. In seinem sonnengegerbten Gesicht mischten sich Ärger und Belustigung. Takait, die ihn erstmals bewusst ansah stellt fest, dass er sicherlich in seiner Jungend ein gutaussehender Mann gewesen war, aber diese lag mittlerweile mindestens zwanzig Jahre zurück, in denen die Sonne tiefe Furchen in seine Haut gegraben hatte.
Takait unternahm, einen letzten Versuch, sich dumm zu stellen.
„Da muss eine Verwechslung vorliegen. Ich habe kein Kamel gestohlen.“
„Zu Fuß hättest du kaum so schnell hierhergelangen können.“
„Schau dich doch um!“, erklärte Takait mit einer weit ausholenden Gebärde. „Hier ist weit und breit kein Kamel zu sehen.“
„Weil ich meine Tiere gelehrt habe, zur Herde zurückzukehren, aber ich nehme den Versuch für die Tat.“Â
Ein drohender Unterton lag in der Stimme des Mannes. Takait spürte Panik in sich aufsteigen.
„Wenn du mir etwas tust, bekommst du Ärger mit den beiden Fremden!“Â
Das Gesicht des Nomaden verzog sich zu einem hämischen Grinsen.
„Mit dem Dunkelhaarige vielleicht. Der Rothaarige wird keinen Finger rühren, so feindselig, wie er dich unterwegs die ganze Zeit angestarrt hat, aber eigentlich wirken sie beide nicht besonders gefährlich!“ Der Beduine ließ Takait weiterhin keinen Moment aus den Augen. Es waren kalte, harte Augen. „Aber ich habe gar nicht vor, mich an dir zu vergreifen. Dazu bist du viel zu wertvoll. Du wirst im Neith-Tempel der dritten Oase für uns spionieren!“
Diese Wendung hatte Takait nicht vorhergesehen. Sie frage sich noch, wer die zweite Hälfte des „uns“ sein mochte, als sie den zweiten, jüngeren Karawaneführer sah. Dann realisierte sie die volle Tragweite der Worte und ein Schauer lief ihr über den ganzen Leib.
„Ihr gehört zu den Grabräubern!“
Beide Männer grinsten.
„Was meinst du, wie die Kaufleute ihre Beute ohne unsere Hilfe hätten wegtransportieren sollen?“
Taikait starrte den älteren Beduinen entsetzt an. Der andere hielt sich weiterhin im Hintergrund, was Takait bedauerte, denn er wirkte weniger gefährlich, was aber vielleicht nur daran lag, dass sein Gesicht noch nicht von tiefen Furchen durchgraben war. Unterwegs hatte sich Takait mehrfach von ihm beobachtet gefühlt, aber jedes Mal wenn sie ihn zur Rede stellen wollte, hatte er in eine andere Richtung geschaut und sie hatte beschlossen, dass sie sich geirrt haben musste.
„Jetzt spiel nicht auch noch die Unschuldige!“, erklärte der ältere Beduine im Tonfall eines Richters, der im Begriff ist, einen Verbrecher zum Tod zu verurteilen, „Du hast alle betrogen: die Kaufleute, die Priester des Hathor-Tempels und sogar die beiden Fremden, deren Dolmetscherin du angeblich warst.“
Takait erschauerte innerlich. Es war, als ob ihre innere Stimme, ihr eigenes schlechtes Gewissen zu ihr spräche.
„Aber man hat mich dazu gezwungen, den Räubern zu helfen!“, beteuerte sie, „einer der beiden Grabräuber hat mich wieder erkannt und er hat mir damit gedroht, mich meinem Stiefvater auszuliefern, wenn ich nicht für ihn spioniere!“
Takait fragte sich, warum sie sich eigentlich vor diesen schlechten Menschen entschuldigte. Sie kam sich vor wie in einem Alptraum, aber so sehr sie sich dies auch wünschte, sie erwachte nicht daraus.Â
„Und ich zeige dich beim Dorfschulzen wegen Diebstahls an, wenn du nicht für uns arbeitest.“
Takait schwirrte der Kopf. Sie hatte sich geschworen, nie wieder Räubern zuzuarbeiten, auch wenn man sie ihrer Familie deshalb auslieferte. Trotzdem war es sicher unklug, den Beduinen zu widersprechen. Wer weiß, wozu sie dann alles fähig waren. Vor ihrem inneren Auge sah Takait ganz plötzlich einstürzende Bauten. Ob sie vielleicht gar die Schuld daran trug, dass der Sphinx zum Leben erwacht war?
„Habt Ihr denn gar nichts aus den Geschehnissen auf der ersten Oase gelernt? Habt ihr keine Angst vor dem Zorn der Götter?“, entfuhr es ihr daher.
Der Nomaden wirkte so, als ob er sich nicht im Geringsten fürchtete.
„Ein Erdbeben hat die Grabkammer zum Einsturz gebracht. Das war Pech für die Grabräuber, aber eure Götzen hatten damit nichts zu tun.“
„Und der Sphinx?“
Der Nomade zuckte mit den Schultern.
„Wurde ebenfalls vom Erdbeben zerstört.“
Die Augen des älteren Nomaden verengten sich zu Schlitzen. Takait bekam eine Gänsehaut, als er sie misstrauisch anstarrte.
„Was ich mich schon unterwegs gefragt habe: Was hatten die beiden Fremden eigentlich auf der ersten Oase zu suchen? Sie haben - außer der Mumie, die sie bestimmt nicht in Ägypten verkaufen wollten - keine Waren mit sich geführt. Und trotzdem haben sie klaglos das Doppelte des üblichen Preises gezahlt.“Â
„Das haben sie mir nicht gesagt“, log Takait, „aber es hat mich auch nicht weiter interessiert. Alles, was für mich zählte war, dass sie für meine Passage aufgekommen sind.“
Ein weiterer finsterer Blick war die Antwort.
„Aber du sprichst doch ihre Sprache. Hast du unterwegs nicht mitbekommen, worüber sie geredet haben?“
„Sie haben sehr wenig geredet, denn die Hitze ist ihnen nicht bekommen und wenn sie gesprochen haben, dann meist über ihren Vater, der irgendwo in Ägypten verschollen ist.“
Takait hoffte inständig, dass der Nomade nicht doch irgendwann das Wort Oasenkrokus aufgeschnappt hatte, zumal sein Gesichtsausdruck keinen Zweifel daran ließ, dass er ihr nicht glaubte. Dann fiel ihr zu ihrer Erleichterung ein, dass sie mit den Brüdern stets Deutsch gesprochen hatte.
„Meinst du, du kannst mich für dumm verkaufen? Sie haben in der unterirdischen Grabanlage des Labyrinths herumgeschnüffelt und sie werden wohl kaum dort unten nach ihrem Vater gesucht haben.“
„Das sind genau die Dinge, mit denen ich nichts zu tun haben will!“, behauptete Takait, „sie haben mich dafür bezahlt, dass ich für sie übersetzt habe. Alles andere wollte ich lieber gar nicht wissen.“
Die beiden Nomaden sahen sich wortlos an.
„Hast du Ihnen gesagt, wo sich die Schätze befinden?“
Takait schüttelte matt den Kopf. Die Sache wurde immer absurder.
„Aber den Kaufleuten hast du es gesagt!“
„Nein, woher um Isis Willen hätte ich das wissen sollen?“, fragte sie völlig wahrheitsgemäß, „nur der Priester, der mit den Räubern verschüttet worden ist kannte die Anlage. Meine Aufgabe war herauszufinden, wer für die Verwaltung der Grabanlage zuständig ist.“
„Haben die beiden Fremden auch mit diesem Priester gesprochen?“
„Sie sprechen nicht die Sprache unseres Landes!“Â
Die beiden Nomaden steckten die Köpfe zusammen und besprachen sich.
„Wir haben genug Zeit mit Reden verschwendet“, erklärte der Ältere dann, „höchste Zeit zur dritten Oase aufzubrechen.“
„Aber ihr könnt doch die Karawane nicht im Stich lassen!“, protestierte Takait, die wieder an die Brüder denken musste.
„Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun“, erklärte der ältere Beduine, während der jüngere sie festhielt, damit sein Spießgeselle ihr die Hände auf dem Rücken festbinden konnte, „aber, wenn es dich beruhigt: Ich werde einen meiner Verwandten auf die zweite Oase schicken, damit er sich etwas Geld verdienen kann.
„Aber bald ist es dunkel!“, wandte Takait ein, in der Hoffnung, die Beduinen noch etwas hinzuhalten zu können. Vielleicht hatte sie Glück und jemand suchte sie hier und wenn es nur ihr Stiefvater war, der sie unbedingt mit seinem Geschäftspartner verheiraten wollte.
„Wir werden draußen übernachten.“
Die Stimme des Beduinen duldete keinen Widerspruch. Sie schleiften die sich verzweifelt nach Hilfe umschauende Takait zu ihren Kamelen und machten sich auf den Weg.
*
Als am nächsten Morgen sich die Dämmerung ankündigte, betete Takait zu allen Göttern Ägyptens, dass die Oasenkrokus-Zwiebel nicht vertrocknet war, aber sie konnte dies nicht überprüfen, da die beiden Nomaden nie zu schlafen schienen. Sie hielten angeblich abwechselnd Wache, aber Takait hätte nicht zu sagen vermocht wer von ihnen wachte und wer in einem leichten Halbschlaf vor sich hindämmerte. Â
Noch immer fühlte Takait die Kälte der Nacht in ihren Knochen, doch am Horizont graute bereits der Morgen. Die ganze Zeit hatte Takait an die Brüder gedacht, die sie die Zwiebel hatte ausgraben lassen um sie ihnen dann wieder zu stehlen.
Dann brachen die drei Reisenden wieder auf. Das Gehen war für Takait mühsam geworden in den zwei Tagen, in denen sie nun schon unterwegs waren, und je länger Takait ging, desto anstrengender wurde es. Man ließ sie laufen, während die beiden Männer auf ihren Kamelen ritten. Sie hatten gesagt, dies sollte ihr eine Lehre sein, nie wieder ein Kamel zu stehlen. Zuerst war Takait wütend gewesen, aber mittlerweile setzte sie nur noch apathisch einen Fuß vor den anderen.
Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Flug eines Vogels. Warum konnte er sie nicht auf seinen Schwingen davontragen? Ganz plötzlich sah Takait schwarze Flecken, die ihr vor den Augen tanzten. Sie schloss die Lider und legte schützend eine Hand darüber. Trotzdem flackerten weiterhin purpurrote Punkte vor ihren geschlossenen Augen. Alles drehe sich um sie. In ihren Ohren rauschte es. Dann umfing sie die Dunkelheit.
„Steh auf!“, hörte sie eine männliche Stimme aus der Ferne sagen und Takait fühlte sich, wie in Watte verpackt.
Trotzt der rüden Worte war der Ton der Stimme nicht unfreundlich. Ganz langsam hob Takait, die noch völlig benommen war, die Lider. Sie sah dem jüngeren der beiden Beduinen ins Gesicht und schlagartig war sie wieder wach, aber am liebsten hätte sie die Augen gleich wieder geschlossen. Vielleicht ließ man sie dann schlafen. Takait hatte nur noch einen Wunsch, sie wollte ruhen. Â
Lange schwarze Strähnen hingen dem Beduinen ins sonnenverbrannte Gesicht. In seinem Gürtel steckte ein langes Messer, das er jederzeit gegen Takait einsetzen konnte und auf seinem Rücken baumelte sein Geweht. Wortlos half der Mann ihr auf die Beine. Dann ließ er sie auf seinem Kamel aufsitzen. Er warf dem anderen Nomaden einen beschwichtigenden Blick zu.
Takait zwang sich zu einem dankbaren Lächeln und nahm die Zügel in die Hand. Noch immer ganz benommen, griff sie in ihren Umhang. Ihre Finger suchten ein kleines Gefäß, in dem sich eine belebende Essenz befand, aber sie vermisste plötzlich ihre Tasche und schlagartig war sie wieder hellwach.
„Wo ist meine Tasche?“, rief sie den Männern zu, bestrebt ihre Stimme nicht schrill werden zu lassen.
Der unfreundliche Nomade warf ihr die aus Palmblättern geflochtene Tasche zu. Fast wäre sie zu Boden gefallen, aber Takait bekam im letzen Augenblick einen Riemen zu fassen. Sie öffnete die Lasche und schaute hinein. Die Tasche war leer! Ein eisiger Schauer durchfuhr Takait. Man hatte ihr nicht nur ihre Kleider weggenommen, die zusammengefaltet in der Tasche lagen, sondern auch die Oasenkrokus-Zwiebel. Â
„Eine kleine Anzahlung für das Kamel, den du uns gestohlen hast“, sagte der jüngere Nomade fast entschuldigend.
„Aber das Kamel ist doch zurückgelaufen!“
„Strafe muss sein“, erwiderte der ältere Nomade.
Takait öffnete ihren Mund, um nach dem Oasenkrokus zu fragen, aber sie besann sich im letzen Augenblick eines Besseren. Die Nomaden durften nicht erfahren, wie wertvoll die Blume war. Also durfte sich Takait nicht wegen einer unscheinbaren Zwiebel aufregen.
„Was willst du mit meinen Zeremonialgewändern anfangen?“, fragte sie daher mit mühsam unterdrücktem Zorn.
„Verkaufen, wenn du es nicht bei der Arbeit im Tempel tragen willst.“
„Das ist Diebstahl!“
Takait kam sich im gleichen Augenblick unsäglich albern vor. Sie ahnte die Antwort, bevor sie ausgesprochen wurde.
„Und was war mit dem Kamel?“, Der jüngere Nomade hatte gesprochen. „Ich heiße übrigens Abdul und wenn du etwas nett zu mir bist, gebe ich dir deine Kleider zurück.“
Plötzlich realisierte Takait, dass die Nomaden ihr noch etwas sehr Wertvolles weggenommen hatten.
„Gebt mir meine Statuette des Gottes Amun zurück!“, rief sie aus. „Sie ist meine persönliche Beschützerin!“
„Das ist nicht zuviel verlangt“, erwiderte Abdul und ließ dabei seinen Blick in einer Art und Weise über Takait gleiten, dass es ihr peinlich war, dass er ihren Tanz beobachtet hatte. „Die Statuette ist aus Terrakotta. Sie hat nur einen geringen materiellen Wert.“Â
„Aber sie ist ein Götzenbild!“
„Takait soll für uns tanzen. Also darfst du dich nicht an ihrem Glauben stören.“
Mit einem verächtlichen Blick warf der ältere Beduine ihr die Statuette zu und Takait beschloss, alles auf eine Karte zu setzen.
„In meiner Tasche befand sich auch eine Zwiebel. Wenn ich sie bei mir trage, hilft sie gegen die Dämonen der Nacht.“
„Was ist das schon wieder für ein gottloses Geschwätz?“
„So sind sie eben die Giaur“, erklärte Abdul mit einem mitleidigen Lächeln. Ich hatte einmal einen Engländer in meiner Karawane, der mir von Fledermäusen in der Familiengruft erzählt hat, die er mit Zwiebeln vertreibt.“
Mit einem verächtlichen Schnauben kramte der Beduine die Zwiebel aus seiner Tasche und warf sie vor Takait in den Sand.
„Jetzt ist aber Schluss! Meine Geduld ist endgültig erschöpft!“
Nach diesem, von einem zornigen Blick begleiteten Machtwort des unfreundlichen Nomaden herrschte eine Zeitlang Schweigen. Takait wich seinem Blick aus. Seine stechenden Augen ängstigten sie mehr als alle Dämonen der Nacht oder der Wüste. Sie waren kalt, ohne eine Spur von Gefühl. Takait wünschte sich mittlerweile nichts sehnlicher als ein ruhiges Fleckchen, in das sie sich zurückziehen konnte, und sei es der kleinste Tempel eines unbedeutenden Gottes.
Takait dachte an den Sphinx, den sie mit ihrem Tanz besiegt hatte und sie ärgerte sich über ihre eigene Verzagtheit. War sie denn nicht sie eine Tänzerin des Amun? Sie sollte sich zu helfen wissen, aber sie wusste momentan beim besten Willen nicht, wie.
17. Die Schankwirtschaft
Johann erkannte das Kamel, das der Mann, den sie Saladin nennen sollten ihm lieh auf den ersten Blick wieder: Es war dasselbe Tier, das schon vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an hochmütig über ihn weggesehen hatte und obwohl er es am Hals tätschelte, ließ es sich nicht herab ihn anzublicken. Vielleicht war es an der Zeit, sich miteinander zu arrangieren?
„Hat es eigentlich einen Namen?“ fragte er daher den neuen Karawanenführer, der wieder seine aus weiten, den ganzen Körper verhüllenden, bräunlichen Gewändern bestehende Reisekleidung trug.
„Selbstverständlich!“, erklärte Saladin, „aber ich fürchte, Sie könnten ihn nicht aussprechen. Ins Englische übersetzt heißt der Name des Kamels so etwas Ähnliches wie Wüstenwind!“Â
Johann wusste nicht recht, was er von dieser Neuigkeit halten sollte. Priester Menas hatte ihm erzählt, dass alle Dromedare sehr schnell laufen konnten, aber von diesem Talent hatten sie bisher keine Kostprobe gegeben.
Sie brachen gegen Mittag auf, als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte und Johann fragte sich zum wiederholtsten Mal, warum sie nichts nachts reisten. Aber diesmal war es vielleicht besser so, denn der Kaufmann, der sie begleitete war sicherlich kein so erfahrener Pfadführer wie die beiden Beduinen, von denen seltsamerweise bei ihrer Rückkehr in der Karawanserei jede Spur gefehlt hatte. Dies schien auch die anderen Kaufleute, die wild diskutierend in der Lagerhalle gestanden hatten, derart in Rage gebracht zu haben, dass sie den Aufbruch Saladins offenbar nicht zur Kenntnis genommen hatten, obwohl dieser unterwegs bei verschiedenen Anlässen als ihr Sprecher fungierte hatte.Â
Auf diesen war Johann mittlerweile überhaupt nicht gut zu sprechen, denn zuerst hatte er eine vage Andeutung gemacht, dass er etwas über den Vater wüsste und als Johann ihm Geld für diese Information gegeben hatte, hatte er zugegeben, nie mit dem Vater gesprochen zu haben. Stattdessen hatte er ihn damit vertröstet, dass die Bewohner der dritten Oase ihm angeblich weiterhelfen konnten. Mittlerweile hatte Johann den finstere Verdacht, dass der Kaufmann all dies nur aus Geldgier erfunden hatte.
Johann fragte sich sogar ernsthaft, ob er seinen Bruder und ihn in die Wüste gelockt hatte, um ihnen fernab jeder menschlichen Ansiedlung die Mumie und ihre anderen Habseligkeiten zu rauben. Wenigstens waren sie in der Überzahl, aber es war Vorsicht geboten.
Daher fühlte sich Johann erst etwas wohler, als sich endlich die kleine Oase ohne Namen am Horizont abzuzeichnen begann. Zwar hatte der Kaufmann ihnen unterwegs keinen Anlass gegeben, sich über ihn zu beklagen, aber Johann traute ihm noch weniger über den Weg als Takait und dies wollte wirklich etwas heißen.
Beim Anblick der wenigen Häuser, die inmitten eines Palmenhains standen, wunderte sich Johann, dass es hier eine Schnke gab. Offenbar kamen wirklich die Menschen aus der ganzen Umgebung hierher um sich zu treffen, um sich zu betrinken, um zu feiern und zu intrigieren. Vielleicht gab es auf dieser Oase sogar jemanden, der ihnen Auskünfte über ihren Vater geben konnte. Ehe er eine Bemerkung darüber verlieren konnte, durchfuhr Johann ganz plötzlich die Erkenntnis, dass es einen logischen Sprung in den Äußerungen ihres Pfadfinders gab.
„Eigentlich müsste man sich doch auch auf der ersten und zweiten Oase an unseren Vater erinnern. Warum habe Sie und das nicht dort schon gesagt?“, fuhr er Saladin schlacht gelaunt an.
„Weil er immer nur die dritte Oase besucht hat, junger Effendi“, erwiderte Saladin mit einem nachsichtigen Lächeln, das Johann geradezu provozierte.
„Ich denke, die Karawanen klappern immer alle drei Oasen nacheinander ab?“, mischte sich nun auch Peter ein.
Der Kaufmann nickte bedächtig.
„Das ist auch so, aber es gibt auch Karawanen, die dies in umgekehrter Reihenfolge tun. Ihr Vater hat offenbar diese Route bevorzugt und ist dann immer in der dritten Oase gebleiben.“
Johann fand dies noch immer widersinnig.
„Und warum haben wir nicht auch die andere Route genommen?“, entfuhr es ich. „Ich hätte auf den Besuch der ersten und der zweiten Oase gut verzichten können!“
„Sie hatten vor, die Strecke möglichst schnell hinter sich zu bringen. Deshalb blieb Ihnen nichts anderes übrig als alle drei Oasen zu besuchen. In welcher Reihenfolge sie das tun, ist für sie daher eigentlich unerheblich. Ihr Vater hingegen hat bei seinen Aufenthalten jeweils wochenlang gewartet, bis die nächste Karawane vorbeikam, die zurück nach Alexandria gezogen ist. Deshalb musste er nicht die Drei-Oasen-Tour machen.“
„Trotzdem könnten Sie in dieser Schenke nach unserem Vater fragen!“, meinte Johann, „und gegen eine Mahlzeit habe ich auch nichts einzuwenden.“
Der Kaufmann warf Peter einen fragenden Blick zu und dieser nickte. Johann ärgerte sich darüber, dass Saladin offenbar meinte vorher die Erlaubnis seines Bruders einholen zu müssen, bevor er seine Zustimmung gab.
„Aber ich muss Sie warnen“, bemerkte dieser dann, „dieses Lokal ist eine üble Spelunke. Es ist eine Schande für die gesamte Oasengruppe und eigentlich nicht der passende Aufenthaltsort für zwei junge Herren wie Sie.“
„Das hätten Sie vorher sagen können!“, protestierte Peter, „jetzt wo wir in Sichtweite der Schenke sind, möchte ich auch hineingehen.“
Der Kaufmann zuckte mit den Schultern.
„Auch ich habe selbstverständlich nichts gegen eine warme Mahlzeit einzuwenden, aber ich weiß nicht, ob ich ansonsten dort viel für Sie ausrichten kann. Die Schenke wird nur von Ägypter frequentiert und diese halten nicht besonders viel von Antiquitätenhändlern, wie mir.“
Das ist sicher ein Euphemismus für Grabräuber, durchfuhr es Johann.
„So nennt man das also heutzutage!“, erwiderte Peter lachend, der offenbar dieselbe Assoziation gehabt hatte.
„Man tut, was man kann“, entgegnete Saladin diplomatisch, „aber Sie tun mir in einem Punkt Unrecht: Ich handle mit Antiquitäten, ich besorge sie nicht!“ Â
Es war schon auf den ersten Blick zu sehen, welches der weißgekalkten, kubischen Gebäude die Schankwirtschaft war, denn die kleineren Bauten waren vom Lachen und dem Geschrei von Kindern erfüllt. Die drei Reisenden brachten ihre Kamele im Mietstall unter, der in einem an die Schenke angrenzenden Schuppen untergebracht war und umrundeten den stattlichen Bau um zu der großen hölzernen Tür zu gelangen: Peter schritt mit wichtiger Miene eine Nasenlänge vor seinem Bruder voran, während der Kaufmann mit einigem Abstand folgte.
Zwei junge Burschen mit weißen, gefältelten Schurzen und kahl rasierten Schädeln bogen um die Ecke und erreichten vor den Brüdern das Portal. Sie traten ein und schlugen Peter die Tür vor der Nase zu. Er blieb eine Schrecksekunde lang verblüfft und verärgert vor der mit Reliefs verzierten Holztür stehen.
Dann zog Saladin statt seiner die Tür wieder auf, deren Angeln ein hässliches Quietschen produzierten. Das ist Seltsam, dachte Johann: bei den beiden Rüpeln war die Tür lautlos aufgegangen. Sie traten ein und Johann war über den Innenraum der Schenke ziemlich verblüfft. Mein Gott, dass es so etwas tatsächlich gibt, dachte er beim Anblick der Wandmalereien, der blauen Kacheln und des riesigen Vogeleis, das von der Decke hing. Das sieht ja aus wie ein Bühnenbild der Zauberflöte oder wie eines dieser orientalisierenden Gemälde, die in Frankreich zurzeit en vogue waren. Und der Wirt mit seinem Galgenvogelgesicht hätte ein Schurke aus einem Boulevard-Theaterstück sein können.
Die meisten Gäste trugen eine ähnliche Tracht wie die Bewohner der ersten beiden Oasen: Nach altägyptischer Sitte gefältelte Schurze, weite plissierte Gewänder und sorgfältig gelockte Perücken. Es roch nach Räucherstäbchen, Tabakraum und fettigen Speisen. Â
Als die Fremden eintraten, verstummten alle Gespräche und die Zecher begafften sie mit unverhohlener Feindseligkeit. Johann wunderte sich, was die die anderen Gäste eigentlich gegen sie hatten, zumal sie sich in ihren langen Umhängen und sonnenverbrannten Gesichtern kaum von Beduinen unterschieden. Also konnten sich die Animositäten der Einheimischen wohl nur gegen Nomaden richten, die sie wahrscheinlich - nicht ganz zu Unrecht - für Diebe und Betrüger hielten. Und Saladin hatte sie eben vorgewarnt, dass man ihn hier nicht schätzte.Â
Als die drei Reisenden den Schankraum mit seinen quadratischen Tischen, die von Zechern umlagert waren, durchquerten, folgten ihnen die Blicke sämtlicher Menschen im Lokal. Es war ein regelrechtes Spießrutenlaufen, sich zum Tresen vorzukämpfen. Peter baute sich schließlich vor der Theke auf und räusperte sich, um die Aufmerksamkeit des dicken Wirts zu wecken, der mit einem schielenden Beduinen Karten spielte. Der Mann hinter dem Tresen blickte von seinem Blatt auf und bedachte den Neuankömmling mit missbilligenden Blicken.
„Könnten Sie sich bitte nach Takait erkundigen“, sagte Peter zu dem neben ihm stehenden Saladin und Johann ärgerte sich, dass der Bruder nicht wenigstens anstandshalber zuerst nach ihrem Vater gefragt hatte.
Mit einer - anbetracht dieser feindlichen Umgebung - bewundernswert höflicher Miene übermittelte der Kaufmann das Anliegen der Brüder. Der Wirt sah ihn hämisch an und grunzte dann etwas auf Ägyptisch, worauf Saladin etwas entgegnete, was die Brüder ebenfalls nicht verstanden, weil er offenbar Arabisch sprach. Der Wirt zog eine hässliche Grimasse und wiederholte dann widerwillig seinen Kommentar, der in der kehligen arabischen Sprache noch barscher klang.
„Er sagt, dass er Getränke verkauft und keine Informationen!“, übersetzte Saladin in einem entschuldigenden Tonfall.
Johann schaute sich um, was man hier so trank. Die rote Flüssigkeit in den gläsernen Kelchen mochte Wein sein, über die gelbe in den irdenen Bechern wollte er sich lieber keine Gedanken machen.
„Ein Glas Wein!“, sagte er daher und Peter nickte: „Für mich dasselbe!“
Wieder übersetzte der Karawanenführer und der Wirt knallte alsbald drei Keramikbecher nacheinander so vehement auf den Tresen, dass diese überschwappten und Johann einen Augenblick lang befürchtete, sie könnten in Stücke gehen.
„Warum bringt man uns nicht wie den Einheimischen Gläser?“, protestierte er dann, aber weder der Bruder noch Saladin gingen auf seine Beschwerde ein.
Johann nippte ohne große Erwartungen am Becher und fand alsbald seine schlimmsten Befürchtungen bestätig. Er hatte zwar schon schlechtere Weine getrunken, aber nur bei den weniger betuchten Kommilitonen. Offensichtlich standen die Einheimischen hier auf zuckersüßem Rebensaft und erstaunlich stark war er auch. Höchste Zeit, um etwas Nahrhaftes als Grundlage in den Magen zu bekommen!
„Wollen Sie uns nicht etwas zu essen bestellen?“, fragte er daher Saladin und bemühte sich, nicht unhöflich zu werden, „und dies wäre auch ein sehr guter Anlass, um endlich nach unserem Vater zu fragen!“
Er sah, dass der Kaufmann nach einer Ausflucht suchte, aber Johann ließ ihn nicht zu Worte kommen.Â
„Es ist ja wohl nicht auszuschließen, dass er sich mal hierher verlaufen hat: Schließlich ist die dritte Oase ganz nah“, fügte er schnell hinzu.
Der Kaufmann trank einen großen Schluck Wein und machte dabei ein verdrießliches Gesicht. Erst in diesem Augenblick realisierte Johann, dass dieser ein alkoholisches Getränk konsumierte. Â
„Ich dachte, der Prophet hat etwas dagegen“, sagte er, lachend auf den Becher deutend.
„Aus medizinischen Gründen ist es uns erlaubt und momentan handelt es sich um einen dringenden Notfall“, entgegnete Saladin mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck.
Der Wirt bedachte sie mit einer unfreundlichen Bemerkung und man musste kein Ägyptisch können, um zu verstehen, dass er ihnen seine Speisen aufnötigen wollte.
„Also bestellen Sie bitte endlich etwas zu Essen für uns drei“, sagte nun auch Peter, „und erkundigen Sie sich noch mal nach unserem Vater und nach Takait.“
Mit sichtbarer Überwindung richtete der Kaufmann die Fragen aus, aber wieder war der Wirt recht kurz angebunden. Dann schnippte er mit den Fingern und ein Mädchen, das nach der Familienähnlichkeit zu schließen seine Tochter sein musste, verschwand in der Küche. Sie war wie manche Frauen, die Johann in Alexandria gesehen hatte im türkischen Stil gekleidet, mit Kopftuch, enger Samtwest und gestreiftem Rock.
„Er bestreitet, Ihren Vater jemals gesehen zu haben. Angeblich sind Sie die ersten Effendis, die den Fuß über seine Schwelle gesetzt haben“, übersetzte Saladin, aber der verschlagene Gesichtsausdruck des Wirtes strafte seine Wort Lügen. „Takait kennt er, aber er hat sie lang nicht mehr gesehen.“
Johann zuckte beim Wort sie zusammen, denn es bewies, dass Saladin wusste, dass Takait ein Mädchen war. Oder hatte er nur die Worte des Wirtes übersetzt? Auch wenn dem so sein sollte, dann wusste er nun endgültig Bescheid.
„Dann soll er die anderen Gäste fragen!“, entfuhr es Peter, dem es nur mühsam gelang, sich zu beherrschen.
Der Kaufmann machte eine vage, ziemlich raumausgreifende Geste und Johann wusste sofort, was er meinte: Noch immer belauschten sämtliche Zecher, hämisch feixend die erbärmlichen Kommunikationsversuche der Fremden.
„Mich wundert, wie viele Worte Sie übersetzt haben, obwohl dieser maulfaule Wirt kaum drei Silben herausbekommen hat!“, bemerkte Johann mit einem Seitenblick auf den Kaufmann.
„Englisch ist eine sehr umständliche Sprache“, erwiderte Saladin mit einem feinen Lächeln und im gleichen Augenblick kam die Wirtstochter mit drei Tellern aus der Küche, auf denen sich getrocknetes Hammelfleisch, sowie etwas verkochtes Gemüse befand und platzierte sie wesentlich feinfühliger vor die Fremden als es ihr Vater mit den Bechern getan hatte. Zwar fand Johann es unkomfortabel, stehend am Tresen zu speisen, aber es gab keinen freien Tisch mehr und die im Schankraum versammelten Gestalten erweckten nicht den Eindruck, als ob sie die Fremden im ihrer Mitte willkommen heißen würden.Â
Trotz dieser Unbequemlichkeit schlang Johann seine Portion gierig herunter, denn als ihm der Gemüsegeruch in die Nase drang, bemerkte er erst wie hungrig er war. Das Mahl schmeckte besser als es aussah, was jedoch nicht viel heißen wollte, aber es war recht fettig.
Die Tochter des Wirts schenkte ungebeten nach und Johann stürzte den Inhalt des Bechers dem Essen hinterher, obwohl Saladin ihm zuflüsterte: „Ich würde das lieber lassen!“
Eine angenehme Wärme machte sich in ihm breit. Ein weiterer Schluck und Johann wurde die Augen schwer. Offensichtlich war dieser Wein noch stärker als der, den der Wirt vor dem Essen ausgeschenkt hatte. Höchste Zeit, diesen Ort zu verlassen, aber vorher musste er noch warten, bis der Bruder und Saladin ihr Mahl beendet hatten, denen dieses offenbar weit weniger mundete als ihm selbst.
Johann wischte sich den Mund am Ärmel ab und schaute sich unauffällig im Schankraum um: Wenigstens starrte sie momentan niemand an. Dies lag nicht zuletzt daran, dass in der Zwischenzeit zwei leichte Mädchen das Lokal betreten hatten. Vor Peter stand noch der erste Becher Wein und auch der Kaufmann hatte seinen erst zur Hälfte geleert.
Der Wirt sammelte den abgegessenen Teller ein, der vor Johann stand, reichte ihn seiner Tochter und sagte etwas zu Saladin mit einem hämischen Grinsen, das eine Zahnlücke entblößte.
„Wir wollen Informationen und keinen zuckersüßen Nachtisch“, fuhr Peter schlecht gelaunt den Kaufmann an. „Ich habe langsam genug von diesem Beutelabschneider!“
Der Wirt streckte wortlos seine Hand aus. Saladin nannte einen Betrag, den er für angemessen hielt und Johann wunderte sich darüber, woher dieser die gängigen Preise kannte. Obgleich in gewisser Weise die Zeit hier stehen geblieben war, hatten die Einheimischen nicht nur keine Vorurteile gegen die moderne ägyptische Währung, sondern schienen auch über die Preisentwicklung gut informiert zu sein.
Peter zählte dem ihn hämisch anstarrenden Wirt die Münzen in die Hand. Der Wirt ließ die Münzen auf dem Tresen klimpern und Johann fragte sich, ob er damit deren Echtheit überprüfen wollte.
Dann deutete er ganz unvermittelt und ohne ein weiteres Wort zu verlieren auf die offen stehende Tür. Die umstehenden Gäste stimmten ihm laut grölend zu. Die angenehme Stimmung, in die der Wein Johann versetzt hatte, war schlagartig verflogen.
„Ich habe Sie vorher gewarnt, dass man hier etwas gegen Antiquitätenhändler hat. Allein die Tatsache, dass ich Sie begleite hat schon den Wirt und seine Kunden gegen Sie aufgebracht“, erklärte Saladin ungerührt. „Ohne Sie hätten mich keine zehn Pferde dazu gebracht, diese Spelunke zu betreten.“
Außer sich vor Wut, stürmte Johann durch das überfüllte Lokal. Der starke Wein, den er getrunken hatte, ließ den Boden unter seinen Füßen schwanken und der Tabakrauch, der die Luft verpestet, hatte ihm Tränen in die Augen getrieben. Halb blind stieß sich daher den Kopf an dem - für einen Europäer viel zu niedrigen - Türrahmen und hörte hinter sich die Lachsalven der besoffenen Gäste. Er nahm einen neuen Anlauf und stolperte ins Freie.
Die Sonne blendete ihn und der Wind trieb im heißen Sand ins Gesicht, aber die missliche Situation, in der er sich befand, bewirkte dass Johann schnell wieder nüchtern wurde. Gleich würden ihm die anderen beiden nachfolgen und ihm vorwerfen, dass er sich wie ein Idiot benommen hatte.
Peter legte ihm die Hand von hinten auf die Schulter. Johann erschrak, denn er hatte ihn nicht kommen hören.
„Jetzt reg dich doch nicht so auf!“, sagte er, „Saladin hatte Recht: Es war ein Fehler, die Wirtschaft zu betreten, aber denk immer dran, dass uns hier keiner kennt. Das muss uns alles nicht peinlich sein!“
Johann drehte sich um und grinste den Bruder an.
„Ich würde diese Gelichter jedenfalls nicht zu Mutters Damenkränzchen einladen“, bemerkte er dann.
„Du hast offenbar einen über den Durst getrunken“, stellte Peter stirnrunzelnd fest, „ich weiß schon, warum ich es habe mit einem Glas dieses Gesöffs bewenden lassen.“
„Das ist nicht meine Schuld! Der Wein, den diese ägyptische Maid mir nachgeschenkt hat, war nicht nur abscheulich, sondern auch sehr stark“, protestierte Johann.
„Da sollten Sie erst einmal das ägyptische Bier versuchen“, mischte sich der Kaufmann ein, „das ist so hochprozentig, dass es den stärksten Wüstenkrieger von Kamel haut.“
Eine hohe, weibliche Stimme sagte etwas und es klang so, als ob ihre Worte an die Fremden gerichtet wären.
Peter, Johann und der Kaufmann drehten sich zugleich um. Die Frau, der die Stimme gehörte war noch jung, soweit sich dies unter den dicken Schichten der Schminke beurteilen ließ, die sie auf ihr Gesicht aufgetragen hatte. Ihre Augen waren mit schwarzen Linien umrahmt und die Lippen kirschrot bemalt.
„Was will sie von uns?“, fragte Peter unwirsch und seine Augen suchten Saladin.
Johann vermutete, dass es die junge Frau - die wahrscheinlich in der Schenke für das Amüsement der Gäste sorgte - auf ihr Geld abgesehen hatte, was auch immer sie als Gegenleistung anzubieten hatte.
„Sie hat Takait gesehen“, übersetzte der Kaufmann.
„Wirklich?“, entfuhr es Peter, „Und was will Sie dafür?“
„Wollen Sie sich nicht erst miteinander bekannt machen?“, schlug Saladin mit einem leicht sardonischen Lächeln von. „Wir sollten doch wenigstens die allerwichtigsten Höflichkeitsformen wahren.“
Peter nickt mit einem enervierten Gesichtsausdruck und Saladin tauschte einige Worte mit der jungen Frau.
„Ihr Name ist Nefer“, erklärte er dann. „Das heißt die Schöne. Ihre Schwester haben Sie bereits vorhin kennen gelernt.“
Eine weitere Tochter des Wirtes! Johann hätte sich dies eigentlich denken können, denn sie besaß eine flüchtige Ähnlichkeit mit dem Schankmädchen. Ein gnädiges Geschick hatte hingegen bewirkt, dass sie ihrem fetten Vater nicht im Mindesten glich.
„Die Information ist ganz preiswert“, erklärte der Kaufmann und Peter zahlte stoisch die Summe, die er ihm nannte.
Die junge Frau lächelte. Bei näherer Betrachtung war sie eigentlich so hübsch wie ihr Name suggerierte. Johann erinnerte sich an die Aufmachung, in der Takait aus dem Tempel gekommen war: Offensichtlich schminkten sich in diesem Land nicht nur die leichten Mädchen, aber dies war trotzdem kein Beweis dafür, dass Nefer nicht doch eine Animierdame war
Die junge Frau erzählte etwas und der Kaufmann übersetzte: „Takait war gestern am späten Abend hier.  Kaum war sie angekommen, haben zwei Beduinen sie beschuldigt, ein Kamel gestohlen zu haben und sie hat es noch nicht einmal abgestritten. Die drei sind dann ins Freie gegangen und haben sich vor der Tür herumgestritten, aber sie haben derart herumgebrüllt, dass Nefer gar nicht umhingekommen ist, das Gespräch mitanzuhören. Anschließend sind die Beduinen und Takait zur dritte Oase aufgebrochen, Takait wohl nicht ganz freiwillig.“Â
Das ist die gerechte Strafe dafür, dass sie meine Zwiebel gestohlen hat, war Johanns erster spontaner Gedanke. Und was war das mit dem Kamel? Vielleicht war Takait sogar eine professionelle Diebin? Aber dann hätte sie wahrscheinlich auch ihre Brieftaschen und goldenen Uhren entwendet.
Als er in das sorgenvolle Gesicht seines Bruders sah, bereute Johann, was er soeben gedacht hatte. Diese Beduinen, die Takait verschleppt hatten, waren zweifelsohne die Karawanenführer, diese brutalen Gesellen, die auf der ersten Oase die Bauern mit dem Gewehr bedroht hatten. Sein Bruder und er konnten es als zivilisierte Menschen eigentlich nicht verantworten, Takait in deren Gewalt zu lassen.
„Der Besuch dieser Spelunke war also doch kein völliger Fehlschlag“, sagte der Kaufmann und unterbrach damit Johanns Gedanken.
„Das stimmt“, erwiderte Peter, „aber nun sollten wir wirklich so schnell wie möglich von hier verschwinden. Sonst holen wir die Beduinen niemals ein.“Â
Johann sah sich nach Nefer um, da er sie fragen wollte, ob sie sich auch an den Vater erinnerte, aber diese war offenbar in die Wirtschaft zurückgeeilt. Wahrscheinlich durfte ihr Vater nicht wissen, auf welche Art und Weise sie sich ein Zubrot verdiente. Vielleicht war dies aber auch ein abgekartetes Spiel und es war der Wirt, der sie zu ihnen gesandt hatte? Johann beschloss, dass dies eigentlich völlig gleichgültig war und er trottete noch immer vor sich hingrübelnd den beiden Reisegefährten nach, die sich bereits auf den Weg zum Mietstall gemacht hatten.
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18. Die dritte Oase
Endlich erreichten die Brüder nach einem anstrengendem Ritt die dritte Oase und Peter verstand sofort, warum der Vater dieser vor den anderen den Vorzug gegeben hatte, so fasziniert wie er vom alten Ägypten war: die Oase war die weitaus bevölkerungsreichste der Sobek-Gruppe. Die Ansiedlung war von einer Mauer umgeben. Dahinter lag unübersichtliche Ansammlung von verschachtelten Häusern. Der alles überragende Tempel ließ keinen Zweifel daran, wer hier die Macht ausübte. Dies war sicherlich der Neith-Tempel, den Takait erwähnt hatte
Die drei Reisegefährten machten Halt in der größten Karawanserei, die die Brüder bisher gesehen hatten. Ein scharfer Gestank schlug ihnen entgegen, als sie den dazugehörigen Stall betraten, aber trotzdem schienen hier nicht mehr Reittiere abgestellt zu sein, als in den wesentlich kleineren Karawansereien der anderen Oasen. Peter zählte nur ein gutes Dutzend Kamele und ein paar Pferde und Esel waren auch dabei.
Er fragte Saladin, woran es liegen mochte, das hier sowenig los war, aber der Kaufmann zuckte nur gedankenverloren mit den Schultern, sodass Peter bezweifelte, dass Saladin seine Frage überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Die Züge des Kaufmanns verhärteten sich und er verhielt den Schritt so plötzlich, dass Peter ein Stück weiterging, bevor er ebenfalls stehen blieb.
Irgendetwas schien Saladin hochgradig zu beunruhigen, denn er stand einen Augenblick lang einfach so im Raum herum und starrte durch das Fenster zum Innenhof. Peter folgte seinem Blick und bemerkte draußen einen Mann, den er nicht hier anzutreffen vermutet hatte, nämlich den angeblich wenig reiselustigen Priester Menas aus Alexandria.
Peter stieß Johann, der ebenfalls zuerst an Saladin vorbeigeschossen und dann wieder zurückgekehrt war, mit dem Ellbogen an und deutete in den Hof.
„Schau nur, wer dort draußen unter der Palme steht!“
„Menas!“, entfuhr es Johann. „Was zum Teufel treibt der denn hier?“
„Kennen Sie diesen Mann?“, fragte Saladin mit einer undefinierbaren Miene, aber der Blick, den er dann durch das Fenster warf war so finster wie eine Neumondnacht in der Wüste.
Einen Augenblick lang erwog Peter zu verneinen, um herauszufinden, was Saladin über den Priester wusste, aber er war zu erschöpft für ein derartiges Katz und Maus-Spiel.
„Ja, er war ein Freund meines Vaters“, hörte er sich schärfer sagen, als er beabsichtigt hatte, denn noch immer haderte er mit seinem Schicksal, dass der Vater in nicht nach Ägypten mitgenommen hatte.
Der Kaufmann starrte einen Augenblick lang schweigend auf eines der im Stall angebundenen Kamele, an dem Peter nichts Ungewöhnliches entdecken konnte. Es roch genauso streng wie alle anderen Dromedare und war keines der Tiere, auf denen sie in die dritte Oase geritten waren.
„Tatsächlich?“, fragte Saladin dann hörbar konsterniert, aber seine Züge entspannten sich und er lächelte den Brüdern zu, wobei er seine weißen Zähne entblößte. „Es erstaunt mich dies zu hören, denn dieser alte Effendi war zwar früher ein häufiger Gast auf dieser Oase, aber das war vor der Zeit, als Ihr Vater nach Ägypten gekommen ist.“
„Wie gut kennen Sie Priester Menas?“, wollte Johann wissen. „Wir wissen leider fast gar nichts über ihn.“
„Ich kenne ihn nur vom Sehen“, beteuerte der Kaufmann mit einer etwas vorschnellen abwehrenden Geste, denn keiner der Brüder hatte vor, zu widersprechen, „aber das ist mehr als genug. Da Sie nun meine Dienste nicht mehr benötigen, kann ich mich guten Gewissens zurückziehen. Natürlich gewährte ich Ihnen einen Preisnachlass, da ich Sie nun früher verlasse als vereinbart.“
Fast hätte Peter über diesen plötzlichen Rückzieher gelacht, denn der eben noch so souveräne Kaufmann machte einen geradezu panischen Eindruck, aber im gleichen Augenblick fragte Peter sich band, ob der Priester vielleicht gefährlicher war als er aussah.
Andererseits hatte sich Saladin als nicht besonders zuverlässige Informationsquelle erwiese. So hatte er offenbar maßlos übertrieben, als er behauptet hatte, dass er den Vater kannte. Vielleicht verhielt es sich mit dem Priester ebenso und Saladin kannte ihn wirklich nur vom Hörensagen. Peter wollte lieber gar nicht wissen, was der Kaufmann und seine Kumpanen von ihm dachten, denn offenbar waren diese Orientalen mit einer überbordenden Phantasie gesegnet, wie sich daran gezeigt hatte, dass sie ihnen zugetraut hatten, die Mumie wiederbeleben zu wollten.Â
Peter versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass ihnen Menas auf dieser Oase wahrscheinlich bessere Dienste erweisen konnte als Saladin, aber noch immer nagte der Zweifel an der Integrität des Priesters an ihm.
„Ich finde, wir sollten das Angebot annehmen“, sagte Johann auf Deutsch und Peter kramte seine Börse aus seinem Bündel heraus, wenn auch noch immer mit einem unguten Gefühl.Â
Um genügend Spielraum für das landesübliche Feilschen zu behalten, überreichte Peter – ohne etwas zu sagen - dem Kaufmann nur wenig mehr als die Hälfte der vereinbarten Summe.
Saladin griff – ohne Nachzuzählen - nach dem Geld in Peters ausgestreckter Hand und ließ die Münzen klirrend in seinen Beutel fallen. Dann bedankte er sich etwas mechanisch, hob eine beringte Hand zum Gruß und schon war er verschwunden.
„Der scheint ja einen ziemlichen Graus vor der Begegnung mit den Priester zu haben“, meinte Johann, „schade dass er nicht noch einen Augenblick gewartet hat. Jetzt müssen wir ihn so gut wie wir können beschreiben! Ich möchte doch zu gern wissen, was Priester Menas uns über diesen zwielichtigen Gesellen zu berichten hat.“
Peter und Johann eilten in den Innenhof und schafften es nur mit Mühe, den Priester einzuholen, der mittlerweile im Begriff war, den Hof zu verlassen, in dem außer ihm selbst und den Brüdern die einzigen Lebewesen einige Katzen waren, die sich Schatten vor sich hindösten.
Als Priester Menas die Brüder sah, schaute er mindestens so erstaunt drein wie diese es gewesen war, als sie ihn zuerst erblickt hatten.
„Wo kommen ihr denn her?“, fragte er, ohne die beiden zu begrüßen. „Ich dachte, eure Karawane kommt erst in einer Woche an?“
„Das könnten wir Sie genauso gut fragen“, erwiderte Peter, „hatten Sie nicht beteuert, dass Sie um keinen Preis der Welt die Sobek-Oasen betreten wollen?“
Der alte Priester kratzte sich verlegen am Bart und er schaute nachdenklich auf den staubigen Boden.
„Ich habe nach eurer Abreise ein schlechtes Gewissen bekommen, dass wenig hilfreich war und dann habe ich ein dem Heft eures Vaters etwas entziffern können, was ich euch mitteilen wollte … “
„Was?“, fragten Peter und Johann zugleich.
„Dass die Mumie aus dem Neith-Tempel der dritten Sobek-Oase stammt“, erklärte der Priester mit bedeutungsvoller Miene. „Daher habe ich mir einen Ruck gegeben und bin euch mit der Karawane, die die Route in umgekehrter Richtung zurücklegt entgegengereist.“ Er wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel aus der Stirn. „Jetzt sollten wir aber schleunigst diese grauenhafte Karawanserei verlassen. Ich fragte mich, ob die Ställe in diesem Jahr überhaupt schon einmal ausgemistet worden sind. Wir suchen doch besser woanders ein schattiges Plätzchen und dann erzählt ihr endlich, wie es euch ergangen ist.“
Priester Menas führte die Brüder zu einer Schenke, die sich – wahrscheinlich nicht zufällig – in einem Eckhaus gegenüber der Karawanserei befand. Stimmen, klappernde Töpfe und der Klang exotischer Musikinstrumente kam durch die geöffneten Fenster und durch die Schwingtür konnte man erkennen, dass der helle, saubere Schankraum und die ordentlich gekleideten Gästen in einem scharfen Kontrast zu der Spelunke standen, in der die Brüder unterwegs eingekehrt waren, aber auch diese Schenke war innen aufwendiger dekoriert als man von außen vermutete: Auf die leicht gewölbte Decke waren Weinranken mit blauen Trauben aufgemalt und um die Wände liefen Hieroglyphenbänder und Friese aus Stierköpfen – die man in der Antike Bukranien genannt hatte - im Wechsel mit Rosetten.
„Ich habe vorab eine Frage“, sagte Johann, als sie sich an der Theke niedergelassen hatte und der Wirt jedem einen Becher Bier serviert hatte. „Kennen Sie einen ägyptischen Kaufmann, der sich Saladin nennen lässt?“
Der alte Priester schüttelte lachend den Kopf.
„Ich kenne nur den berühmten Saladin aus den Kreuzzügen“, erklärte er, „und der war Kurde und kein Ägypter.“
Peter führte seinen Becher an den Mund und wollte schon trinken, als der Priester ihm in den Arm fiel.
„Vorsicht, das Bier ist unglaublich stark!“, warnte er in einem eindringlichen Tonfall, „das wollte ich schon die ganze Zeit sagen, aber ihr habt mich ja die ganze Zeit mit Fragen gelöchert“
„Der Kaufmann hat uns auch schon vor dem ägyptischen Bier gewarnt“, meinte Johann und beschrieb anschließend Saladin mit knappen Worten, aber Priester Menas gab weiterhin vor, diesen nicht zu kennen.
„Diese Beschreibung passt auf jeden zweiten Ägypter“, brummte er ziemlich unwirsch, aber Peter glaubte ihm kein Wort und auch Johanns Miene verriet seine Skepsis.
„Aber dieser Kaufmann kannte Sie“, bohrte Peter daher nach. „Sie hätten sehen sollen, wie er Sie durch das Stallfenster angestarrt hat.“
„Ich bin eben eine auffällige Erscheinung!“, erklärte Priester Menas nicht ohne Selbstgefälligkeit.
Peter war noch immer der Überzeugung, dass der alte Mann etwas vor ihm verheimlichte, aber er konnte nicht weiter darauf beharren, ohne unhöflich zu werden. Also erzählte er dem Priester, was ihnen in der Zwischenzeit widerfahren war.
„Das kann ich mir gar nicht vorstellen“, meinte der Priester als Peter geendet hatte. „Auf mich hat Takait einen sehr guten Eindruck gemacht.“
„Ja, wenn man das den Schurken immer ansehen könnte“, erwiderte Johann und Peter warf ihm einen tadelnden Blick zu, denn er fand, dass sich der Bruder etwas in der Wortwahl vergriffen hatte.
„Wir müssen versuchen, Takait aus der Hand der finsteren Beduinen zu befreien“, sagte er daher zu Priester Menas. „Ich schlage vor, dass wir morgen früh im Tempel vorsprechen. Erstens können wir vielleicht näheres über die Mumie erfahren und zweitens haben sie vielleicht etwas von Takait gehört. Schließlich ist sie eine Tempeltänzerin.“
„Wenn sie entführt wurde, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass man im Neith-Tempel davon gehört hat“, wandte der Priester ein, „außerdem betrete ich nur unter einer Bedingung diesen Tempel und die ist, dass einer von euch beiden draußen bleibt. Ich traue diesen heidnischen Götzenanbetern nicht über den Weg. Falls wir nicht zurückkommen, muss jemand von uns draußen in Freiheit sein, der sich um Hilfe bemühen kann.“
„Johann begleitet dich“, erklärte Peter ultimativ, denn Priester Menas hatte Recht: Es war wahrscheinlicher Takait auf dem Marktplatz zu treffen als im Tempel und Peter hegte den Verdacht sein Bruder könne es ihm verschweiten, falls er sie sehen sollte.
Der alte Mann schaute verblüfft von seinem Becher hoch und Johann verzog das Gesicht, aber er widersprach nicht. Peter hoffte, dass die Neugier seines Bruders seine Ängstlichkeit überwog.   Â
*
Am nächsten Morgen fehlte noch immer jede Spur von Saladin, was hieß, dass er nicht in der Karawanserei übernachtet hatte, sondern augenblicklich zur Karawane zurückgekehrt war. Was hatte er zu verbergen, dass er vor dem Priester geflüchtet war und warum hielt dieser ganz offensichtlich Informationen über den zwielichtigen Kaufmann zurück?
Diese Fragen beschäftigten Peter, als sie die Karawanserei verließen. Die Menschen, die ihnen entgegen kamen wichen vor ihnen aus und Peter konnte es ihnen nicht verdenken, so abgerissen wie sein Bruder und er aussahen. Noch immer waren sie in die Tücher verhüllt, die sie in der Wüste getragen hatte. Mittlerweile waren diese verdreckt und verschwitzt. Peter hoffte, nicht vom erstbesten Beamten oder wer sonst hier der Vollstrecker des königlichen Willens sein mochte – festgenommen zu werden.
Obwohl ihnen der Tempel schon aus der Ferne entgegenleuchtete, verliefen sich die Reisegefährten mehrfach im Gewirr der Gassen. Immer wieder endete ein Weg plötzlich in einem Innenhof. Es gab enge Pfade, die sie – aus Angst vor Räubern – nicht zu betreten wagten und Höfe, auf denen man sie feindselig anstarrte. Ein heißer Wind kam aus der Wüste und Peter realisierte, dass der Weg länger war als es den Anschein gehabt hatte.
Endlich sahen sie ihr Ziel in der Nähe vor sich aufragen. Sie musste nur noch den Platz überqueren, auf dem einige Händler ihre wenige Buden aufgeschlagen hatten, aber es fehlten Stände mit Lebensmitteln. Die Verkäufer priesen lautstark billige Pilgerandenken aus Terrakotta an. Es waren überwiegend Statuetten von Nilpferden, Katzen, aber auch einige Götterbilder. Peter erkannte den mumiengestaltigen Osiris und Isis mit dem Horusknaben. Die bewaffnete Frau mit dem strengen Blick war ihm unbekannt, aber er vermutete, dass es sich um die Göttin Neith handelte, die hier besonders verehrt wurde. Als sie die Stände passierte wunderte es Peter nicht, dass sie keiner der Marktschreier belästigte, denn sie sahen sicherlich nicht nach potentiellen Kunden aus.
Trotz des ärmlichen Marktes lungerten Hunderte von Müßiggängern vor dem Tempel herum, was Peter ziemlich erstaunte. Warum wollten so viele Menschen an diesem Morgen der Göttin Neith ihre Reverenz erweisen? War dies ein Festtag der Göttin oder war die dritte Oase ein altägyptisches Lourdes? Offensichtlich waren diese Ägypter ein sehr gläubiges Volk.
„Ich habe Hunger“, sagte Johann und riss damit Peter aus seinen Gedanken. „Lass uns etwas Essbares kaufen, bevor ihr in den Tempel geht.“
Fast hätte Peter zu seinem Bruder gesagt, er solle sich nicht so anstellen, aber, wenn er ganz ehrlich war, so musste er zugeben, dass er selbst nichts gegen einen Imbiss einzuwenden hätte, denn das Frühstück in der Karawanserei war mehr als spartanisch gewesen.
„Von mir aus“, erwiderte er daher, „aber mir scheint, hier werden nur Pilgerandenken und Skarabäen verkauft.“
Der Priester schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf.
„Komisch, sonst wimmelt es hier nur so vor Imbissverkäufern, zumal man in diesen Tempeln meist sehr lang auf eine Audienz warten muss.“
Während sich die drei Fremden ihren Weg durch die Menge bahnten, fragte sich Peter, woher der Priester dies wusste. In Alexandria hatte er den Eindruck gehabt, dass der alte Priester eine Abneigung gegen heidnische Kulte hegte. Aber andererseits, konnte er diese Gepflogenheiten auch zufällig bei einem Besuch der Oasen mitbekommen haben.
Ein fliegender Händler, der getrocknetes Fleisch anbot kreuzte ihren Weg. Peter sah ihn an. Dann hob drei Finger und deutete auf die Ware.
Der Händler, ein braungebrannter Junge mit – bis auf eine lange Locke - kahl geschorenem Schädel sagte etwas.
*
„Das ist zuviel!“, rief der Priester empört aus. „Nur, weil wir Fremde sind, lassen wir uns nicht derart betrügen!“
Im gleichen Augenblick wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er zählte innerlich bis acht. Dann hatte Peter die volle Tragweite seiner Worte erkannt.
„Sie haben verstanden, was er gesagt hat!“, rief er verärgert aus. „Sie sprechen wahrscheinlich sogar ihre Sprache! Was verschweigen Sie uns noch alles?“
Der Priester war nicht bereit, sein Geheimnis preiszugeben. Daher versuchte er es mit einem Ablenkungsmanöver.
„Wir sollten uns beeilen! Vielleicht nimmt die Mumie es übel, wenn wir sie nicht sofort in ihre Gruft zurückbringen und es und es kommt auf jede Stunde an!“
Johann schnappte hörbar nach Luft. Zorn funkelte in seinen Augen und der Priester wunderte sich, denn so hatte er den ruhigen Johann noch nie erlebt.
„Ich dachte, Sie waren der Freund unseres Vaters. Warum wollten Sie uns nicht begleiten, wo Sie doch hätten für uns dolmetschen können? Wenn Sie mitgekommen wären, dann hätten wir uns Takait nicht aufgehalst!“
Dem Priester war klar, dass er die Brüder nicht länger hinhalten konnte, denn über kurz oder lang würden sie auch so die Wahrheit erfahren und es war sicher besser, wenn sie sie aus seinem eigenen Munde hörten.
„Bei einem meiner Aufenthalte auf den Oasen“, begann er. Dann griff er nach seinem Weinschlauch, den er in der Schenke aufgefüllt hatte und genehmigte sich einen großen Schluck, denn was er sagen musste, war ihm äußerst peinlich, „habe ich eine Witwe kennen gelernt.“
Die Brüder starrten ihn fassungslos an und der Priester fühlte Unmut in sich aufsteigen. Trauten sie ihm dies nicht zu?
„Ja, meint ihr, ich wäre nicht auch einmal jung gewesen?“Â
„Jetzt machen Sie es nicht so spannend“, sagte Johann lachend, während sein Bruder den Priester mit weit geöffneten Augen anstarrte. „Sie haben diese Witwe mit einem Kind sitzen lassen? Und jetzt haben Sie Angst vor ihren Brüdern?“
Priester Menas schluckte und leckte sich dann mit der Zunge über die Lippen.
„Schlimmer noch, ich habe sie geheiratet“, gab er widerwillig zu, „koptische Priester dürfen ja in den Ehestand eintreten.“
Nun schmunzelte auch Peter und der Priester ärgerte über die allgemeine Heiterkeit, die sein Geständnis hervorgerufen hatte.
„Sie hat sich aber schnell in einen richtigen Hausdrachen verwandelt. Also habe ich mich von ihr getrennt. Das ist nach altägyptischer Sitte ohne weiteres möglich, aber der Frau steht ein Drittel des Vermögens ihres Ehemannes zu.“
*
„Und das haben Sie ihr nicht gegeben?“, fragte Peter vorsichtig nach, dessen Phantasie bei dem Versuch versagte, sich einen verheirateten Priester Menas vorzustellen.
„Ich habe vielleicht meiner Frau gegenüber meine Situation etwas zu rosig dargestellt, damals, als wie uns kennenlernten.“ Der Priester stockte. Sein Blick wanderte von Peter zu Johann. „und dann hat sie mir nicht geglaubt, wie niedrig das Einkommen eines koptischen Geistlichen ist. Ich besitze als leider kein Vermögen.“ Â
„Aber Sie hatten doch nicht vorgehabt für immer auf dieser Oase zu bleiben?“, fragte Peter, der bezweifelte, dass der Priester diese Eheschließung ernst genommen hatte. „und nach Alexandria hätten sie unmöglich eine heidnische Ehefrau mitbringen können!“
Der Priester machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Sie wusste, dass ich früher regelmäßig die Oasen besuchte. Dann habe ich immer bei ihr gewohnt und, wenn sie nicht so eine Xanthippe gewesen wäre, hätte dies auch so weitergehen können.“
Peter bezweifelte dies, aber er sagte sich, dass ihm dies nichts anging. Außerdem hatte der Priester nicht Unrecht gehabt, als er gesagt hatte, dass sie keine Zeit zu verschwenden hatten. Sie mussten jetzt pragmatisch sein.
„Wir müssen also nicht nachfrage, ob einer der Neith-Priester Arabisch spricht, sondern Sie können für Johann dolmetschen!“
Der Priester schüttelte bedächtig den Kopf und kratzte sich dabei an seinem grauen Bart.
„Mein Ägyptisch ist ziemlich schlecht, aber dafür wird es vielleicht gerade noch reichen.“
„Ich schaue mich solange nach Takait um“, sagte Peter mehr zu sich selbst.
„Aber sie ist doch – wenn ich das richtig verstanden habe - die Gefangene der Karawanenführer. Sie kann nicht selbst entscheiden, wohin sie geht“, wandte Menas vorsichtig ein.
„Wenn die Nomaden sie nach Zau verschleppt haben, dann doch bestimmt nur, damit sie im Tempel der Neith für sie spionieren, lügen und stehlen kann“, entgegnete Johann in einem ziemlich boshaften Tonfall.
„Red nicht so von ihr!“, entfuhr es Peter und er schaute den alten Priester aufmunternd an. „Jetzt sollten wir uns aber endlich auf den Weg machen.“
„Ja, wir haben wirklich lange genug in der Sonne herumgestanden und geredet“, stimmte Johann zu, „aber willst du nicht lieber … “
„Nein!“, unterbrach Peter, „du bist es, der von Alpträumen gequält wurde!“
Johann nickte, aber als er dem Priester mit einem Schritt Abstand folgte, erinnerte er seinen Bruder an ein Opferlamm. Â
Vor dem Portal standen Standbilder einer Frau mit Pfeil und Bogen. Also waren die Statuetten, die die Händler verkauften wirklich die Abbilder der Göttin Neith, aber wenn Peter ganz ehrlich war, so war ihm dies mittlerweile völlig gleichgültig.Â
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19. Die schöne Frau
Fensterläden wurden geräuschvoll geschlossen und aus dem Inneren eines Hauses drang Kindergeschrei. Ein Hund bellte und verstummte wieder. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht und ein heißer Wind trieb vertrocknete Palmblätter über den Platz. So trostlos hatte er sich Ägypten nicht vorgestellt. Der Neith-Tempel war zugegebenermaßen ziemlich eindrucksvoll, wenigstens soweit Peter dies von außen beurteilen konnte, aber momentan hätte er ihn gegen einen einzigen ordentlichen Baum eingetauscht, unter dessen Krone er sich hätte niederlassen können.
Die Parkbank haben wohl erst die Engländer des letzten Jahrhunderts entdeckt, dachte er schlecht gelaunt als er sich im Schatten eines Hauses auf den staubigen Boden setzte. Aber ohne Vegetation gab es keine Parks: Ein paar verkrüppelte Berberitzen klammern sich hier und da an den ausgedörrten Boden. Sonst war die dritte Oase völlig kahl.
Farbenfrohe Vögel jubilierten auf dem Dach des Nachbarhauses und Peter stellte sich die fremden Länder vor, aus denen sie kommen mochten, denn sicherlich waren sie in dieser kargen Einöde nur auf Durchreise. Das einzige was Peter auf diesem Platz wirklich gefiel, waren die ab und zu vorbeikommenden Mädchen. Sie bewegten sich mit einer unvergleichlichen Anmut und Grazie, die durch ihre Tracht noch unterstrichen wurde: Die meisten von ihnen trugen über dünnen, stark plissierten weißen Trägerkleidern weiße, fast durchsichtige Umhänge, die sie unter der Brust geknoteten hatten. Breite Krägen aus blauen Terrakottaperlen, Armreife und Ohrringe aus Gold, sowie ein Lotosblüten im Haar vervollständigten diese Aufmachung.
Peter, der sich mühsam beherrschen musste, um sie nicht anzustarren beobachtete sie aus den Augenwinkeln, aber leider leerte sich der Platz zunehmend. Die Müßiggänger suchten den Schutz ihrer Häuser und Peter musste allein unter der glühenden Sonne warten, die alles vor seinen Augen flimmern ließ! Er ärgerte sich über sich selbst, dass er vorgeschlagen hatte, dass Johann Menas begleitet sollte.Â
Einige junge Männer verließen den Tempel. Sie deuteten auf Peter in seiner schäbigen Beduinenkluft und lachten. Peter verfluchte die altägytische Tracht der Männer, denn er hätte es vorgezogen, wenn man ihn für einen Einheimischen gehalten hätte. Wie aber sollte er es vermeiden Aufsehen zu erregen, wenn die Einheimischen hier halb nackt herumliefen? Zwar trugen einige reich aussehende Männer lange Gewänder, aber diese waren fast durchsichtig, hätten also nicht verbergen können, dass der hellhäutige und hoch gewachsene Peter ein Ausländer war.
Seine finsteren Gedanken wurden unterbrochen vom festen Schritt zahlreicher Füße. Soldaten marschierten vorbei und Peter staunte über diesen Anblick, denn die Existenz einer ägyptischen Armee hätte er nicht für möglich gehalten, auch wenn diese bestimmt sehr klein war. Ohne nach rechts oder nach links zu schauen folgten die Soldaten ihrem Offizier, der hervorgehoben war durch die schweren Ketten aus Gold. Peter wusste aus seinen Büchern, dass diese in Ägypten das „Gold der Tapferen“ hießen.
Peter wurde immer ungeduldiger, denn es wurde immer deutlicher, dass auf dieser Oase alles andere als „normale“ Zustände herrschten. Wann kamen der Bruder und Menas endlich wieder zurück? Vielleicht schwebte er in Lebensgefahr, weil man der Göttin Neith Menschenopfer darbrachte? Am Morgen hatte Peter noch die Vorsicht des koptischen Priesters über übertrieben gehalten, als dieser dafür plädiert hatte, dass einer von ihnen draußen warten sollte, aber mittlerweile war Peter besorgt um den Bruder, den er so leichtfertig in den Tempel geschickt hatte.
Von Zeit zu Zeit verließen Besucher den Neith-Tempel - wie vor einigen Minuten die unverschämten jungen Leute, die Peter ausgelacht hatten. Dies beruhigte ihn etwas, obwohl er bedauerte, dass er nicht nachgezählt hatte, wie viele hineingegangen waren und wie viele wieder herauskamen. Unter den Tempelbesuchern waren auch drei Nomaden gewesen, aber Peter hatte die Gesichter der vermummten Gestalten nicht erkennen können. Er fragte sich warum alle so sorgenvoll dreinblickten. Konnte es sein, dass sein Anblick sie beunruhigte? Aber, nein, so gefährlich sah er bestimmt nicht aus. Wahrscheinlich hatte er ihren Gesichtsausdruck falsch interpretiert, weil er selbst besorgt war. Peter biss in das Fladenbrot, das er einem der letzten fliegenden Händler abgekauft hatte, die noch vor einer halben Stunde ihre Ware angepriesen hatten. Es war noch trockener als es aussah. Peter kaute solange gedankenverloren darauf herum, bis es süß schmeckte. Dann würgte er es mühsam herunter.
Eine weitere Einheit von Soldaten überquerte den Platz, sie wirkten noch grimmiger als die des ersten Trupps. Bei ihrem Anblick stoben die letzten Müßiggänger auseinander, die sich noch auf dem Vorplatz des Tempels aufgehalten hatten. Wovor hatten sie solche Angst? Vielleicht wurde man hier auf offener Straße zwangsverpflichtet, wie bei den alten Preußen? Peter fragte sich, ob er zu leichtsinnig gewesen war. Wenn weitere Soldaten vorbeiziehen sollten, würde auch er sich verstecken.
Als die Soldaten in einer Seitenstraße verschwunden waren, ließ sich ein Bettler am anderen Ende des Platzes nieder, der wohl abseits gewartet hatte, um nicht gesehen zu werden. Wieder kamen einige Männer aus dem Portal des Tempels, aber niemand gab dem Bettler etwas. Peter erwog, sich seiner zu erbarmen, als eine schlanke Frau um die Ecke bog. Sie besaß eine auffallende Ähnlichkeit mit Takait und Peter bewunderte ihre Schönheit. Er fragte sich, ob es vielleicht ihre Schwester sein konnte.
Die Frau schlenderte so nah an ihm vorbei, dass Peter ihr betörendes Parfüm riechen konnte. Dabei warf sie ihm einen langen, sehnsuchtsvollen Blick zu, aber kaum, dass sich ihre Augen trafen, blickte sie wieder züchtig zu Boden. Die Reifen an ihren Armen klimperten leise, während sie sich anmutig an Peter vorbei bewegte. Peter sah ihr nach und er fand, dass sie einen sehr schönen Rücken hatte.
Eine alte Ägypterin lehnte sich grinsend aus dem Fenster und machte einen lästerlichen Kommentar, aber Peter war mittlerweile egal, was man von ihm dachte. Er schaute unverhohlen der Frau nach und er ärgerte sich über sich selbst, dass er sie nicht angesprochen hatte, als er die Gelegenheit dazu hatte. Vielleicht kannte sie Takait?
Ganz unerwartet blickte sie über ihre Schulter zurück. Sie hatte wunderschöne mandelförmige Augen, die von schwarzen Linien umrahmt und betont wurden. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Peter erwiderte das Lächeln. Die Frau drehte sich wieder um und setzte mit schwebend leichten Schritten ihren Weg fort. Peter erhob sich vom Boden und schlagartig war die Trägheit verflogen, in die ihn die Hitze versetzt hatte.
Er hatte den halben Platz überquert, bevor er realisierte, was er tat: Er folgte der jungen Frau. Warum auch nicht, dachte er. Hier auf dem Platz versäume ich bestimmt nichts. Bestenfalls würde er sich einen Sonnenstich einfangen und schlimmstenfalls würde man ihn in die Armee zwangsrekrutieren. Wahrscheinlich mussten die anderen noch mehrere Stunden lang im Tempel warten - schließlich hatte der Priester eine diesbezügliche Andeutung gemacht – und daher war er gut beraten den Platz zu verlassen, wo er geradezu auf dem Präsentierteller saß.
Die junge Frau schlenderte langsam durch eine enge Gasse, die in der mittäglichen Hitze wie ausgestorben war. Der Frau schien das Wetter aber nichts auszumachen, so gemächlich, wie sie ging. An der nächsten Biegung des Weges drehte sie sich um und wieder traf ihr Blick den von Peter. Sie senkte die Lider und ging weiter. Der Wind drehte sich und trug den modrigen Geruch des Tempelsees über die Oase.
Wie gebannt folgte Peter der Frau noch mehrer Häuserblocks weiter, bis er ein Haus erreicht hatte, das aussah wie alle Häuser der Sobek-Oasen – weiß getünchte Wände und kleine Fenster - aber es musste ein besonderes Haus sein, denn die junge Frau betrat es.
Sie ließ die einfache Holztür einen Spalte breit offen stehen. Wenn dies keine Einladung war, ihr zu folgen? Peter ließ sich nicht zweimal bitten. Er stieß die Tür auf und betrat das Haus. Dunkel war es drinnen. Peter fühlte den gestampften Lehm unter seinen Füßen, aber er sah nichts. Ehe seine Augen sich an die Lichtverhältnisse anpassen konnten, verspürte er einen scharfen Schmerz hinter dem rechten Ohr und ihm wurde schwarz vor Augen. „Ich hätte doch lieber auf dem Marktplatz bleiben sollen“, war sein letzter Gedanke bevor er in die Dunkelheit abtauchte. Â
*
Johann fühlte sich wie ausgelaugt, als er am fortgeschrittenen Abend den Audienzhof des Tempels zusammen mit Priester Menas verließ. Die Sonne hing schon tief am Himmel, und die Häuser warfen lange Schatten, was ihnen eine bedrohliche Stimmung erzeugte. Â
„Das war eine ziemliche Zeitverschwendung!“, sagte er zu dem Kopten.
„Das kann man wohl sagen“, erwiderte dieser grimmig.
Zuerst hatte man sie stundenlang in einem Innenhof warten lassen. Johann wunderte sich noch immer darüber, dass so unglaublich viele Menschen im Tempel Rat und Beistand gesucht hatten. Als man Johann und Menas dann endlich vorgelassen hatte, waren die Priester schrecklich kurz angebunden gewesen. Sie hatten ultimativ erklärt, dass sie keine Auskünfte über Gräber geben würden. Den Namen Bernhard Berggruen hatten sie angeblich noch niemals in ihren Leben vernommen, was durchaus möglich war. Aber der Gipfel war gewesen, dass die Priester behauptet hatten, dass sich so häufig junge Tänzerinnen bei ihnen vorstellten, dass sie sich unmöglich an alle Namen erinnern könnten. Das war natürlich eine Lüge gewesen, aber Johann hatte den Priestern schließlich nicht ins Gesicht sagen können, dass er ihnen nicht glaubte. Außerdem war alles viel zu schnell gegangen: Kaum hatte Johann seine drei Fragen gestellt, war die Audienz schon wieder beendet gewesen.
Johann hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, dass ihn dieser Misserfolg überraschte, denn er hatte sich nie viel von diesem Tempelbesuch versprochen. Es war der Bruder, der diese Idee gehabt hatte, nur seltsam, dass er dann freiwillig draußen geblieben war.
Ein Seitenblick auf das gerötete Gesicht des alten Priesters überzeugte Johann davon, dass dieser die schnelle Abfertigung offenbar ziemlich persönlich genommen hatte. Im Tempel hatte er feststellen müssen, dass das Ägyptisch seines Reisegefährten ziemlich schlecht war und er fragte sich mittlerweile, wie dieser sich mit seiner Frau verständigt hatte. Kein Wunder, dass die Ehe gescheitert war!
„Wo lebt Ihre Frau eigentlich?“, wollt Johann wissen, der es noch immer nicht fassen konnte, dass der fromme koptische Priester eine heidnische Frau geheiratet hatte
Der Priester machte ein verdrießliches Gesicht.
„Auf der zweiten Oase.“
Johann begriff augenblicklich, warum der Priester sich der Karawane angeschlossen hatte, die nicht zuerst die erste und zweite Oase bediente.
„Haben Sie Kinder?“
„Ja, eine Tochter“, antwortete er in einem Tonfall, in dem man ein Verbrechen gesteht.
Trat er dem alten Mann zu nahe, wenn er nach deren Alter fragte? Johann wagte es nicht, diese Frage zu stellen, zumal unwillkürlich vor seinem inneren Auge das hübsche Gesicht Takaits aufstieg. Konnte es sein ….? Nein, das hätte er ihnen nicht verschwiegen!
Und wenn Menas doch Takaits Vater war? War er dann genauso wenig vertrauenswürdig wie seine Tochter.
Johann sah den alten Mann forschend von der Seite an und dieser schaute unbefangen zurück. Johann rief sich ins Gedächtnis, dass Hunderte von Familien auf den Sobek-Oasen lebten.
„Die Sache mit den Granatäpfelkernen habe ich nicht verstanden, die du vorhin erzählt hast!“, brummte der Priester und gab damit dem Gespräch eine andere Wende.
„Peter hat aus Versehen eine streunende Katze getreten und Takait meinte, er müsse als Gegenmittel Grantatäpfelkerne essen. Sonst würden ihn irgendwelche Götter als Frevler bestrafen.“
„Warum hat Takait so eine hanebüchene Geschichte erfunden?“, entfuhr es Menas, „kein Wunder, dass uns diese Götzenanbeter ausgelacht haben!“
„Wahrscheinlich wollte sie sich unersetzlich machen, damit wir sie mitnehmen“, sagte Johann etwas halbherzig, denn gleich würden sie auf Peter stoßen und Johann wollte sich nicht wieder tadeln lassen, weil er schlecht über Takait sprach.
„Dann wäre sie wohl kaum heimlich mitten in der Nacht mit eurem Oasenkrokus verschwunden“, wandte Menas irritiert ein.
„Wem sagen Sie das! Ich werde aus Takait einfach nicht schlau“, gab Johann zu und zuckte resigniert mit den Schultern.
Einen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen, zumal ihnen einige Priester entgegen kamen und sich Johann ganz sicher war, dass irgendwer im Neith-Tempel Englisch sprach und ihre Gespräche belauschte.
„Es ist ein Unverschämtheit, dass man uns in einem Hof abgefertigt hat“, beschwerte sich Johann nun schon zum mindestens fünften Mal und der alte Menas verdrehte enerviert die Augen.Â
„Das Betreten eines heidnischen Tempels ist nur dem Pharao – den es bekanntlich nicht mehr gibt - und den allerhöchsten Priestern gestattet“, erklärte er mit einem gereizten Gesichtsausdruck, „aber das habe ich dir doch vorhin schon mehrfach gesagt.“
Endlich näherten sie sich der Tempelpforte und Menas beschleunigte seine Schritte.
„Und warum hat uns Takait dann im Tempel der ersten Oase empfangen?“, fragte Johann nach, der langsam niemandem mehr traute und am allerwenigsten Takait.
„Ich weiß auch nicht, was dort los war“, sagte Menas als sie endlich das Hauptportal des Tempels durchschritten. „Wahrscheinlich hat Takait geistesgegenwärtig die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und hat - als die Priester vor dem Sphinx geflohen waren - im Tempel die Hausherrin gespielt. Sie war wahrscheinlich gar nicht berechtigt euch zu empfangen.“
Johann frage sich, wie dies wohl vonstatten gegangen war, aber eigentlich war dies auch egal, denn sie sollten sich auf ihre derzeitigen Probleme konzentrieren und das dringlichste davon war, dass Peter nicht vor dem Portal wartete. Johann ließ seinen Blick über den leeren Platz schweifen, aber er konnte den Bruder nirgendwo sehen.
„Hat Peter nicht gesagt, dass er auf uns warten will?“, dacht er laut.
Priester Menas machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Er konnte nicht ahnen, dass wir solange im Tempel warten mussten. Es wird ihm zu langweilig geworden sein. Wahrscheinlich ist er schon in die Karawanserei zurückgekehrt.“
„Aber das ist eigentlich nicht seine Art“, meinte Johann und wieder hielt er nach Peter Ausschau, obwohl dies eigentlich überflüssig war, denn der leere, baumlose Platz war an Ãœberschaubarkeit kaum zu überbieten.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Johann irritiert und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass dies die Standardfrage war, die er sonst dem Bruder stellte, dem er gewöhnlich alle Entscheidungen überließ.
„In die Karawanserei zurückkehren“, brummte Menas.
„Vielleicht sollten wir in alle Seitenstraßen schauen“, widersprach ihm Johann. „Hier auf dem Platz gab es ja bis vor kurzem keinerlei Schatten! Vielleicht hat Peter sich daher in eine Gasse zurückgezogen?“
„Es dämmert bereits. Wir bekommen bestimmt Ärger, wenn wir nicht vor Einbruch der Dunkelheit von diesem Platz verschwunden sind, denn die Priester des Neith-Tempels kontrollieren in Wahrheit die Stadt“, erklärte der Priester mit angespannter Miene, „und außerdem scheint hier gerade Ausnahmezustand zu herrschen.“
„Aber das gilt auch für Peter“, entfuhr es Johann, der vor seinem inneren Auge den Bruder durch die nächtlichen Gassen irren sah. „Wir müssen ihn unbedingt finden.
„Mach dir doch nicht soviel Gedanken um Peter! Bestimmt erwartet uns dein Bruder in der Karawanserei“, munterte Priester Menas seinen Reisegefährten auf und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Dann stieß er einen leisen Seufzer aus. „Irgendetwas braut sich hier zusammen. Mir gefällt nicht, dass sich die Einwohner alle bereits in ihre Häuser zurückgezogen haben.
„Das hat mich auch beunruhigt“, bestätigte Johann, „heute Morgen standen doch hier noch unglaublich viel Leute herum.“ Â
Der alte Priester nickte.
„Wir sollten also nicht länger hier herumdiskutieren, sondern schleunigst die Karawanserei aufsuchen.
„Von mir aus“, erwiderte Johann ohne große Begeisterung und trottete dem Priester nach, der sich beständig vorsichtlich umschaute.
Beunruhigt registrierte Johann, dass auch das an den Tempel angrenzende Viertel wie ausgestorben war. Die Fenster waren vernagelt und, obwohl es noch nicht gänzlich dunkel war, ließ sich niemand auf der Gasse blicken. Irgendwo in einem Innenhof heult ein Tier, wahrscheinlich ein verängstigter Hund, sonst drang aus den Häusern kein einziger Laut.
Mit schlafwandlerischer Sicherheit durchquerte der Priester die wenigen Freiräume zwischen den ineinander geschachtelten weiß getünchten Häusern. Erinnerte er sich wirklich an das Gewirr der leeren Gassen, das mit größerem Recht den Namen „Labyrinth“ verdient hätte als der Totentempel der Nordoase? Â
„Sie finden den Weg zur Karawanserei zurück?“, fragte Johann, dem es vor der Stille graute. „Schließlich haben wir uns auf dem Weg zum Tempel ständig verlaufen.“
„Selbstverständlich!“ Der Priester drehte sich um und warf ihm einen jovialen Blick zu. „Ich habe mir den Weg gemerkt.“
Auch in den nächsten Gassen herrschte Grabesstille. Die Geschäfte waren geschlossen und aus den Werkstätten kam kein Ton.
Plötzlich öffnete sich eine Tür und ein hagerer Mann mittleren Alters schoss auf die Gasse hinaus. Der Priester starrte ihn an, als ob es sein Todfeind wäre und beschleunigte augenblicklich seine Schritte. Johann bemerkte, dass er leichenblass geworden war.
„Menas!“ rief ihm der Ägypter nach, aber offensichtlich wollte der alte Priester ihm aus dem Weg gehen. Johann bezweifelte, dass dies eine gute Idee war, denn es bestand die Gefahr, dass der Mann die ganze Nachbarschaft alarmierte.
„Reden Sie mit ihm! Sonst macht er uns noch Ärger“, bat ihn Johann geradezu inständig und hielt den Priester am Ärmel fest.
Der Fremde rief ihnen etwas nach und endlich blieb Priester Menas stehen.
„Wer ist das eigentlich?“, fragte Johann, obwohl er ahnte, dass es sich nur um ein Mitglied der angeheirateten Sippe des Kopten handeln konnte.
„Bak, mein Schwager, einer der Brüder meiner Frau.“
Johann fand, dass die Situation nicht einer gewissen Komik entbehrte. Nur schade, dass er kein Wort verstand. Bak redete heftig auf Menas ein, der Priester erwiderte in einem entschuldigenden Tonfall ein paar Worte, der Ägypter antwortete mit unfreundlicher Stimme und Johann platzte bald vor Neugier.
Langsam entspannte sich die Haltung des Priesters. Offensichtlich hegte sein Schwager keinen tödlichen Groll mehr gegen ihn.
„Was ist los?“, fragte Johann seinen Reisegefährten.
„Du hattest eben Recht gehabt“, erklärte der Priester. „Es war gut, dass ich mit ihm gesprochen habe. Ich habe eben erfahren, dass meine Frau sich wieder verheiratet hat. Ich muss ihr also nicht mehr aus dem Weg gehen.“
Immerhin kannten sie jetzt einen Einwohner dieses Wüstennests. Johann fand, dass man eine derartige Gelegenheit am Schopfe packen musste.
„Fragen Sie ihn doch, ob er uns für ein paar Tage gegen Bezahlung bei sich aufnehmen kann! Diese Karawanserei ist doch unglaublich verdreckt und schäbig. Wenn wir unser Gepäck abholen, können wir auch gleich Peter Bescheid sagen.“
Der Priester nickte bedächtig. Dann formulierte er stockend und nach Worten suchend einige Sätze. Selbst Johann konnte feststellen, dass seine Aussprache miserabel war.
Bak lauschte mit gerunzelter Stirn. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Johann wäre es lieber gewesen, wenn er gelächelt und genickt hätte. Als Bak sich wieder etwas beruhigt hatte überschüttete er den Priester mit einem Redeschwall, bei dem es sich nur um Beleidigungen handeln konnte. Dann musterte er Johann und fügte einige hämische Bemerkungen hinzu, die offensichtlich kommentierten, mit was für einem heruntergekommenen Gefährten der Priester reiste.
Johann wich automatisch einen Schritt zurück. Was sollte er dazu sagen? Menas würde es wohl sowieso nicht übersetzen.
„Es hat keinen Zweck mit diesem ungehobelten Klotz unsere kostbare Zeit zu verschwenden“, erklärte der Priester, dem offenbar die Vokabeln fehlten, um etwas zu erwidern. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er sog keuchend die schon kühler werdende abendliche Luft ein. „Wenigstens hat er uns eine Herberge in der Umgebung empfohlen. Wenn ich Bak richtig verstanden habe, ist er auch nur zu Gast bei einem Schwager.“
Johann sah ihn fragend an, da er sicher war, dies beiweitem nicht alles war, was der Ägypter erzählt hatte.
„Ich finde, wir sollten jetzt schnell Peter aufsammeln und dann diese Herberge aufsuchen“, sagte Menas hastig.
Bak, der bisher grinsend der Szenerie beigewohnt hatte, verschwand wieder im Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
„Was hat Ihr Schwager noch alles gesagt?“, fragte Johann, der sich nicht schon wieder so knapp abfertigen, lassen wollte.
„Familien-Angelegenheiten!“
Johann hob eine Augenbraue und schüttelte amüsiert den Kopf.
„Ich bin sicher, er hat auch mich beleidigt.“
„Naja, überwiegend hat er mein Verhalten seiner Schwester gegenüber kritisiert, aber ich habe nicht alles verstanden“, brummte der Priester sichtbar düster gestimmt.
„Das kann ich mir vorstellen“, kommentierte Johann, womit er sowohl meinte, dass er die Kritik des Schwagers verstehen konnte, als auch, dass ihm klar war, dass der Priester seinem Redeschwall nicht hatte folgen können.
Das Fenster öffnete sich und Bak rief etwas auf die Straße. Menas drehte sich wütend um und stapfte mit großen Schritten davon. Johann musste sich beeilen, um ihn wieder einzuholen.Â
„Das war doch ein ziemlicher Zufall, dass wir hier ausgerechnet Ihren Schwager getroffen haben!“, rief er seinem Reisegefährten beschwichtigend nach.
Der Priester blieb abrupt stehen.
„So groß war der Zufall nun wieder auch nicht. Meine Frau hat zehn Brüder und alle sind sie Kaufleute. Man ist nirgends vor ihnen sicher.“
Kein Wunder, dass sich der Priester standhaft geweigert hatte, auch nur einen Fuß auf den Boden der Sobek-Oasen zu setzten. Peter hätte jetzt gelacht und fast wäre es auch um Johanns Selbstbeherrschung geschehen, aber bei dem Gedanken an den Bruder war ihm gar nicht mehr zum Lachen zumute.
„Wenn ich nur wüsste, wo Peter steckt!“, entfuhr es ihm daher spontan.
Menas blieb stehen und blickte Johann ernst an.
„Außer einigen Beleidigungen hat mein Schwager mir eben nachgerufen, dass Feinde in Anmarsch auf die Oase sind und wir besser verschwinden sollten.“
„Deshalb sind alle so aufgeregt“, entfuhr es Johann und im gleichen Augenblick wurde er von einer Welle des Elends überflutet. Warum musste alles auf einmal so kompliziert sein?
*
Peter fühlte durch die pulsierende Watte, in die er gehüllt war, dass sich eine Hand auf seine Stirn legte. Mühsam öffnete er ein Auge und sah in das schöne Gesicht eines einfach gekleideten Mädchens, das ihn ernst musterte. Langsam kamen die Erinnerungen zurück: Die Hitze, die langweilige Warterei und die Frau, der er gefolgt war. Sein Schädel dröhnte und vor seinen Augen tanzten farbige Flecken. Er fühlte sich jämmerlich, müde und erschöpft, die Steine der Wand stachen ihm in den Rücken. Er sah sich um. Es war duster im Raum. Nur ein kleines, hoch angebrachtes, vergittertes Fenster ließ etwas Licht hinein. Offensichtlich befand Peter sich in einer Art Keller. Auf dem Boden standen Vorratsgefäße, dazwischen der Strohsack, auf dem er lag.Â
„Wo bin ich?“, fragte er automatisch auf Deutsch.
Das Mädchen sagte etwas, aber Peter verstand kein Wort. Wie konnte er nur vergessen, dass man hier Ägyptisch sprach! Das Gesicht, das sich zu ihm herunterbeugte strahlte Mitgefühl aus und dies gefiel Peter gar nicht, denn es verhieß nichts Gutes für die Pläne die seine Kerkermeister mit ihm hatten.
Die Frau, der Peter gefolgt war stand nun – zusammen mit zwei Männern – vor dem Kellerloch, in dem Peter gefangen gehalten wurde. In dieser schäbigen Umgebung hatte auch ihre Schönheit gelitten und Peter wunderte sich über sich selbst, dass er sie so unwiderstehlich gefunden hatte. Sie sah auch Takait nicht ähnlicher als jede beliebige Ägypterin. Peter versuchte, ihr in die Augen zu schauen, aber sie wich seinem Blick aus. Sie trug dasselbe weiße Gewand wie auf dem Marktplatz, nur war es nicht mehr sauber.
Das Mädchen stellte ein Tablett mit Brot und getrocknetem Fleisch auf einen großen Stein, der neben der Tür stand. Dann zog sie ein Bündel heran, das auf dem Flur gelegen hatte. Mit einem Fußtritt beförderte sie das Bündel in die Kammer.
Die junge Frau, die ihn in diese Falle gelockt hatte nickte Peter aufmunternd zu. Peter war außer sich vor ohnmächtiger Wut. Noch nicht einmal beschimpfen konnte er die falsche Schlange!
Mit einer jähen Bewegung drehte die Frau sich um und verschwand wieder in der Dunkelheit. Die Tür schloss sich vor dem Gefangenen und er hörte aus der Ferne das Hochziehen einer Leiter und das Herunterklappen einer Falltür. Unmöglich von hier zu fliehen!
Peter öffnete das Bündel. Es enthielt Kleider und zwar einen knöchellangen Schurz und ein langes, weißes Hemd aus einem feinen Tuch, wie es in Ägypten die Hausfrauen selbst webten. Der Stoff war halb durchsichtig und Peter fühlte eine instinktive Abneigung dagegen, es das Gewand anzulegen, aber sein Beduinengewand war zerrissen. Was hatte man nur mit ihm gemacht? Er konnte sich nicht daran erinnern, sich gewehrt zu haben.
Peter zog sich in die hinterste Ecke des Raumes zurück, wo er zwischen zwei Tongefäßen geradeso Platz zum Stehen hatte und band sich unter seinem Nomadenmantel den Schurz um. Dann streifte er das Beduinengewand ab und schlüpfte in das Hemd, das nicht zu kurz für ihn war. Der Saum lag fast auf der gestampften Erde. Dies erstaunte Peter, denn selbst für einen Europäer war er hochgewachsen, den Ägyptern musste er wie ein Riese vorkommen. Und überhaupt: Warum sollte er hier in diesem dreckigen Keller derart feine Gewand tragen? Sie mussten schließlich ziemlich wertvoll sein.
Peter warf einen missmutigen Blick auf das Essen, denn es sah alles andere als appetitanregend aus, aber er musste etwas essen, um bei Kräften zu bleiben. Einen Augenblick lang überlegte er, ob die Lebensmittel vergiftet sein könnten, aber, wenn man ihn hätte umbringen wollen, so hätte man während er bewusstlos war hinreichend Gelegenheit dazu gehabt.
Als Peter sich auf den Sandsack setzte, schlich sich eine graue Katze an das trockene Brot und das Pökelfleisch, das neben ihm lag. Peter hatte nicht bemerkt, dass sie sich durch die offene Tür hineingeschlüpfte war oder war er von Anfang an im Keller gewesen?
Peter verschlang den größten Teil des Mahls, ohne dass er hätte sagen können, ob es ihm schmeckte, immer die Katze im Blick, deren grüne Augen seinen Bewegungen folgen, aber Peter blieb standhaft: Die Katze gehörte seinen Entführern und er gab ihr nichts von seiner ohnehin schon kargen Ration ab.
Als sein Hunger gestillt war, fühlte Peter Wut in sich aufsteigen, aber vor allem schämte er sich. Wie konnte er nur so dumm gewesen sein! Wenn er seinen Bruder jemals wieder sehen sollte, so würde er in den Boden versinken!
Die Katze blickte ihn weiterhin mit ihren in der Dunkelheit leuchtenden Augen an und Peter fühlte den Stich des schlechten Gewissens. Er schob den Teller von sich weg und sofort machte die Katze sich über die Speisereste her. Sie hatte ein leicht zerzaustes, silbernes Fell und war nicht besonders gut genährt. Als sie alles heruntergeschlungen hatte, leckte sie sorgfältig den Teller ab. Dann schritt sie zu Peter und rieb sich an seinen Beinen.
„Wenigstens habe ich einen Verbündeten gewonnen“, dachte Peter in einem Anflug von Galgenhumor und er kraulte die Katze, die sogleich zu schnurren begann.
Peter schloss die Augen und atmete tief durch, denn er musste dringend eine Entscheidung treffen. Langsam gelang es ihm, seine Gedanken zu ordnen, aber ihm war noch immer schleierhaft, wie er fliehen konnte.
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20. Die Flucht
Es war ein angenehm kühler Morgen. Eine leichte Brise wehte über die Dachterrasse, eines der vielen, eng aneinander gebauten Häuser der dritten Oase und streifte Takaits kurzes, dunkles Haar. Zusammen mit den Karawanenführern hatte sie hier unter einer palmblattgedeckten Laube kampiert, aber Takait wusste nicht einmal wer der Eigentümer des Hauses war. Alles, was sie erfahren hatte, war, dass der Hausherr abwesend war und, dass die Beduinen ein Dienstmädchen kannten – woher wollte Takait lieber nicht wissen - das sie hier übernachten ließ. Zwischen den Räumen der Laube gab es keine Türen. Vorhände waren der einzige Schutz der Privatsphäre. Takait hätte es daher vorgezogen, in einem der Räume des Hauses zu schlafen, aber niemand hatte sie nach ihrer Meinung gefragt.
Kinderlachen drang zu ihr und Takait bemerkte zwei Mädchen von circa sieben und acht Jahren, die auf der Terrasse des Nachbarhauses Senet spielten. Ihre Mutter gesellte sich zu ihnen. Mit ernstem Gesicht sagte sie etwas zu ihren Töchtern und alle drei stiegen ins Haus hinab.
Auf einem anderen Dach legte eine Frau Brotteig zum Aufgehen in die Sonne aus. Auch die Nomaden waren damit beschäftigt, ein karges Mahl vorzubereiten. Takait hingegen zerbröselte ganz vorsichtig zwischen den Fingerspitzen einige Beeren und Blätter, die sie auf unterwegs heimlich gesammelt hatte. Dabei vermied sie es, auf ihre Hände zu schauen, um nicht auch die Blicke ihrer Entführer dorthin zu lenken. Die anstrengende Reise zur ersten Oase war für Takait kein völliger Fehlschlag  gewesen, denn der Priester, der für die Zubereitung der Heilkräuter zuständig war, hatte sie einige äußerst nützliche Rezepte gelehrt.
Nur leider war ihre Lehrzeit im Klostergarten allzu kurz gewesen und außerdem fehlten ihr momentan der Mörser und ein Stein zum Reiben. Zur Beruhigung rief Takait sich ins Gedächtnis, dass selbst wenn ihr die Zubereitung der Medizin misslang, ihre Gefangenschaft bald zu Ende sein würde, da die Nomaden sie nicht auf Dauer rund um die Uhr bewachen konnten. Spätestens, wenn sie ihren Dienst im Tempel antrat, war sie dem Zugriff der Karawanenführer entzogen. Fast hätte Takait bei der Arbeit vor sich hingesummt, aber sie beherrschte sich, denn ihre gute Laune hätte sicher den Argwohn der Beduinen erregt.
Wieder schweifte ihr Blick über das Labyrinth der flachen Dächer. Zwar hatte die Dienerin die Leiter, die auf die Dachterrasse führte heruntergezogen, aber für eine akrobatische Tänzerin wie sie wäre es ein Kinderspiel, auf eines der Nachbardächer zu gelangen, wenn nur die Nomaden nicht abwechselnd Wache hielten!
Abdul schaute von seiner Arbeit hoch und als sich ihre Blicke trafen, bedachte er Takait mit einem anzüglichen Grinsen. Takait senkte augenblicklich verärgert die Lider. Der jüngere Beduine war Takait mittlerweile zuwider, weit mehr noch als sein grober Kamerad, der sie wenigstens in Frieden ließ.
Bald wird er mich nicht mehr belästigen, dachte sie und knetete so unauffällig wie möglich das kleine, grüne Kügelchen, das sie mittlerweile geformt hatte. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Abdul sie noch immer beobachtete und sie hoffte, dass er nicht die Bewegungen ihrer Finger bemerkte. Sie musste ihn dringend irgendwie ablenken, am besten, indem sie ein Gespräch begann.
„Wollt Ihr diesmal selbst in den Tempel einbrechen?“, fragte sie daher, denn sie wunderte sich darüber, dass die Nomaden bisher noch keinerlei Kontakt zu ihren Komplizen aufgenommen hatten.
„Das wirst du für uns erledigen“, antworteten beide Beduinen wie aus einem Munde, der ältere grimmig und der jüngere mit einem sadistischen Grinsen.
Takaits Herz setzte einen Augenblick aus. Dann begann ihr Puls zu rasen, denn mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet.
„Aber vielleicht bin ich auch so nett, dich zu begleiten“, bot ihr Abdul weiterhin grinsend an.
Takait zwang sich mühsam, nicht zu widersprechen, denn nach einem Streit würde es noch schwieriger sein, die beiden zu betäuben. Seit man sie verschleppt hatte, suchte Takait nach einer Gelegenheit, den Männern ein Schlafmittel zu verabreichen, aber bisher wusste sie noch immer nicht, wie sie dies bewerkstelligen sollte, denn die Nomaden bereiteten sich ihre Nahrung selbst zu. Diese bestand überwiegend aus Fladenbrot und gegrillten Wild. Takait bekam ihre Ration von ihnen zugeteilt, ohne dem Kochgeschirr auch nur nahe zu kommen.
Auch in die Getränke konnte man den Männern keine Kräuter schütten, denn - außer Wasser aus dem Brunnen - war Wein die einzige Flüssigkeit, die die Nomaden zu sich nahmen, wenn sie weitab der Städte durch die Wüste zogen - und den Weinschlauch hütete Abdul wie seinen Augapfel. Ihre Bitte, ihr auch etwas abzugeben hatte er mit der Bemerkung beantwortet, sie sollte vorher etwas netter zu ihm sein.
Takaits Grübelei wurden jäh unterbrochen von dem Dienstmädchen, das hastig die Leiter heraufgeklettert kam. Sie war klein, schüchtern und mager, aber Takait stellte voller Neid fest, dass sie schöne, eng am Kopf anliegende Ohren besaß.
„Ihr müsst sofort verschwinden! Mein Herr ist plötzlich zurückgekommen!“, tuschelte sie mit gedämpfter Stimme. Ihr Gesicht war wie versteinert, ihre Körperhaltung höchst angespannt, aber Takait hörte dies nur allzu gern, denn alle Feinde der beiden Nomaden waren ihre natürlichen Verbündeten.
„Hast du nicht gesagt, dass er noch fünf Tage abwesend sei?“, fragte der ältere Nomade. Er machte keinerlei Anstalten zu verschwinden.
Das Dienstmädchen blickte ihn geradezu verzweifelt an.
„Es ist etwas Schreckliches geschehen: Die Bewohner der ersten Oase habe uns den Krieg erklärt. Ihr Labyrinth ist eingestürzt und auch der große Sphinx wurde zerstört. Nun machen sie unsere Neith-Priester für den Zorn der Hathor verantwortlich, denn sie glauben, diese hätten die Göttin durch Magie gegen sie aufgebracht. Als mein Herr dies vernommen hat, hat er seine Geschäftsreise beendet.“Â
Die Nomaden reagierten erstaunlich ruhig auf diese niederschmetternde Nachricht. Takait hingegen fühlte, wie ein eisiger Schauer sie durchfuhr. Wenn sie der Hausbesitzer wäre, hätte sie ihr Heil in der Flucht gesucht, statt vorzeitig zurückzukehren.
„Wir bleiben hier!“, erklärte der ältere Beduine ohne mit der Wimper zu zucken, „überleg dir gefälligst irgendeine Ausrede. Von mir aus, kannst du gern sagen, dass wir deine Verwandten sind.“
„Aber…“
Der Nomade machte eine abwehrende Handbewegung, die er durch einen wütenden Blick unterstrich.
„Geh jetzt! Es wird besser sein, wenn du mit deinem Herrn sprichst, bevor er uns findet.“
Das arme Mädchen war offensichtlich sein ganzes Leben lang Magd gewesen, denn sie gehorchte ohne weitere Widerrede.
„Warum verschwinden wir nicht, bevor der Kampf beginnt?“, fragte Takait, nachdem das Mädchen wie ein getretener Hund die Treppe hinab gestiegen war. „Wenn die Feinde siegen…“
„Wer auch immer siegen mag, es wird ein großes Durcheinander geben, genau der richtige Zeitpunkt für unseren Beutezug, denn dann werden die Priester abgelenkt sein“, antwortete der ältere Nomade, der es noch immer nicht für nötig befunden hatte, Takait seinen Namen zu verraten, eigentlich verständlich, wenn man bedachte, dass es sich um einen Gesetzlosen handelte.
Die Dienerin kehrte nach kurzer Zeit zurück. Sie hatte verweinte Augen und noch immer rannen ihr Tränen die Wangen hinab.
„Der Herr möchte euch sprechen. Ich soll euch zu ihm bringen!“
Takait stand auf und zu ihrem Ärger machten die beiden Beduinen Anstalten, ihr zu folgen.
„Mein Herr hat darauf bestanden, die junge Frau unter vier Augen zu sprechen“, fügte sie einem entschuldigenden in Richtung der Nomaden hinzu.Â
Takait beeilte sich die Terrasse zu verlassen, weil sie befürchtete, den beiden könnte doch noch ein Vorwand einfallen, sie zu begleiten. Sie vermeinte, als sie auf die Leiter zuging, den bohrenden Blick der beiden geradezu im Rücken zu spüren.
Als Takait den Hauptraum des Hauses betrat, musste sie zugeben, dass sie das Haus ihres unfreiwilligen Gastgebers im flackernden Licht der Kerzen falsch einschätzt hatte. Es war keinesfalls ein einfaches Haus wie jedes andere: Bemalte Friese liefen um die Wände und umrahmten die Türen. Es roch nach frischen Schnittblumen und die Räume waren großzügig mit Truhen, hölzernen Liegen, runden Tischen und gedrechselten Stühlen mit geflochtenen Sitzflächen ausgestattet.
Auf einem dieser Stühle saß ein beleibter Mann mittleren Alters mit einem freundlichen Gesicht, das aber an diesem Morgen alles andere als Wohlwollen ausdrückte. Er bedachte die Nomaden, die auch in ägyptischer Kleidung nicht besonders vertrauenserweckend aussahen mit finsteren Blicken. Die helle Haut des Hausherrn verriet, dass er nicht im Freien arbeiten musste. Wahrscheinlich handelte es sich um einen höheren Beamten, wozu auch das wohleingerichtet Haus gut passen würde.
„Das sind meine Vettern Ipepi und Sethos“, sagte die Dienerin auf die Männer deutend. Takait hätte ihr kein Wort geglaubt, wenn sie anstelle ihres Herrn gewesen wäre, zumal die beiden Gesellen nicht nach Ägyptern aussahen.
Die Dienerin stockte und Takait wusste warum, denn sie wusste nicht, wer Takait war. Takait beschloss spontan, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und die Unsicherheit des Mädchens auszunutzen.
„Ich bin die Tempeltänzerin Takait“, stellte sie sich vor, denn schließlich war dies kein Geheimnis. „Ich habe vor Eurem Haus einen Schwächeanfall erlitten und Eure Dienerin war so nett, mich zu bewirten.“ Takait warf dem Mädchen das freundlichste Lächeln zu, das sie unter diesen misslichen Umständen zustande brachte. „Glücklicherweise geht es mir wieder besser und ich möchte Euch nicht länger zur Last fallen, zumal man mich im Tempel der Neith bereits erwartet.“
Takait wartete nicht auf eine Antwort, sondern wandte sich augenblicklich zum Gehen. Als sie dem Hausherrn zum Abschied zunickte, bemerkte sie, dass dieser sie mit Wohlgefallen betrachtete.Â
„Man sieht sofort, dass Ihr nicht zu diesen, diesen Männern gehört.“ Er spuckte das Wort aus wie eine Beleidigung.
Abdul öffnete den Mund zum Sprechen, aber der andere Nomade, den das Mädchen genannt hatte, bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen.
„Vielen Dank für alles, aber ich muss jetzt gehen“, erklärte Takait, „Ich hatte heute Nacht einen Traum, von dem ich dem obersten Priester des Neith-Tempels berichten muss.“
Takait hatte dies aufs Geradewohl gesagt, aber im selben Augenblick, als sie diese Worte aussprach wusste sie, dass dies der Wahrheit entsprach, obwohl ihr der Traum erst jetzt ins Bewusstsein kam.
„Dann will ich Euch selbstverständlich nicht länger aufhalten!“ Das Gesicht des Hausherrn ließ erkennen, dass er beeindruckt war. „Bitte empfehlt mich dem obersten Priester.“
„Selbstverständlich!“, erklärte Takait, die hoffte, dass man sie nun endlich gehen ließ, „die Götter sind mit den Gastfreundlichen.“
Takait ließ sie sich von dem Dienstmädchen herausführen, das offensichtlich froh war wenigstens einen der unliebsamen Besucher loszuwerden.
„Du schuldest mir noch einen Gefallen für die Geschichte, die ich deinem Herrn aufgetischt habe“, sagte Takait und sah dem Mädchen fest in die Augen. „Als Gegenleistung möchte ich, dass du sagst ich sei nach rechts gegangen, nur für den Fall, dass dich jemand danach fragen sollte.“
Die Dienerin nickte geflissentlich, aber Takait wusste, dass das Mädchen alles gleich brühwarm den Nomaden berichten würde und natürlich auch ihrem Herrn, der sie offenbar attraktiv fand. Aber Takait wusste, dass die Männer ihr nicht trauten und daher meinen würden, dass sie gelogen hatte. Aus diesem Grund hatte Takait auch dem Hausherrn wahrheitsgemäß mitgeteilt, dass sie den Tempel aufsuchen wolle. Nun würden die Beduinen sie überall suchen, nur nicht im Tempel der Neith.
Glücklicherweise besaß das Haus, wie die meisten Bauten der Oase kein Fenster zur Straße, weshalb man von innen nicht beobachten konnte, wohin Takait ging. Auf der Straße angekommen wartete sie, bis die Tür hinter ihr abgeschlossen wurde, erst dann bog sie in die rechte Straße ein. Sie war bereits um die nächste Ecke gebogen, als Takait schlagartig einfiel, dass sie den dicken Mann nach seinem Namen hätte fragen sollen. Sie schalt sich selbst eine Närrin, denn nun konnte sie seine Botschaft nicht ausrichten. Wer weiß, wozu dies noch gut gewesen wäre!
*
Besucher hatten ihre Namen in die Wände der Umfassungsmauer des Tempels geritzt. Dies zeigte, dass der Neith-Tempel als Sehenswürdigkeit galt und zugleich ein Ziel frommer Pilger war. Auch Takait hatte sich schon darauf gefreut, den Tempel endlich wieder einmal zu besuchen, jedoch nicht unter diesen misslichen Umständen! Sie hatte sich am Vortag als Tänzerin beworben und es hatte den Anschein gehabt, als ob ihre Chancen angenommen zu werden gut waren. Ihr Tanz hatte jedenfalls den Priestern gefallen. Leider waren aber die Nomaden nicht von ihrer Seite gewichen. Sie hatten sich als ihre Brüder ausgegeben, die angeblich ihrem Vater geschworen hatte, sie zu beschützen. Es hatte sie irritiert, dass man den Männern nicht den Zutritt verweigert hatte, denn normalerweise war dieser nur dem Pharao und den Priestern gestattet. Ob die Nomaden bereits Komplizen im Tempel besaßen?
Takaits Blick wanderte an einer der beiden Nadeln aus Stein hoch. In ihren vergoldeten Spitzen spiegelte sich das Sonnenlicht. Dies schaffte eine Verbindung zum Sonnengott, den Sohn der Neith. Die Inschriften auf der Nadel priesen den Pharao und die Götter. Takait las etwas „von ewigen Durst“, zu dem die Feinde des Tempels verflucht werden sollten und es schauderte sie.
Sie dachte an das Schreiben, das sie Peter mitgegeben hatte und dieser Gedankte löste sich widersprechende Gefühle aus, einerseits bekam sie ein schlechtes Gewissen, andererseits ärgerte sie sich, mit welcher Selbstverständlichkeit die Fremden hingenommen hatten, dass sie die schwierige Kunst des Schreibens beherrschte. Dies war selbst unter den Männern eine sehr seltene Fähigkeit, die Takait nur erlernt hatte, weil sie die Stieftochter eines Vorlesepriesters war.Â
Als das Portal durchschritt, das von zwei Skulpturen der Neith bewacht wurde fühlte sie nicht besonders wohl in ihrer Haut. Eigentlich hatte sie kein Recht mehr, das Haus der Göttin zu betreten. Es haftete ein Makel an ihr, den jeder sehen konnte. Sie war keine Tänzerin, sondern eine Spionin, schlimmer noch, sie hatte geholfen das Pharaonengrab der ersten Oase zu berauben.
Zwei Priester der Tempelpforte traten ihr in den Weg und Takait äußerte ihr Anliegen. Die beiden Männer erwiderten nichts, sondern beratschlagten so leise untereinander, dass die Tänzerin kein Wort verstand. Dann verschwand einer von ihnen mit einer wichtigen Miene im Inneren der Anlage. Noch ehe Takait sich darüber beschweren konnte, dass man sie unnötig warten ließ kehrte er mit einem Priester zurück, dessen reicher Schmuck auf hohen Rang hinwies. Er trug nicht nur das Leopardenfell der Priester der ersten Ordnung, sondern auch unzählige goldene Armreife, wertvolle Ohrringe und einen juwelbesetzten Brustschmuck.
„Bitte folge mir“, sagte er in einem befehlsgewohnten Tonfall zu Takait schritt ihr voran durch den Innenhof.
Der goldene Schmuck des Priesters glitzerte in der Sonne und Takait war heilfroh, im Tempel in Sicherheit vor den Nomaden zu sein. Kauernde Sphingen säumten den die Außenmauern und in die Tempelfront waren monumentale Reliefs eingehauen. Sie berichteten von der Erschaffung der Welt und von den Taten der Göttin Neith.
Zwillingssteinnadeln säumten den Eingang des auf den Hof folgenden Traktes. Ihr Führer durchmaß mehrere aufeinander folgende repräsentative Säle und langsam fragte sich Takait, wohin er sie wohl brachte. In einem Raum, der kleiner war als die vorangegangenen, blieb der Priester abrupt vor dem rückwärtigen Portal stehen. Er wandte sich der Tänzerin zu und musterte sie wie ein strenger General einen schwächlichen Rekruten.
Die Wachen traten beiseite und Takait durchschritt das Portal. Sie gelangte in einen hohen Raum von gewaltigem Ausmaß, dessen Decke von zwei Säulenreihen getragen wurde.
Große Göttin, ich bin im innersten Heiligtum des Tempels, durchfuhr es sie mit einem Schauer. Wie oft hatte sie von diesem Augenblick geträumt! Doch damals hatte sie sich vorgestellt, zur Neith-Priesterin geweiht zu werden. Es sollte ein Freudentag werden, doch beängstigend war ihr heutiger Besuch!
Takait fühlte sich wie eine zum Tode verurteilte Gefangene. Es beunruhigte sie, dass der reich geschmückte Priester draußen geblieben war. Sie war allein. Takait schalt sich selbst eine Törin. Wie konnte sich nur annehmen, dass der Saal menschenleer war. Als sich ihre Augen etwas an das Dämmerlicht im Tempel gewöhnt hatten, bemerkte sie zu beiden Reihen des Mittelgangs lange Reihen von kahlköpfigen, weißgewandeten Priestern mit Weihrauchwedeln in den Händen. Hölzernen Statuen gleich standen sie reglos Spalier.
Wie von einer fremden Kraft angezogen schritt Takait langsam auf das Allerheiligste des Tempels zu. Schon konnte sie die drei Nischen mit den Götterbildern erkennen, deren Heimstätte dieser Tempel war. Ihre Körper waren farbig und Takait kannte ihre Namen. In der mittleren Nische, die etwas größer war als die beiden anderen stand die Herrin dieses Tempels: Die menschengestaltige Neith, die die Wege öffnete. Daher schritt sie als Schutzgöttin voran, gefolgt vom Pharao und seinem Heer. Sie trug die rote Krone Unterägyptens, was nur noch eine Erinnerung an eine längst vergangene glanzvolle Zeit war. Die Göttin wurde meist mit Pfeil und Bogen dargestellt, aber sie war auch die Vorsteherin des Bienenhauses des Osiris zu Sais und die Beschützerin des Wassers. Zu ihren Seiten assistierten ihr ihre beiden Söhne: Re mit der Sonnenscheibe und der krokodilgestaltige Sobek. Vor diesem Wassergott mit seinem todbringenden Zähnen hatte es Takait schon immer gegraut. Daher wäre sie auch am liebsten Priesterin der friedlichen Hathor gedient.
Ein vergoldeter Stuhl stand auf einem dreistufigen Podest vor der mittleren Nische. Seine Füße hatten die Form von Löwenpranken, während die Armlehnen in Löwenköpfen endeten. Auf diesem prächtigen Sitz thronte ein alter Mann, bei dem es sich nur um den obersten Priester in vollem Ornat handeln konnte, denn sein Schmuck war noch viel wertvoller als der seines Boten. Er trug einen sorgsam gefältelten Schurz und goldene Sandalen.
Der schwere Geruch von Weihrauch machte Takait leicht benommen und der oberste Priester verströmt eine Autorität die ihren Blick zu Boden drückte, zumal sie auf diese Begegnung nicht vorbereitet war.
Sie war davon ausgegangen, dass man sie lange warten lassen würde und sie dann zuerst vor einen niedrigrangigen Priester geführt werden würde. Daher hatte sie sich noch nicht überlegt, welches ihrer Anliegen sie zuerst vorbringen sollte. Zu nervenaufreibend war der Weg zum Tempel für sie gewesen, als dass sie auch nur einen Gedanken daran verschwendet hätte. Immer erwartend, dass sich eine plötzlich eine Hand von hinten auf ihre Schulter legen würde, hatte sie sich erst sicher gefühlt, als der Priester der Pforte sie hereingelassen hatte.
Als Takait schließlich vor dem Thron stand, machte sie eine tiefe Verbeugung und bedankte sich für die Ehre, in den inneren Tempel vorgelassen zu werden.
Die stechenden Augen des alten, glatzköpfigen Mannes signalisierte Takait, dass seine Zeit nicht mit Höflichkeitsformeln verschwendete. Ihr Blick wich dem seinen aus und streifte zufällig die rechte Seitenwand des Saals, die mit Wandmalereien bedeckt waren, die in mehreren Registern längst verstorbene Priester zeigten, sowie Pharaonen, die ihnen huldigten.
Dann gab sie sich einen Ruck und begann zu sprechen.Â
„Ich bin…“
„Takait, die Tänzerin, die sich gestern in unserem Tempel beworben hat.“ Der oberste Priester sprach ruhig und getragen, aber er fixierte die Tänzerin noch immer mit seinen dunklen Augen. „Bitte verschwende also nicht meine kostbare Zeit und komm zur Sache. Der Priester der Pforte sagt, du hast einen bedeutungsvollen Traum gehabt.“
Takait sagte sich, dass es vielleicht wirklich das Beste war, mit ihrem Traum zu beginnen.
„Ich habe im Traum, gesehen, dass Ptah einem jungen Pharao das Chepesch-Schwert überreicht hat, damit er das alte Reich von Ober- und Unterägypten wiederherstellen möge!“
Der oberste Priester warf einen scharfen Blick über die Schulter nach hinten und sofort kam ein jüngerer Priester herangeschossen.“
„Du hast ihre Worte gehört?“
Unmöglich zu sagen, was in dem obersten Priester vorging. Auch sein jüngerer Kollege verzog keine Miene. Er nickte langsam und bedächtig.
„Lass dir aus dem Stall des Tempels einen Streitwagen und zwei Pferde geben und reite sofort zu unserem Feldherrn. Er muss diese Nachricht noch vor der Schlacht erhalten.“
Wieder nickte der jüngere Priester. Ohne zu fragen, wo er den Feldherrn finden könne eilte er davon.  Â
Der oberste Priester musterte Takait von Kopf bis Fuß. Wenn ich vor ihm hätte vortanzen müssen, hätte ich dies nicht vermocht, dachte sie äußerst beunruhigt. Was mochte dieser schreckliche Mensch von ihr wollen?
„Zwei Fremde haben nach dir gefragt.“
Die Worte trafen Takait wie ein Faustschlag. Hatten die Nomaden sie bereits aufgespürt? Lauerten sie ihr im Tempel auf? Aber dann hätte der Priester wohl kaum von Fremden gesprochen, denn schließlich hatte er die Beduinen am Vortag bereits kennengelernt.
„Tatsächlich?“, frage sie so beiläufig wie möglich. „Haben sie ihre Namen genannt?“
„Ja, aber sie waren so unaussprechlich, dass ich sie mir nicht gemerkt habe.“ Der oberste Priester sah Takait mit seinen durchdringenden braunen Augen an. „Es waren ein alter Mann mit einem barbarischen, weißen Bart, der ein noch barbarischeres Ägyptisch sprach und ein junger rothaariger, der sich für die Gräber der Pharaonen interessiert hat. Der junge Mann hat in einer uns allen unbekannten Sprache Fragen gestellt und der alte hat seine Worte mehr schlecht als recht übersetzt.“
Es waren also nicht die Beduinen! Takait war darüber so erleichtert, dass sie fast gelacht hätte, aber der oberste Priester beäugte sie noch immer abschätzig. Dann fragte sie sich ganz plötzlich, ob es sich bei dem jungen Mann am Ende um Johann handelte. Aber wer war dann der Alte? Und wie hatte Johann die dritte Oase so schnell erreichen können? Schließlich sollte die Karawane erst in wenigen Tagen hier ankommen.Â
„Der Vorlesepriester hatte mich rufen lassen, damit ich mir den jungen Fremden selbst ansehe“, unterbrach die leicht hämische Stimme des obersten Priesters Takaits Gedanken, „denn er fand es merkwürdig, dass dieser nach einer Tempeltänzerin namens Takait gefragt hat, die ihm angeblich etwas gestohlen hat. Leider hat er nicht gesagt, was es war.“
Takait verschluckte sich fast vor Schreck. Der oberste Priester kostete die Wirkung seiner Worte genüsslich aus. Offensichtlich machte es ihm Freude, andere Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen.
Takaits Gedanken überschlugen sich. Wenigstens hatte Peter nicht den Oasenkrokus beim Namen genannt. Oder hielt der Priester weiterhin Informationen zurück? Takait war nicht mehr gewillt, dies Spiel mitzuspielen. Sie musste schleunigst dem Gespräch eine andere Wendung geben.
„Das ist eine lange Geschichte“, begann sie schließlich, „aber ich habe nicht die Zeit sie zu erzählen, denn dem Tempel der Neith droht Gefahr.“
„Und warum hast du dem Bruder des jungen Fremden erzählt er müsse Grantäpfelkerne essen?“, fragte der Priester, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.
Takait ärgerte sich über die Hartnäckigkeit des alten Mannes.
„Er hat eine Katze getreten und danach begann er sich aufzulösen“, log Takait, weil ihr keine vernünftige Begründung für ihr Verhalten einfiel. „Sein Bruder kann mich nicht leiden …“
„Das war nicht zu übersehen“, unterbrach der oberste Priester. „Fasse dich kurz. Was ist dir über die Gefahr bekannt, die unserem Tempel angeblich droht? Du sagtest doch dergleichen zum Priester der Pforte und hast eben schon wieder eine diesbezügliche Andeutung gemacht?“
Ohne groß nachzudenken, beschloss Takait alles zu gestehen. Dann berichtete sie von den Grabräubern, die sie erpresst hatten, wobei sie aber mit Nachdruck betonte, dass sie keinerlei Anteil an deren Sakrileg gehabt hatte. Der Priester hörte sich ihre Geschichte an ohne die Mine zu verziehen.
„Die beiden Männer, die sich als meine Brüder vorgestellt haben sind Karawanenführer“ fuhr Takait fort. „Sie haben mit den Grabräubern zusammengearbeitet. Dann haben sie mich entführt, denn sie wollten mich zwingen ihnen zu helfen. Durch einen glücklichen Zufall gelang es mir, ihnen zu entkommen…“
„Warum hast du dies nicht gleich gesagt?“
Weil ihr mich nicht habt ausreden lassen, hätte Takait am liebsten erwidert, doch sie verkniff sich den Kommentar.
Der alte Mann schlug auf einen Gong und aus allen Richtungen kamen kahlköpfige Männer herbeigeeilt. Dann warf der oberste Priester Takait einen finsteren Blick zu.
„Preise dich glücklich, dass du diesen Traum gehabt hast. Anderenfalls hätten wir dich für dein Verhalten in der ersten Oase zur Rechenschaft gezogen!“ Takait hatte den Eindruck, dass es ihm sehr Leid tat, davon Abstand nehmen zu müssen. „Aber, wenn Ptah dich als Werkzeug auserwählt hat so ist es nicht an uns, dich zu verurteilen.“
Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen, dachte Takait. Sie murmelte einige halbherzige Dankesworte. Dann zog sie sich gerade so schnell zurück, dass es nicht nach einer Flucht aussah, denn sie befürchtete, dass der für seine Strenge bekannte oberste Priester es sich anders überlegen könnte.
„Vielleicht interessiert dich, was einer unserer Spitzel vorhin berichtet hat“, sagte der alte Mann als Takait den Saal bereits zu einem Drittel durchquert hatte. „Ein selbsternannter Priester hat einen Fremden entführt. Er will ihn dem Sobek opfern, damit die Feinde unserer Oase in der Wüste verdursten.“
Wie angewurzelt blieb Takait stehen. Die Worte durchbohrten sie wie ein Dolch. Das konnte nur einer ihrer Reisegefährten sein. Takait begann am ganzen Körper zu zittern, doch sie versuchte, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen, denn sie spürte, dass der oberste Priester dies sagte, um sich an ihrem Entsetzen zu weiden. Außerdem war es den Bewohnern der Sobek-Oasen verboten, mit Fremden zu sprechen, auch wenn sich niemand daran hielt.
„Wisst Ihr, wie er heißt?“, fragte sie mit klopfenden Herzen, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie die Antwort wissen wollte.
„Das hat unser Informant nicht gesagt. Er hat nur berichtet, dass es sich um einen jungen Mann von Anfang Zwanzig handelt, der auf dem Tempelvorplatz herumgelungert hat.“
Takait war einen Augenblick lang irritiert, denn der Bericht des Priesters hatte danach geklungen, dass Johann mit einem alten Mann den Tempel aufgesucht hatte. Konnte es sein, dass sein Bruder draußen geblieben war? Takait versuchte, diesen unangenehmen Gedanken wegzuschieben, was ihr jedoch nicht gelang. Der Gedanke kam zurück, lauter, drängender. Takait fand es gerade empörend, dass die Priesterschaft dieser Barbarei kein Ende bereitete, wer auch immer der Unglückliche sein mochte, den man dem Krokodilgott opfern wollte. Â
„Und warum unternehmt ihr nichts?“, fragte Takait daher heftiger als sie wollte, zumal ihr bewusst geworden war, dass sie wie angewurzelt inmitten des kolossalen Saales stehen geblieben war und der haftende Blick des obersten Priesters noch immer auf ihr ruhte.
„Normalerweise würden wir selbstverständlich einzugreifen versuchen, aber momentan, wo unsere Feinde vor der Stadt lagern, ist dies zu gefährlich. Außerdem ist es doch nur ein Fremder. Vielleicht haben wir Glück und Sobek nimmt das Opfer gnädig an. Der Krokodilgott ist schließlich der Sohn der Neith und wir können momentan nicht auf einen derart mächtigen Verbündeten verzichten.“
Takait stürzte aus dem Raum, bevor sie Gefahr lief etwas Unkluges zu sagen. Als sie an den beiden Priestern vorbeieilte, die das Portal bewachten, kam ihr plötzlich in den Sinn, dass die Nomaden ihr draußen auflauern könnten. Leider waren sie nicht dumm und viele Möglichkeiten auf dieser Oase unterzutauchen gab es nicht.
Sie blieb abrupt stehen und dachte einen Augenblick lang nach. Dann begab sie sich zu Hori, dem Priester des ersten Tempelhofes, denn es war ihr am Vortag nicht entgangen, wie dieser versucht hatte, sie nicht anzustarren, als sie bei ihrer „Aufnahmeprüfung“ vor der Priesterschaft getanzt hatte. Wieder war Takait froh, dass der oberste Priester sich nicht die Ehre gegeben hatte.
„Könntet Ihr vielleicht beim Verwalter der Tempelgärten ein gutes Wort für mich einlegen?“, fragte sie ihn mit dem freundlichsten Lächeln, das sie zustande brachte. „Ich würde sehr gern für einige Tage im Tempel Quartier nehmen, notfalls übernachte ich im Garten.“
„Warum so unbequem?“, fragte Hori mit einem undefinierbarem Gesichtsausdruck zurück. Takait fühlte sich in seiner Gegenwart unwohl, denn sie hatte das ungute Gefühl, dass er sie durchschaute. „Wir haben im Tempelbereich auch einige Gästezimmer, da manchmal auswärtige Priester hier übernachten.“
Takait bedankte sich überschwänglich, doch war sie bereits in Gedanken woanders. Wie konnte sie nur – ohne den grässlichen Karawanenführern in die Arme zu laufen - Kontakt mit Johann aufnehmen, um ihn zu fragen, wie es seinem Bruder ging?   Â
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21. Das Wiedersehen
„Wachen Sie auf“, sagte Johann und schüttelte Menas an der Schulter. Seine verschwitzten Finger umklammerten eine kleine Schriftrolle, deren Inhalt er augenblicklich dem Reisegefährten mitteilen musste.
„Was ist denn los? Kannst du mich nicht ausschlafen lassen“, fragte der alte Mann unwirsch, gähnte herzhaft und rieb sich noch völlig schlaftrunken die Augen.
„Ich habe wichtige Nachrichten!“, erklärte Johann und hielt dem Priester die Schriftrolle vorwurfsvoll unter die Nase.
„Du bist ja ganz aufgeregt!“, meinte Menas und der grantige Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. „Ist dein Bruder endlich zurückgekommen?“
Eben hatte sich Johann noch über die Nachricht, die er erhalten hatte gefreut, aber bei dem Gedanken an Peter wich seine Euphorie der Ernüchterung. Johann fühlte sich, als ob man ihm einen Eimer kalten Wassers über den Kopf geschüttet hätte. Es war egoistisch von ihm gewesen, dass er den Bruder einen Augenblick lang vergessen hatte.
„Nein“, murmelte er und ließ sich auf das leere Lager fallen, auf dem Peter vor seinem Verschwinden geschlafen hatte. Noch immer logierten sie nicht in der Herberge, die der Schwager des Priesters ihnen empfohlen hatte, sondern hausten weiterhin in der verlausten Karawanserei, da der Bruder sie gewiss hier als erstes suchen würde, wenn er zurückkommen sollte. „Ein Bote hat mir vorhin für ein horrendes Bakschisch eine Nachricht des Priesters des ersten Tempelhofes übermittelt.“ Johann hielt die Schriftrolle demonstrativ in die Luft und machte eine kurze Pause, um seinen Worten eine größere Bedeutung zu verleihen. „Offenbar konnte Takait flüchten! Sie hat mittlerweile im Tempel Zuflucht gefunden.“
Menas stützte sich schläfrig auf seinen Ellbogen und nahm das Schriftstück ohne große Begeisterung in Empfang.
„Also das Englisch dieses Hori, der den Text verfasst hat, ist auch nicht besser als mein Ägyptisch, über das du dich so lustig gemacht hast“, brummte er, während seine Augen über die Zeilen wanderten, aber er machte noch immer keinerlei Anstalten aufzusehen.
„Wir sollten unsere Zeit nicht mit Schlafen verschwenden“, drängte Johann, der bei dem Gedanken an die herannahenden Soldaten von Panik ergriffen wurde, „wir müssen dringend Peter finden und außerdem brauche ich dringend diesen seltsamen Oasenkrokus, damit der ägyptische Schatten mich nicht noch mal heimsucht! Daher möchte ich nicht riskieren, dass die wankelmütige Takait mir schon wieder entwischt.“
„Unwahrscheinlich, erst übermorgen verlässt eine Karawane die dritte Oase. Auch wir müssen solange hier ausharren“, erklärte der alte Mann und drehte Johann den Rücken zu, „ich versäume daher nichts, wenn ich noch ein paar Minuten schlafe.“
„Aber …“
„Es ist eine reine Gefälligkeit, dass ich dich noch mal in den Ort begleite und dabei riskiere schon wieder einem Familienmitglied meiner Frau über den Weg zu laufen“, unterbrach der alte Kopte Johann, „aber, wenn es denn unbedingt sein muss, möchte ich wenigstens einigermaßen ausgeschlafen sein. Also lass mich gefälligste noch mindestens eine halbe Stunde in Ruhe.“
Einen Augenblick lang beschlich Johann der hässliche Verdacht, dass Menas diese Oasenkrokus-Geschichte nur erfunden hatte, um ihn zu beruhigen oder schlimmer noch: Um ihn loszuwerden, denn Menas hatte sie in Alexandria zwar in seinem Hause beherbergt, aber hatte sich gezeigt, dass er dieses spontane Angebot bald bereut hatte. War es nur ein Ammenmärchen, dass der Oasenkrokus gegen ruhelose Geister half? Aber das konnte nicht sein! Schließlich existierte dieses Wunderkraut tatsächlich und es wurde bewacht wie ein Kronschatz.
„Sie meinten ihre ehemalige Frau“, verbesserte Johann schließlich den Reisegefährten. Am liebsten hätte er hinzugefügt, dass nur sein übermäßiger Weinkonsum vom Vortag daran schuld war, dass es ihm momentan so schlecht ging, aber Johann war auf die Hilfe des alten Mannes angewiesen. Also sollte er ihn nicht mutwillig verärgern.
„Ja, ich vergesse immer wieder, dass wir nach ägyptischen Recht nicht mehr verheiratet sind“, brummte Menas in sich hinein und drehte Johann den Rücken zu.
Johann fragte sich, wie es dem Bruder nur gelungen war, dass man ihn ernst nahm. Fünf Minuten lang schaute er verärgert den in seine Decke vermummten Priester an und trommelte dabei mit den Fingern auf Boden, was aber leider den alten Mann nicht zu stören schien. Dann konnte er sich nicht mehr beherrschen.
„Ich würde jedenfalls gern so schnell wie möglich von hier verschwinden“, fuhr er den Schlafenden an. „Wenn die Einheimischen Konflikte miteinander haben, sollen sie diese unter sich ausmachen! Statt unsere Zeit in dieser grauenhaften, verlausten Karawane zu verschwenden, sollten wir so schnell wie möglich alles erledigen, was uns hier noch hält. Wir müssen uns diesen komischen Krokus wiederbeschaffen, wir müssen die Mumie in ihr Grab bringen und vor allem müssen wir endlich Peter finden!“
Johann wurde es bei dieser Aufzählung ganz beklommen. Wie sollten sie all dies nur schaffen? Und noch dazu in kurzer Zeit! Johann fühlte sich, als seinen ihm, die schier unlösbare Aufgaben des Herkules gestellt worden. Trotz der sommerlichen Hitze begann er zu frösteln.
„Ist ja schon gut!“, seufzte Menas, Johann mit einem finsteren Blick bedenkend. Trotz allem aufgesetzten Desinteresse war mittlerweile unüberhörbar, dass auch die Nerven des alten Mannes blank lagen. „Wenn es denn sein muss! Was mir am immer Orient gefallen hat, ist dass es hier nicht hektisch ist wie in Europa.“  Â
*
Als Menas und Johann den Ort durchquerten, herrschte überall eine gespenstisch Atmosphäre: Ohne Passanten und Marktstände, ohne spielende Kinder und Wasserverkäufer wirkte die dritte Oase wie eine Geisterstadt. Die Häuser waren verrammelt, die verwaisten Gassen und Plätze vom Flugsand bedeckt. Überall war es unnatürlich still.
Die gleißende Helligkeit stach Johann wie Messerklingen in die Augen, die sich augenblicklich zu schmalen Schlitzen verengten, aber er sah noch immer den Sand der Sahara, den der Wind herwehte und der über kurz oder lang alle drei Sobek-Oasen unter sich begraben würde.
Noch immer konnte Johann es sich beim besten Willen nicht erklären, wo der Bruder stecken mochte. So wie die Fremden bei jedem Schritt, den sie machten von den Ägyptern beäugt wurden, war es kaum vorstellbar, dass er unbemerkt irgendwohin verschwunden war. Falls er sich verlaufen haben sollte, hätte ihm doch eigentlich jeder Oasenbewohner helfen können, denn es bedurfte wenig Phantasie, um sich vorzustellen, dass er die Karawanserei suchte.
Johann fühlte Wut über Takait in sich aufsteigen. Das war alles nur ihre Schuld! Wenn diese tückische Person nicht den Oasen-Krokus gestohlen hätte, würden Peter und er noch mit der restlichen Karawane reisen und hätten sich wahrscheinlich nicht voneinander getrennt.
Als die beiden Fremden den Neith-Tempel erreichten, waren die Wachen verdoppelt worden. Johann wunderte dies nicht, in diesen schlimmen Zeiten konnte man gar nicht vorsichtig genug sein. Bestimmt hatten es alle zwielichtigen Existenzen der Sobek-Oasen auf das goldene Opfergeschirr des Tempels abgesehen.
Menas sprach einen der Bewaffneten an, bei denen es wohl nicht um Soldaten, sondern um Priester handelte, denn sie waren kahl geschoren und mit einfachen, weißen Leinenschurzen bekleidet. Johann verstand nur ein Wort: Takait und er hielt den Atem an und fragte sich warum er eigentlich so reagierte. Wusste er nicht bereits, dass die Tempeltänzerin sich hinter den hohen Mauern des Tempels versteckte?
Ohne den alten Kopten eines Kommentars zu würdigen, öffnete der Wachtposten das Portal einen Spalt breit und rief einem seiner Kollegen im Inneren des Tempels einige barsche Worte im Befehlston zu.
Menas lachte laut auf und Johann fragte sich, ob der alte Priester noch immer betrunken war.
„Was ist hier denn hier komisch?“, fuhr er ihn an und bereute im gleichen Augenblick seinen harschen Tonfall. „Er macht mich langsam ganz krank, dass ich in diesem Land nichts verstehe!“, fügte er daher beschwichtigend hinzu.
Menas schaute ihn, noch immer schmunzelnd an.
„Er hat in den Hof gerufen: fragt Takait, ob sie da ist.“
Johann wunderte sich über sich selbst, dass er erleichtert war, dass Takait nicht in der Zwischenzeit wieder verschwunden war. Dabei war es doch höchst unwahrscheinlich, dass die Tänzerin etwas über den Verbleib des Bruders wusste.
„Also sind wir nicht schon wieder völlig umsonst durch dieses Wüstenkaff gewandert“, sagte er lächelnd zu seinem älteren Begleiter.
„Warten wir ab, ob sie sich nicht am Ende verleugnen lässt“, wandte der immer vorsichtige Menas ein. Â
Johann spitzte die Ohren und lauschte mit angehaltenem Atem: Aus dem Tempel drang lautes Stimmengewirr und er vermeinte eine weibliche Stimme zu hören. Oder war dies nur einer der jungen Priester? Manche von ihnen schienen noch halbe Kinder zu sein. Johann hörte aus der Ferne Schritte. Dann kam Takait mit steinerner Miene durch den Innenhof geschritten, gefolgte von einem jüngeren, ziemlich energisch aussehendem Priester, vor dem sie offensichtlich noch mehr Angst hatte als vor dem Wiedersehen mit ihrem Opfer. Für einen kahlköpfigen Ägypter, der seltsame Kleidungstücke trug fand Johann ihn recht attraktiv. Ob das dieser Hori war, der ihm die Nachricht über Takait geschickt hatte? Die Tatsache, dass er sie offenbar loswerden wollte, sprach eigentlich dafür.
Der junge Priester machte eine leicht ironische, einladende Geste in Richtung Menas und fügte einige Worte in einem befehlsgewohnten Tonfall hinzu. Blass und übernächtig trat Takait ins Freie. Mit einem lauten Knall schloss sich hinter ihr die Tür, kaum dass die Tänzerin das Portal durchschritten hatte.
Menas starrte sie wortlos an. Es war Johann, der die Initiative ergriff, indem er Takait beschimpfte.
„Du bist ein Diebin und eine Lügnerin!“ Der alte Menas sah Johann an, als ob er befürchtete, Johann könnte sich an Takait vergreifen, so wütend wie er war. „Was hast du mit dem Oasenkrokus gemacht? Gib ihn mir sofort zurück!“
„Aber, das darf ich doch nicht!“ Die Tempeltänzerin rang sichtbar nach Worten. „Es tut mir so leid! Ich wollte euch eigentlich nicht bestehlen.“
„Das hast du aber!“, rief Johann außer sich vor Zorn. „Warum hast du das getan?“
Ein Ausdruck von Schuldbewusstsein trat in Takaits Augen und verschwand im selben Augenblick.
„Ich konnte nicht anders!“
„Warum?“
„Johann hat ein Recht auf eine Antwort“, mischte sich Menas mit seiner gesamten priesterlicher Autorität ein. „Warum hast du ihm den Oasenkrokus gestohlen, nachdem er und sein Bruder große Strapazen auf sich genommen haben, um ihn zu besorgen?“
Takait blickte an den beiden Männern vorbei in die Ferne. Man sah ihr an, wie verzweifelt sie nach Argumenten suchte, die zu ihren Gunsten sprachen.
„Du bist doch nur zum Stehlen zur Nordoase gereist!“, fuhr Johann die Tänzerin an, bevor sie sich ihre Worte zurecht gelegt hatte, „ich habe dich durchschaut! Bestimmt hast du von Anfang an gemeinsame Sache mit den Grabräubern gemacht!“
Endlich bracht Takait das Schweigen.
„Nein, das stimmt nicht.“ Sie schaute zwischen Johann dem alten Menas hin und her. „Ich wollte im Hathor-Tempel als Priesterschülerin aufgenommen werden, aber unterwegs haben mich die Grabräuber erpresst. Sie haben mitbekommen, dass mein Stiefvater mich verheiraten wollte und ich daher von zuhause ausgerissen bin. In Wahrheit bin ich vor den Grabräubern und ihren Komplizen geflohen.“
„Dabei hättest du meinen Oasenkrokus nicht mitnehmen müssen“, protestierte Johann lautstark, obwohl er sich mit schlechtem Gewissen an die finsteren Karawanenführer erinnerte, die Takait entführt hatten.
Die Tänzerin und rückte ihre Zöpfchenperücke zurecht, die auf dem staubigen Tempelvorplatz seltsam pompös wirkte. Johann hatte den Eindruck, dass sie dies immer tat, wenn sie nervös war.
„In der Nacht, in der ich aus der Karawanserei geflohen bin, hatte ich einen schrecklichen Alptraum, in dem Hathor mir als die blutrünstige Löwin Sachmet erschienen ist. Sie hat mir aufgetragen, zu verhindern, dass die Zwiebel Ägypten verlässt.“ Takait sah Johann mit ihren großen, mandelförmigen Augen an. „Ich habe euch unterwegs nicht gefragt, was ihr mit der Oasenkrokus-Zwiebel vorhabt, denn ich wollte es gar nicht wissen. Aber jetzt stelle ich dir diese Frage: Wozu brauchst du den Krokus eigentlich so dringend, dass du dafür durch die Wüste reist?“
„Um den Fluch zu neutralisieren, der auf dem Mumiensarg steht“, antwortete Menas, bevor Johann ein Wort herausbekam und berichtete dann mit wenigen Worten, was bisher alles vorgefallen war.
„Sein Vater ist am Fluch gestorben! Das ist ja schrecklich! Wenn ich das gewusst hätte!“, entfuhr es Takait, aber sie machte noch immer keinerlei Anstalten, die Zwiebel herauszurücken.
Johann gab sich innerlich einen Ruck und er ärgerte sich über sich selbst, dass er sich fast hätte von der Tempeltänzerin einwickeln lassen.
„Gibst du ihn mir nur freiwillig, oder ….“
Johann schreckte davor zurück, den Satz zu beenden. Würde er wirklich Gewalt gegen Takait anwenden?
„Aber er darf doch Ägypten auf keinen Fall verlassen“, erklärte die Tänzerin in einem geradezu verzweifelten Tonfall, „ich kann ihn dir daher nicht geben!“
„Das hättest du dir früher überlegen sollen, du heimtückisches Biest!“, entfuhr es Johann heftiger als er wollte, aber das Gespräch begann sich im Kreis zu drehen. „Du hast uns den Krokos ausgraben lassen und jetzt gehört er mir!“
„Nein! Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht! Ich habe meine Tat später bereut. Mir wurde bewusst, dass ich mich am Garten der Göttin Hathor vergriffen habe und ich habe Angst vor ihrer Rache bekommen“, beteuerte Takait, „ihr dürft den Krokus nicht mitnehmen!“
„Warum sonst hast du uns gezeigt, wo der Krokus wächst?“, fragte Johann, ein Gedanke, der ihm zuvor seltsamerweise nicht in den Sinn gekommen war.
Mit einem rätselhaften Lächeln, das Johann geradezu provozierte sah Takait ihm in die Augen.
„Vielleicht wollte ich, dass ihr weiterhin meine Dienste als Dolmetscher benötigt?“
„Und dann stiehlst du dann unsere Zwiebel und fliehst?“, protestierte Johann. „Du widersprichst dir doch selbst! Willst du mich eigentlich für dumm verkaufen?“
Wieder zupfte Takait an ihrer Löckchen-Perücke.
„Wie ich schon mehrfach gesagt habe: Ich habe euch geholfen, den Oasenkrokus zu stehlen, weil ich mich über die Hathore geärgert habe, die mich abgewiesen hat“, wandte sie schließlich ein, „ich war verletzt und zornig, aber ich hätte daran denken müssen, dass der Oasenkrokus Ägypten nicht verlassen darf!“.
„Das wird er auch nicht!“
Dieser ungeheuerliche Vorschlag seines Reisegefährten ließ Johann verstummen, obwohl er seinen Vorrat an Schimpfworten noch lange nicht erschöpft hatte.
Menas kostete Johanns Fassungslosigkeit aus. Auch Takait starrte ihn mit offenem Mund an. Erst als er sich der Aufmerksamkeit der beiden jungen Streithammel sicher war, gab der Kopte eine Erklärung für seine Worte ab: „Der Sinn dieses Ausfuhrverbotes ist, dass kein Unbefugter den heiligen Oasen-Krokus züchten darf. Wir werden hier auf der dritten Oase eine Medizin daraus zubereiten. Dagegen werden deine heidnischen Götter nichts haben.“
Takait schwieg einen Augenblick lang mit angespanntem Gesichtausdruck. Auch Johann sagte nichts, da er den Eindruck hatte, dass Menas Takait verziehen hatten. Er selbst misstraute ihr jedoch noch immer, denn er konnte nicht vergessen, wie sie ihm nachts den Oasenkrokus gestohlen hatte.
„Ich werde darüber nachdenken“, meinte Takait einen Augenblick später und Johann war sicher, dass dies in Wahrheit nein hieß, „aber wir sollten so schnell wie möglich von dieser Oase verschwinden.“
„Nicht ohne Peter!“, protestierte Johann und Takait wurde plötzlich ganz blass.
„Wie konnte ich ihn vergessen!“, begann das Mädchen mit bebender Stimme, „Ich bin zu zurückgekommen, weil…“
„Nicht ganz freiwillig“, unterbrach sie Johann ungehalten.
„Doch, du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich hatte vor, mit euch Kontakt aufzunehmen, denn ich habe etwas Schreckliches erfahren. Bisher habe ich es nicht über das Herz gebracht, davon zu reden, habe ich einfach nicht glauben wollen, dass …“ Takaits Stimme wurde immer leiser und war schließlich kaum noch ein Flüstern. „Wo ist dein Bruder Peter? Ist er in der Karawanserei geblieben?“, fragte sie nach ein einem kurzen Zögern.
„Schön wäre es!“, erklärte Johann und eine schreckliche Vorahnung stieg in ihm auf. „Peter wollte hier draußen warten, als wir gestern im Tempel waren, aber als wir wieder herauskamen, war er verschwunden und er ist auch seitdem nicht wieder aufgetaucht. Ich habe ihn schon überall gesucht.“
„Dann haben sich meine Befürchtungen also bestätigt“, erwiderte Takait und sie erbleichte, „ich fürchte, man hat ihn gefangen genommen, um ihn … um ihn … dem Sobek zu opfern.“
„Wir müssen ihn befreien!“, rief Johann spontan aus, der vom schlechten Gewissen geplagt wurde, dass er den Bruder während des Streites mit Takait fast vergessen hatte.
Immer noch totenbleich berichtete Takait, was sie im Haus des Beamten erfahren hatte.
Als sie geendet hatte, starrte Johann die Tänzerin entsetzt an und war unfällig ein Wort herauszubekommen. Es sprengte seine Vorstellungskraft, dass seinem großen Bruder etwas zugestoßen sein könnte. Immer war es Peter gewesen, der ihn in Schutz genommen hatte und nun war es umgekehrt: Peter bedurfte Johanns Hilfe und er wusste nicht, was er tun sollte.
„Wir müssen etwas unternehmen … irgendetwas …“, stammelte er hilflos vor sich hin. Fast hätten sich seine Augen mit Tränen gefüllt
„Ich verstehe das nicht!“ Menas bedachte Takai mit skeptischen Blicken. „Wenn ich richtig informiert bin, ist dieser Sobek ein krokodilköpfiger Götze? Also wird er wohl am Nil verehrt werden, aber hier sind wir doch weit weg vom Strom?“
Takait sah den alten Priester mit freundlichem Bedauern an. Johann dachte sich, dass sie zu jedem nett war, nur nicht zu ihm, aber andererseits beruhte dies wohl auf Gegenseitigkeit.
„Nicht unbedingt. Es gibt Sobek-Tempel in Städten weitab vom Nil, wie zum Beispiel hier, auf der dritten Oase. Zu ihnen gehören heilige Teiche, in denen Krokodile gehalten werden…“
„Ich habe es die ganze Zeit gewusst, dass es hier Krokodile gibt! Was habe ich auf der ersten Oase gesagt“, unterbrach Johann automatisch und im selben Augenblick wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass der Bruder ihn nicht hören konnte und es daher völlig gleichgültig war, dass er Recht behalten hatte. Bei dem Gedanken, dass man Peter eben diesen Krokodilen zum Fraß vorwerfen wollte, schauderte es ihm.
Takait ignorierte Johanns Kommentar, aber das tat sie doch eigentlich seit dem Beginn ihrer Bekanntschaft, nur dass es ihn früher nicht im Mindesten gestört hatte.
„Die offiziellen Priester würden niemals dem Sobek oder einer anderen Gottheit Menschenopfer darbringen. Also wird dieser selbsternannte Sobek-Priester Peter sicher zum heiligen Teich bringen, wo es echte Krokodile gibt“, sagte die Tänzerin nachdenklich.
„Dann sollten wir doch augenblicklich dort nach dem Rechten sehen!“, entfuhr es Johann, „Wir müssen den Tümpel noch vor der fanatischen Menge erreichen.
„Nicht, wenn wir dafür schon wieder den Ort durchqueren müssen“, protestierte Menas und Johann fragte sich, ob der alte Priester eine größere Angst vor seiner angeheirateten Familie hatte als vor dem Krokodilgott und seinen Anhängern.
„Das ist viel zu gefährlich für euch. Es wird besser sein, wenn ich allein dorthin gehe“, meinte Takait leise. Ihr Blick wanderte von Menas zu Johann. „Ich werde sehen, was ich ausrichten kann.“
„Seit wann gibst du hier eigentlich die Kommandos?“ fragte der alte Priester mit einem in dieser Situation völlig inadäquaten amüsierten Lächeln. „Das erinnert mich doch unangenehm an jemanden! Sind eigentlich alle ägyptischen Frauen so herrschsüchtig?“
„So war das nicht gemeint“, erwiderte Takait beschwichtigend, „aber wollt ihr riskieren, dass man euch ebenfalls dem Sobek opfert? Auch ihr seid schließlich Fremde!“
Johann musste zugeben, dass Takaits Worte nur allzu vernünftig klangen. Es würde Peter auch nichts nützen, wenn sie ihm bei den Krokodilen Gesellschaft leisteten, aber er konnte doch seinen Bruder nicht einfach im Stich lassen!
„Das kommt nicht in Frage! Ich komme mit“, protestierte er daher.
Der Kopte öffnete den Mund, wie Johann vermutete um ihm dies auszureden, aber Johanns brachte ihn mit einem wütenden Blick zum verstummen.
Takait nickte, aber sie machte alles andere als einen glücklichen Eindruck.
„Ich habe befürchtet, dass du so reagieren würdest. Aber schließlich ist er dein Bruder. Wenigstens kannst du – wenn es sein muss - eher als Menas unauffällig in der Menge untertauchen.“
Johann fand es nett von Takait, dass sie nicht gesagt hatte, dass er in seiner verdreckten Beduinenkluft, zur Not als besonders heruntergekommener Ägypter durchgehen konnte, obwohl sie sicherlich genau dies gemeint hatte.
„Aber, was wollt ihr zu zweit ausrichten?“, fragte Menas, der bezeichnenderweise gar nicht erst vorgab, sich den beiden andern anschließen zu wollen, „Dieses Unterfangen erscheint mir ziemlich aberwitzig!“
Takait sah ihn mit einem gezwungenen Lächeln an.
„Auch zu dritt können wir es nicht mit einer aufgebrachten Volksmenge aufnehmen.“Â
Johann wurde es immer mulmiger zumute und plötzlich kam ihm der Gedanke, ob die Tänzerin im Tempel nicht nützlicher sein konnte.
„Willst du nicht lieber die Priester der Neith um Hilfe bitten?“
„Das habe ich schon vergeblich versucht“, erwiderte Takait, aber Johann glaubte ihr nicht recht. „Sie wollen nicht eingreifen. Im Gegenteil, ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie das Menschenopfer billigen, Hauptsache, sie müssen es nicht selbst vollstrecken!“ Â
„Trotzdem macht es keinen Sinn, was ihr vorhabt“, widersprach Menas halbherzig, der offenbar weder bereit war, Johann allein gehen zu lassen, noch ihm Gesellschaft zu leisten, „Ich werde daher in der Zwischenzeit versuchen, in der Karawanserei Verbündete zu finden.“
„Von mir aus“, entgegnete Johann, dem dieser Vorschlag wie eine ziemlich faule Ausrede erschien, „aber nun haben wir genug Zeit mit Reden verschwendet.“
„Ich glaube nicht, dass wir heute jemandem am Teich begegnen“, sagte Takait nachdenklich, den Blick dabei auf Johann gerichtet. „Morgen hingegen ist der Festtag des Sobek. Dann werden sie handeln.“
„Das hättest du auch gleich sagen können“, protestierte Johann und Menas nickte zustimmend, aber er wusste nicht, ob er sich freuen sollte, dass er noch einen Tag Galgenfrist hatte.
*
Auf dem Rückweg vom Tempelteich des Sobek-Tempel, wo sie erwartungsgemäß keinen Menschen angetroffen hatten, redete Johann solange auf Takait ein, bis diese sich endlich bereit erklärte, eine Medizin aus der Oasenkrokus-Zwiebel zu bereiten. Dabei betonte Johann immer wieder nachdrücklich, dass sie allein dafür verantwortlich war, dass Peter nun in Lebensgefahr schwebte, denn schließlich hatten sich sein Bruder und er nur deshalb von der Karawane entfernt, weil sie den Oasenkrokus gestohlen hatte.Â
„Von mir aus“, murmelte Takait schließlich, als sie die Karawanserei vor sich sahen, „wir haben heute Nachmittag ja noch etwas Zeit.“ Â
„Was brauchst du dafür?“, fragte Johann und er hoffte, dass sich diese Ingredienzien tatsächlich in diesem Wüstenkaff auftreiben ließen. Vor seinem inneren Auge sah er die wohleingerichtet Schwanen-Apotheke in seiner Heimatstadt, in der ein getrocknetes Krokodil an der Decke hing und wo man Mumia als Heilmittel anbieten wollte. Wenn der Onkel wüsste, wo sie gerade waren und, dass man Peter den heiligen Krokodilen opfern wollte! Mit einem leisen Seufzer dachte Johann, dass es besser war, dass seine Familie, dies nicht einmal ahnte.
„Nur ganz einfache Dinge, die ich in der Küche der Karawanserei besorgen kann“, erklärte Takait, was Johann ziemlich erstaunte, denn er hatte mit exotischen Zutaten, wie Nilkröten oder Drachenzähnen gerechnet. Ob besorgen wohl ein Euphemismus für stehlen war? Oder womit wollte Takait zahlen?
„Warte bitte einen Augenblick!“, sagte Takait, kaum das sie das Portal der Karawanserei durchschritten hatten, „ich gehe nur schnell in die Küche. Wir treffen uns dann im Innenhof.“
Fast hätte Johann ihr nachgerufen, ob sie ihn schon wieder hereinlegen wollte, aber vielleicht meinte sie es ausnahmsweise ehrlich. Schließlich hatte Johann während der Reise den Eindruck gehabt, dass sie Peter mochte. Trotzdem blieb Johann vorsichtshalber im Eingang stehen, damit Takait nicht heimlich wieder verschwinden konnte.
Glücklicherweise waren diese Karawansereien stets mit hohen Mauern umgeben und in der Regel besaßen sie nur einen einzigen Eingang. Sie waren so angelegt, dass sie sich gut gegen Überfälle von Räubern verteidigen ließen, ein Umstand, den die Reisenden beim bevorstehenden Angriff der feindlichen Armee auszunutzen gedachten. Schon hatte man Sandsäcke neben dem Hauptportal gestapelt und die wenigen, kleinen Fenster in der Außenwand mit Brettern vernagelt.
Der Wind, der Johann ins Gesicht wehte trug den Gestank der Kamele und des alten Strohs in den Ställen zu ihm und er fragte sich schon, ob es nicht doch einen Geheimgang ins Freie gab, den Takait benutzte haben konnte, als die der Tempeltänzerin mit einem Tablett in der Hand vorbeihuschen sah. Ganz plötzlich hielt sie in der Bewegung inne und drehte sich nach Johann um, den sie offenbar erst jetzt bemerkte.
„Warum wartest du draußen vor der Tür?“, fragte sie erstaunt.
„Drinnen ist die Luft so schlecht“, schob Johann als Vorwand vor.
Takait schüttelte lachend den Kopf.
„Wenn du in einem dieser Häuser aufgewachsen wärst“, Takait machte eine Kopfbewegung in Richtung der gegenüberliegenden Bruchbuden, dann würdest du das gar nicht mehr wahrnehmen.“
„Deshalb willst du also unbedingt Priesterin werden?“
Johann achtete sorgfältig auf ihre Reaktion, aber diese fiel anders aus als er erwartet hatte: Wieder lachte Takait, was er ziemlich befremdlich fand.
„Wenn du wüsstest, unter welchen Bedingungen die Frauen hier leben, würdest du keine derartigen Fragen stellen!“
Auch diese Antwort verblüffte Johann, der bisher angenommen hatte, dass Takait sehr religiös war. Da er nicht sicher war, ob ihr Vorwurf auch ihn umfasste, nahm er der Tänzerin das Tablett ab, obwohl dieses - wie er dabei feststellte - ganz leicht war. Takait ging voran und Johann folgte, bis sie eine der Feuerstellen erreichten, an denen die reicheren Reisenden abends Hammelfleisch grillten.
Takait ging in die Hocke und entfachte mit wenigen, eingeübten Handbewegungen ein Feuer. Am Anfang der Reise hatte Peter ihr bei solchen Gelegenheiten stets Zündhölzer angeboten, aber für Takait hätte man diese nicht erfinden müssen. Sie kam auch mit ihrem hölzernen Gerät zurecht, das aus einer Art Bodenplatte mit einer Vertiefung bestand, in der ein Holzstab zwischen den Handflächen gequirlt wurde.Â
„Wo ist eigentlich Menas?“, fragte sie, als die Flammen auf das Brennholz der Lagerstelle übersprangen.
„Keine Ahnung“, entfuhr es Johann, der sich in der Zwischenzeit zu Takait auf den staubigen Boden gehockt hatte, „das ist mir auch ziemlich egal, eine große Hilfe ist er heute sowieso nicht gewesen!“
„Ja! Ganz im Gegenteil!“ Takait seufzte. „Ich habe nur nachgefragt, weil ich ihn momentan gar nicht gebrauchen kann, denn ich muss einige Beschwörungsformeln sagen, damit der Trank wirksam ist.“
Johann ließ seinen Blick über den Innenhof schweifen, auf dem fast alle Gäste der Karawanserei – es waren nicht mehr als zwanzig - wild diskutierenden in Kleingruppen herumstanden, aber Menas war nicht darunter.
„Wahrscheinlich ist er drinnen und schläft seinen Rausch aus“, meinte Johann schlecht gelaunt. Oder er hat wieder mit dem Trinken begonnen, fügte er im selben Augenblick innerlich hinzu.
Sehr gut“, murmelte Takait, während sie einen Topf mit Wasser auf das Feuer stellte.
„Hast du das schon einmal gemacht?“, fragte Johann vorsichtig nach, da er keine Lust hatte, einen falsch zubereiteten Zaubertrank zu probieren.
„Keine Sorge, das Rezept ist ganz einfach“, beruhigte ihn Takait, „und die Formeln hat mir dieser schreckliche Obergärtner des Tempels der ersten Oase verraten, der mich die ganze Zeit mit seinen Annäherungsversuchen belästigt hat.“
Als das Wasser wallte, goss Takait etwas davon in einen kleinen Krug und zog die Wüstenkrokus-Zwiebel aus dem buntgemusterten Beutel, die sie am Gürtel trug. Diesen legte sie vorsichtig in die Kanne und Johann fühlte sich an den Hustensaft erinnert, den die Mutter zuzubereiten pflegte, wenn die Jungs sich eine Erkältung eingefangen hatten. Takait streute einige der Kräuter, die sie aus der Küche mitgebracht hatte in den Sud. Dann holte sie den Topf vom Feuer und schüttete das überschüssige Wassers in den Sand. Bevor Johann sich einen Vers daraus gemacht hatte, was Takait damit bezweckte, hatte sie die kleine Kanne in den Topf gestellt und diesen zurück auf das Feuer gebracht.
Jetzt wird es ernst! dachte Johann. Er beugte sich neugierig vor und verspürte zugleich ein flaues Gefühl im Magen. Das war wie der Teufelspakt in Goethes Faust!
Der Inhalt des Kruges im Wasserbad begann zu dampfen und Takait murmelte leise Zaubersprüche auf Ägyptisch vor sich hin, die Johann zu seinem Bedauern nicht verstand.
Er fand ihre Stimme so melodisch wie eine Harfe, war aber enttäuscht darüber, dass nichts Spektakuläres geschah: Keine grüne, brodelnde Suppe, keine fluoreszierender, wabernder Nebel, kein Schwefelgestank und keine Geisterstimmen! So nüchtern hatte er sich die Magie nicht vorgestellt. Aber Hauptsache, die Medizin erfüllte ihren Zweck!
Schließlich nahm Takait den Topf vom Feuer und hob den kleinen Krug heraus. Mit einem Holzstäbchen stocherte sie darin herum, um sich zu vergewissern, dass die Zwiebel gar war. Dann goss sie den Sud durch einen Trichter in eine kleine Flasche, die sie anschließend sorgfältig verkorkte.
„Ãœbermorgen ist Vollmond“, erklärte sie feierlich, während sie Johann die Medizin überreichte, „dann ist die Medizin wirksam.“
„Das wurde aber auch Zeit!“, brummte eine tiefe Stimme von hinten.
Johann hätte vor Schreck das Fläschchen fast in den Sand fallen lassen und Takait stieß einen leisen Schrei aus.
„Menas! Wie konnten Sie uns nur so erschrecken!“, entfuhr es Johann. „Es sind schon Menschen aus geringeren Anlässen tot umgefallen!“
Der alte Kopte blickte finster auf die beiden jungen Leute herunter.
„Ich kann auch wieder gehen, wenn ich die traute Zweisamkeit störe!“
Takait errötete heftig und Johann sprang auf.
„Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?“, fragte er, als er mit Menas auf gleicher Augenhöhe war, denn so hatte er den bedächtigen Kopten noch nie erlebt.
„Ach, nichts besonderes“, murmelte dieser in seinen Bart hinein. Dann sah er Johann besorgt in die Augen. „Aber, falls wir lebend diese Oase verlassen sollten, muss ich ein ernstes Wörtchen mit dir reden.“Â
Johann wollte nachfragen, was um Himmels Willen er damit meinte, aber Menas drehte sich brüsk um und durchmaß mit großen Schritten den Innenhof der Karawanserei. Nach einer Schrecksekunde, beschloss Johann, Menas zur Rede zu stellen. Er sollte augenblicklich verraten, was er mit ihm zu besprechen hatte und sich nicht nur in bedeutungsvollen Andeutungen ergehen! Johann folgte dem alten Mann so schnell, dass er gerade nicht rennen musste, aber als er durch die Eingangstür der Karawanserei treten wollte, stieß er mit einem Mann zusammen. Mit einem unterdrückten Fluch wollte Johann eine Entschuldigung vor sich hinmurmelnd an dem Mann vorbeigehen, aber dieser hielt ihn am Ärmel fest.
„Warum so eilig, junger Effendi?“, fragte die leicht ironische Stimme des Mannes, den er Saladin nennen sollte, „Haben Sie keine Zeit, mit einem alten Freund ein paar Worte zu wechseln?“
Johann fragte sich, ob Menas so schnell verschwunden war, weil er dem Kaufmann nicht begegnen wollte.
„Ich wusste gar nicht, dass Sie in der Karawanserei wohnen“, entfuhr es Johann, der sich noch im Unklaren darüber war, was er von dieser Wendung halten sollte.
„Unsere Karawane ist mittlerweile eingetroffen und ich habe mich zu meinen Kollegen gesellt“, erklärte Saladin mit einem verbindlichen Lächeln.
„Woher kennen Sie eigentlich den alten Priester Menas?“, fragte Johann, der sich ziemlich darüber geärgert hatte, dass der Kopte ihm eine Antwort auf diese Frage schuldig geblieben war.
„Ich kenne jeden, das gehört zu meinem Beruf“, entgegnete der Kaufmann mit vollendeter Höflichkeit und wieder fragte sich Johann, was sein so genannter Beruf noch alles umfassen mochte.
Außerdem gefiel ihm gar nicht, dass die Karawane bereits die dritte Oase erreicht hatte, denn er hatte hier noch eine Menge zu erledigen.
„Wann geht es wieder zurück nach Alexandria?“, fragte er daher bang.
„Für den restlichen Rückweg haben wir neue Karawanenführer angeheuert und wir sind mit ihnen übereingekommen, dass wir den Kamelen nur einen Tag Ruhe gönnen werden. Dann brechen wir auf, bevor der Krieg beginnt. Ich gehe doch davon aus, dass ihr werter Bruder und Sie sich uns dann anschließen werden?“
Eine Welle des Elends schwappte über Johann zusammen. War er den nur vom Unglück verfolgt? Würden die anderen ohne sie aufbrechen, falls es ihm überhaupt gelingen sollte, den Bruder zu befreien. Dann fiel ihm die Mumie ein und ihm wurde so übel, dass er sich am Türrahmen festhalten musste.
Â
Vorsichtig streifte Johann mit der Rechten die Äste eines Berberitzenstrauchs beiseite, um sich nicht an den Stacheln sein Gewand zu zerreißen. Dann lag endlich die Grabanlage vor ihm, die er solange gesucht hatte, das Ziel seiner Expedition nach Ägypten. So eindrucksvoll die Anlage war, sich Johan sich nicht lang mit dem eigentlichen Gebäude auf, sondern - wie von einer unsichtbaren Macht angezogen - stieg er mit klopfendem Herzen steile Treppen und dunkle, abschüssige Gänge hinab.
Seine Fackel flackerte ungleichmäßig und warf ein gespenstisches Licht auf die nackten Steinwände, aber noch immer hatte er sein Ziel noch nicht erreicht. Er war bestimmt zehn Minuten durch diesen steinernen, unterirdischen Irrgarten gelaufen, als sich endlich am Ende des Wegs der Korridor weitete. Johanns Schritte beschleunigten sich immer mehr, bis er fast rannte. Nachdem er ein trapezfömiges Portal durchschritten hatte, gelangte er schließlich in einen weiträumigen Saal, dessen Decke von mindestens zwanzig aus dem Fels gehauenen Säulen getragen wurde, die voneinander in Durchmesser und Form so unterschiedlich waren, dass in Johanns automatisch an einen versteinerten Wald denken musste.
In die Rückwand des Raums war - zwischen mehreren Registern von kleinformatigen Alltagsszenen - die überlebensgroße Figur einer schönen Frau eingemeißelt. Die Herrin der Anlage konnte so alle Arbeiten überschauen, die von im kleineren Maßstab wiedergebenen Figuren ausgeführt wurden.Â
Als sein Blick das Wandbild eher zufällig streifte, wandte die Frau sich ihm zu und Johann fragte sich, ob seine überreizten Sinne ihm einen Streich spielten. Obwohl er wusste, dass die unmöglich war, hätte er wetten mögen, dass die Herrin ihn mit lebendigen, mandelförmigen Augen anschaute. Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht und diesmal war Johann sich sicher, dass dies keine Illusion sein konnte, denn wenige Augenblicke zuvor hatte eine tiefe Melancholie in ihrem Blick gelegen.
Mit einer grazilen Bewegung ihrer feinen Hand mit den langen Fingern deutet sie auf die gegenüberliegende Wand der Kammer. Dort war riesige Tür mit fein behauenen Simsen in den Fels gemeißelte. Sie bestand aus Stein und führte nirgendwohin. Johann erinnerte sich gelesen zu haben, dass diese Scheintüren die Welt der Lebenden mit der der Toten verbanden.
„Tritt ein, Fremder! Ich habe dich schon erwartet!“, forderte ihn plötzlich eine melodische, weibliche Stimme auf.
Johann blickte sich erschrocken um. War Ihm jemand unbemerkt gefolgt? Mit seiner Fackel leuchtete Johann alle Winkel der Kammer aus, doch er war allein.
„Tritt ein, Fremder!“
Es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass dies keine Bitte war, sondern ein Befehl.
Johann realisierte, dass nur die Herrin des Grabes zu ihm gesprochen haben konnte. Oder war die Stimme von jenseits der Wand zu ihm gedrungen?
Mit einem seltsamen Geschmack im Mund schritt er auf das steinerne Portal mit zu, aber er tat dies ganz langsam, denn er hielt es für ein sinnloses Unterfangen, mit dem Fuß gegen den harten Stein zu treten. Als er das Portal erreicht hatte, blieb er unschlüssig stehen.
„Tritt ein“, forderte ihn die Stimme erneut auf, barscher, drängender und Johann machte einen vorsichten Schritt in Richtung Tür.
Im gleichen Augenblick hörte er ein Knirschen, zuerst leise, dann immer lauter. Johann hielt erschrocken in der Bewegung inne. Das ist unmöglich, durchfuhr es ihn. Doch vor seinen ungläubigen Augen öffnete sich die in den Stein gemeißelte Tür wie von Geisterhand und produzierte dabei ein knirschendes Geräusch, das in der Gruft widerhallte.
Johann fragte sich, ob er dabei war, seinen Verstand zu verlieren, aber dann gab er sich einen Ruck, denn er war neugierig darauf, was sich wohl hinter der Scheintür befinden mochte. Außerdem wollte er nicht den Zorn der Besitzerin der mysteriösen Stimme zu spüren bekommen.
Mit zugekniffenen Augen durchschritt er den Türrahmen. Ihm war dabei äußerst unwohl, da er befürchtete, die zuschlagende Steintür könnte ihn zerquetschen, aber nichts dergleichen geschah. Kaum hatte er den Fuß auf den Boden gesenkt, schlug der Türflügel hinter ihm mit einem dumpfen Knall zu.
Johann wirbelte erschrocken um seine eigene Achse, aber es war zu spät: Die Scheintür war verschwunden und Johann fand sich in einer nächtlichen Landschaft wieder, die von einem breiten Stromes durchschnitten wurde. An dessen Ufer lag ein langes Schilfboot mit zwei Reihen Ruderern, die sich leise wispernd unterhielten. Ansonsten herrschte eine geradezu gespenstische Stille: Kein Vogelgesang war zu hören, keine Zikaden musizierten im finsteren Schilf und keine geisterhaften Insekten flogen summend von einer bleichen Blüte zur nächsten.
Die Dunkelheit, die hier herrschte war mehr als die Abwesenheit von Licht. Sie hatte ihre eigene Qualität, aber trotzdem konnte Johann seltsamerweise tief in die Landschaft blicken und er erkannte auf dem anderen Ufer des Stroms eine gespenstische Wiese mit farblosen Blumen.
Das sind Asphodelischen Feldern, wo der der bleiche Asphodill wächst und Orion nach geisterhaftem Wild jagt, durchfuhr es ihn. In dieser trostlosen Region gingen die Seelen von Heroen im Gedränge der Frühverstorbenen umher. Â
Eine dunkle Wolke kreiste in weiten Bögen über dem Feld. Erst als sie näher kam, erkannte Johann mit gemischten Gefühlen, dass es sich um einen Schwarm von Fledermäusen handelte, der aus Tausenden von Tieren bestehen musste.
Hinter ihnen, fern am dunklen Horizont, erhob sich ein Palast von modrig grüner Farbe, der aussah als würde er bald in sich zusammenfallen. Durch seine Fenster drang blasses Licht und Johann fragte sich, ob dies der Wohnsitz des Hades war. Im gleichen Augenblick öffnete sich das riesige Portal des Palastes und ein schwarzer Wagen sprengte heraus, gezogen von vier Rappen. Der meistgehasste aller Götter schien selbst tot zu sein, war ein dunkler Schatten, kaum materieller als die grauen Phantome, über die er herrschte.
Überall ist es besser als hier, dachte Johann erschrocken und hastete zu der schwankenden Barke, die offenbar auf ihn gewartet hatte, denn kaum war er an Bord gesprungen, stießen die Ruderer das Schilfboot vom Ufer ab. Das schwarze Wasser kräuselte sich unter dem Schlag ihrer Paddel. Ab und zu waren in der Tiefe undeutliche Schemen zu sehen, aber Johann vermochte nicht zu erkennen, worum genau es sich handelte.
Vorsichtig streckte Johann seine Hand aus und tastete nach der Bordkante. Ganz langsam richtete er sich auf, denn Gischt hatte das Schilfboot schlüpfrig gemacht. Mehr kriechend als aufrecht gehend, schob er sich im schmalen Mittelgang zwischen den Ruderern nach vorn, bis er den Bug des Schilfbootes erreichte. Dort beugte er sich über Bord und schaute in die wirbelnden Wogen. Was für ein Geheimnis schlummerte unter ihrer Oberfläche?
Langsam wurde das Ufer immer felsiger, bis sie eine regelrechte Berglandschaft durchfuhren. Im Stein klafften hier und da die dunklen Eingänge von Höhlen, aus denen heulende Geräusch drangen. Johann vermutete, dass sie von Tieren verursacht wurden. Was für grässliche Kreaturen in den Schlünden hausten, wollte er allerdings lieber gar nicht wissen. Er versuchte, seine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren, aber er konnte diese schaurigen Laute nicht einfach ausblenden.
Johann fragte sich noch, wohin wohl diese nächtliche Bootsfahrt führen mochte, als er einen kleinen Hügel sah, der sich in einer Talsenke erhob. Die Ruderer trieben die Barke immer weiter den schwarzen Strom hinab und als der niedrige Hügel näher kam, zeigte sich, dass dieser gelb-braun gescheckt war. Johann schwante nichts Gutes, aber er konnte seinen Blick nicht von dem schuppigen Etwas lassen, das bestimmt keine normale Bodenerhebung war.
Am liebsten hätte Johann das Kommando zur Rückfahrt gegeben hätte, aber die Ruderer vermieden geradezu demonstrativ jeden Blickkontakt mit ihm.
„Wohin um Himmels Willen fahren wir?“, schrie er sie an. Jedoch erhielt er keine Antwort. Wahrscheinlich sprachen die Ruderer nur ägyptisch oder sie hatten Weisung, nicht mit ihrem Passagier zu sprechen.
Plötzlich hörte Johann vor sich etwas wie das Zischen einer Schlange, nur sehr viel lauter. Seine Augen folgten dem Geräusch. Als er dessen Quelle gefunden hatte, glaubte er, jeden Augenblick zu Eis erstarren zu müssen: Von der Spitze des Hügels funkelten ihn die kalten, grünen Augen eines Reptils bösartig an. Der vermeintliche Hügel war in Wahrheit eine riesige zusammengerollte Schlange mit dunklen Flecken auf einem gelben Körper, die sich zu regen begonnen hatte!
Lautlos glitt sie ins schwarze Wasser und Johann erinnerte sich mit Schrecken an das riesige, aufgerissene Schlangenmaul, dass er im Tempel der ersten Oase durchschreiten musste. Warum nur hatte er Takait nicht nach dessen Bedeutung gefragt?
Der Lindwurm rollte sich langsam auf und seine zahlreichen Windungen verschwanden nacheinander im Wasser, bis sein gesamter schuppiger Leib völlig in den dunklen Fluten des Stroms untergetaucht war.
Johann atmete erleichtert auf. Das war noch einmal gut gegangen! Aber das Blut gerann ihm fast in den Adern, als ganz plötzlich der riesige Kopf der Schlange direkt vor dem leichten Schilfboot auftauchte. Sie starrte ihn mit ihren tückischen grünen Augen an. Dann richtete sich ihr Leib blitzschnell auf. Ihr Kopf stieß vor, ihre lange gespaltene, Zunge schoss zwischen langen spitzen Zähnen heraus und verschwand wieder in ihrem Maul.
Johann schrie vor Schreck laut auf. Bei dem Versuch, sich auf den Boden zu werfen, rutschte er auf dem glitschigen Brettern aus und wäre fast über Bord getaumelt, aber es gelang ihm im letzten Augenblick, die Kante des Schilfboots zu umklammern. Als er wieder nach vorn sah, hoffte er inständig, dass das Untier verschwunden sein möge, aber die Barke nahm weiterhin mit unverminderter Geschwindigkeit Kurs auf die riesige Schlange.
„Seid ihr denn wahnsinnig? Dreht sofort um!“, brüllte Johann die Ruderer in hilfloser Wut an, aber diese steuerten sehenden Auges direkt in das aufgerissene Maul des Lindwurms, das vor ihnen im Wasser aufragte, wie ein mit Zähnen bewehrter Tunnel. Schon glitt die Barke zwischen den Reißzähnen des Untiers hindurch und über den wasserumspülten Unterkiefer.
Die Schlange schloss ganz plötzlich das Maul und schon erwartete Johann, ihren langen Hals herunterzufallen, als er realisierte, dass die Barke auf ihrer Zunge wie auf einer Sandbank lag. Zitternd vor Entsetzen drehte Johann sich um und warf zwischen den Giftzähnen hindurch einen letzten, verzweifelten Blick auf den dunklen Strom.
Eine neue Welle des Grauens überkam ihn, als das Boot nach unten absackte. Die Ruderbänke ächzten und zwei Seeleute wurden über Deck geschleudert. Einen Augenblick lang, hatte Johann den Eindruck, als sei das Boot in der Mitte geborsten, aber die Vertauung der Schilfsbündel war nicht gerissen.Â
Wieder sackte das Boot nach unten, diesmal noch schneller. Johann schloss die Augen machte sich innerlich auf einen Sturz ins Bodenlose gefasst.
Einige Sekunden vergingen in qualvoller Langsamkeit. Dann blinzelte Johann, da er die Ungewissheit nicht mehr ertrug, sie mittlerweile schlimmer fand als den schrecklichsten Anblick. Gelähmt vor Entsetzen starrte er auf die Fangzähne der riesigen Schlange, die ihr schreckliches Maul wieder weit aufgerissen hatte. Sie war mitten in der Bewegung erstarrt. Dann sog sie ganz langsam die eisige Luft ein, die den schwarzen Raum erfüllte und ganz plötzlich spie sie das Boot im weiten Bogen aus. Johann wurde von grellen Sonnenstrahlen geblendet als die Barke wieder zu Boden fiel und fragte sich verzweifelt, woher all dies Licht plötzlich kam.
*
„Wo ist die Schlange?“, rief er aus und er wäre am liebsten davongelaufen, doch er wusste nicht wohin.
Er rieb sich die Augen und brauchte einige Sekunden lang, um zu begreifen, dass er auf seinem verlausten Lager in der Karawanserei der dritten Oase lag.
„Schrei doch nicht so!“, hörte er die tiefe Stimme seines Reisegefährten Menas sagen, der ihn fest an der Schulter gepackt hatte. „Du hast nur geträumt.“
Schwer atmend und noch etwas panisch Johann schaute sich um. Sein Blick streifte die grimmigen Gesichter einiger Kaufleute, die sich um sein Lager versammelt hatten. Menas richtete auf Arabisch einige beschwichtigende Wort an sie und die Händler entfernten sich wieder, wobei sie Dinge vor sich hinbrummten, die sich anhörten wie „der hat komplett den Verstand verloren“.
Johann schloss die Augen, da er sich schämte. Wie gut, dass keiner der Kaufleute ihn verstanden haben konnte, falls er im Schlaf geredet haben sollte! Aber Takait hatte ihn verstanden! Was mochte sie wohl nun von ihm denken? Beunruhigt ließ Johann seinen Blick durch den Schlafsaal schweifen, aber er fand die Tempeltänzerin nicht.
„Wo ist Takait?“, fragte er den alten Priester, während er sich von seinem Lager aufrappelte.
„Weg“, brummte Menas, „keine Ahnung wohin, ist aber auch besser so.“ Er schaute Johann von der Seite an. „Bist du wieder in Ordnung?“
Johann nickte, obwohl er noch ziemlich mitgenommen war.
„Was genau hast du eben geträumt?“, fragte der Reisegefährte mit kaum verhohlener Neugier.
„Ich habe von der Unterwelt geträumt“, erklärte Johann und kam sich unsäglich albern vor. „Zweifellos liegt es an den unzähligen falschen Büchern, die ich gelesen habe, dass ich beweilen derartige Träume habe.“
„Von der Unterwelt? Es geht sicher auch etwas präziser?“
Mit anfangs leicht zitternder Stimme erzählte Johann seinen schrecklichen Traum, aber langsam erwachten seine Lebensgeister wieder. Durch die kleinen Fenster des Saals drangen Sonnenstrahlen, in denen die Staubkörner tanzten. Offenbar war es bereits mindestens acht Uhr Morgens.
„Lass uns lieber frühstücken. Ich wollte eigentlich gar nicht so lang schlafen!“, schlug er daher seinem Reisegefährten vor. Â
„Dagegen habe ich keinerlei Einwände“, erwiderte Menas, „aber während des Frühstücks erzählst du mir noch einmal ganz genau, was du im Traum gesehen hast.“
„Das habe ich doch eben bereits getan!“, protestierte Johann, der sich fragte, ob der alte Mann schwerhörig war.
„Du hast mir nicht alles erzählt! Im Traum hast du nämlich etwas von einem Grab gefaselt und daran bin ich interessiert.“
„Von mir aus“, entfuhr es Johann, „aber ich glaube nicht, dass uns dies hilft, meinen Bruder zu befreien.“
„Du hast noch eine andere wichtige Aufgabe zu erledigen. Denk dran, dass du nach Ägypten gefahren bist, um die Mumie in ihr Grab zurückbringen“, erinnerte ihn Menas und Johann nickte gedankenverloren.
Das Frühstück verdiente eigentlich nicht diesen Namen: Als Johann im Innenhof der Karawanserei einen Keramikbecher ziemlich ungenießbaren, kalten Kaffees trank und dazu ein paar unerträglich süße Datteln verzehrte, stieg vor seinem inneren Auge unweigerlich der reichlich gedeckte Frühstückstisch im Elternhaus auf. Er rief sich ins Gedächtnis, dass er dankbar sein musste, dass die Kunst der Kaffeezubereitung in dieser Karawanserei überhaupt praktiziert wurde, denn den alten Ägyptern war die Kaffeebohne unbekannt. Sie hatten daher morgens lauwarmes Bier getrunken.
„Also, was hast du vorhin geträumt? Bitte erzähl mir jede Einzelheit, an die du dich erinnern kannst, vor allem wenn sie das Grab betrifft“, insistierte Menas und Johann verfluchte das erstaunlich gute Gedächtnis des alten Mannes.
Er kippte den restlichen Kaffee herunter und verzog wegen des bitteren Nachgeschmacks, den dieser zurückließ, das Gesicht. Dann begann er – obwohl es ihm bei der Erinnerung schauderte - seinen Traum erneut zu schildern.Â
„Wo sagtest du hat sich dieses Grab befunden?“, fragte Menas, der mit angehaltenem Atem gelauscht hatte.
„Keine Ahnung!“, erwiderte Johann ungehalten. Schließlich besaßen Träume ihre ganz eigenen Realitäten. „Es wird wohl irgendwo in Ägypten gewesen sein.“
„Etwas Genauer kannst du das nicht sagen?“
Die Augen des alten Mannes funkelten ihn vorwurfsvoll an und Johann überlegte, welche Laus Menas wohl über die Leber gelaufen war.
„Wahrscheinlich war es auf dieser gottverdammten Oase“, sagte er aufs Geratewohl, weil er vermutete, dass sein Gegenüber genau diese Antwort hören wollte.
„Aber wo auf dieser Oase?“
Der Tonfall des Kopten war drängend. Doch Johann zuckte nur mit den Schultern, da er sich beim besten Willen nicht entsinnen konnte. Schließlich hatten in seinem Traum keine Wegweiser herumgestanden. Noch immer blickte ihn Menas erwartungsvoll an.
„Versuch, dich zu konzentrieren!“
Johann tat sein bestes, aber er konnte sich einfach nicht entsinnen, wie er in seinem Traum zu dem Grab gelangt war.
„Irgendwo unter der Erde, wo Gräber eben so sind“, meinte er schließlich völlig enerviert. „Aber warum fragen Sie? Schließlich haben Sie doch vorhin selbst gesagt, dass es nur ein Traum war.“
Johann hoffte, dass Menas ihn endlich als hoffnungslosen Fall aufgeben würde, doch der Kopte holte eine altmodische Taschenuhr aus seiner Westentasche.
„Schau einfach hin und denk an gar nichts“, forderte er Johann auf, während er die Kette umfasste und die Uhr herunterhängen ließ.
„Es ist eine Taschenuhr! Ich habe auch so eine“, protestierte Johann und war im Begriff, seine eigene Uhr zu präsentieren.
Menas schüttelte ungeduldig den Kopf.
„Bitte konzentrier dich auf meine Uhr.“
Langsam schwang die Uhr vor Johanns Nase. Automatisch folgten seine Augen der silbernen Scheibe, die von rechts nach links wanderte und zurück. Auch seine Blicke wanderten hin und her, hin und her, hin und her, hin und her … Allmählich begannen seine Gedanken sich aufzulösen, sein Kopf wurde schwer, seine Lider fielen fast zu, aber es gelang ihm mit letzter Kraft sie wieder aufzureißen, denn ganz plötzlich kam ihm die Idee, Menas könnte ein Zauberer sein. Aber im nächsten Augenblick war ihm wieder ganz schwindlig.
„Stell dir das Grab vor, das du besucht hast“, hörte er eine tiefe Stimme den Nebel durchdringen, in den er sich eingehüllt fühlte. „Du stehst jetzt davor und du schaust dich um.“ Â
Aber Johann sah nur das schwarze Wasser eines breiten Stroms, der durch ein ödes Land floss.
„Da ist Wasser“, sagte er, aber die Brandung war so laut, dass er nicht verstehen konnte, was Menas auf seine Worte erwiderte. „Und eine riesige Schlange.“
„Und wie sah es vor dem Grab aus?“, fragte der Priester mit langsamer, suggestiver Stimme, da durchdringend genug war, dass sie die Brandung übertönte.
Johann fühlte sich, als ob er durch einen dichten Nebel irren würde. Dann schweiften seine Blicke plötzlich über eine steinige Einöde und er sah die Wüste vor sich, einen großen Tempel und einige Sträucher. Er sah die Händler auf dem Tempelvorplatz und wieder stachlige Sträucher.
„Was siehst du?“, fragte eine dumpfe, aber forschende Stimme, die von weither zu ihm drang.
„Ein ödes Stück Land, mit Ruinen und Sträucher, und dahinter ist der Tempel der Neith.“
Johann war ganz schummrig, aber das Pendel hatte aufgehört zu schwingen. Langsam hob er den Kopf und blickte, noch immer benommen in das vor Aufregung glühende Gesicht des alten Kopten.Â
„An der Stelle, die du mir genannt hast, hat dein Vater wahrscheinlich die Mumie gefunden. Nach deiner Beschreibung müssten wir eigentlich in der Lage sein, die Grabkammer zu finden“, erklärte Menas erstaunlich sachlich für die ungeheuerliche Behauptung, die er soeben von sich gegeben hatte. „Wir sollten uns daher augenblicklich mit der Mumie dorthin auf den Weg machen.“
Johann starrte den alten Mann fassungslos an und einen Augenblick lang zweifelte er an dessen Verstand. Was würde wohl Peter dazu sagen, dass dieser es offenbar für möglich hielt, dass er im Traum das richtige Grab gesehen hatte?
„Denk daran, Morgen früh bricht die Karawane auf und bis dahin müssen wir hier alles erledigt haben“, drängte Menas und riss Johann damit aus seinen Gedanken.
„Nicht ohne Peter!“, erklärte Johann, dem es nicht gefiel, dass der Plan des Kopten es vereiteln würde, dass er mit Takait zum Sobek-Tempel ging.
„Takait hatte Recht: Wir riskieren eher ebenfalls geopfert zu werden, als dass wir ihr beistehen können.“
„Aber wir können doch nicht … “, begann Johann.
„Mach dir keine Sorgen, ich bin ganz sicher, dass es Takait gelingen wird, deinen Bruder zu befreien. Aber du solltest dich lieber um die Mumie kümmern, wegen der ihr schließlich hierher aufgebrochen seid.“
„Was wird Takait sagen?“, fragte Johann, der sich bei dem Gedanken schämte, dass ihm dies wichtig war.
„Sie wird sich freuen, dass du ihr nicht zur Last fällst!“, erwiderte Menas und sah Johann ernst an. „Ich teile Takait mit, dass wir sie nicht begleiten werden, aber ich halte es für ratsam, ihr nicht zu erzählen, was genau wir uns anschicken zu tun.“
„Warum ….“
„Frag nicht so viel! Wir treffen uns in zehn Minuten im Lagerraum. Bereite während meiner Abwesenheit schon einmal die Mumie für den Transport vor“, befahl ihm Menas mit energischen Gesichtsausdruck.
Johann wollte sich weigern dies zu tun, denn er hatte während der Reise jedem Kontakt mit der Mumie konsequent vermieden, aber der alte Priester ließ ihn nicht zu Worte kommen.
„Ich gehe zum Pförtner und hinterlasse schnell eine Nachricht für Takait“, erklärte dieser ultimativ. „Dann bringen wir die Mumie endlich zurück in ihr Grab. Die Toten sollen in Frieden ruhen. Selbst wenn es unverbesserliche Heiden waren.“
Johann trottete schicksalsergeben in den Lagerraum und blickte sich vorsichtig um. Außer ihm war nur ein Beduine im Schuppen, der sein Kamel belud. Johann musste nicht lang warten, bis dieser das Tier herausgetrieben hatte, was nichtzuletzt am bestialischen Gestank im Stall lag, der von Tag zu Tag schlimmer wurde. Als er sicher war, dass niemand ihn beobachtete, schleifte er die Mumie mitsamt ihrem Sarkophag aus der Versandkiste, die glücklicherweise auf dem Boden stand. Johann hätte die schwere Last nicht zu heben vermocht. Während er den Mumienkasten mühsam in einen Teppich einwickelt, hoffte er inständig, dass sie wirklich das richtige Grab finden würden. Wegen des menschengestaltigen Sargs würde die Last diesmal weit schwerer sein als an jenem Frühlingstag, als sie die Mumie aus der Apotheke seines Onkels gestohlen hatten.
Johann war gerade mit seiner schweißtreibenden Arbeit fertig, als Menas durch die Tür kaum. Er schleppte zu Johanns Erstaunen allerlei Gerätschaften herbei: Fackeln, eine Schaufel, ein Stemmeisen, einen Reisigbesen und kleinere Werkzeuge.
„Die werden uns noch gute Dienste erweisen“, erklärte der Kopte und sie wickelten den Teppich wieder auf, um alles darin zu verstauen.
Als die beiden Reisegefährten das Portal der Karawanserei passierten hoffte Johann fast, dass der Pförtner an ihrer seltsamen Last Anstoß nahm, denn er war noch immer der Ansicht, dass er Takait begleiten sollte, aber der diensthabende Beamte hatte seinen Arbeitsplatz verlassen.
Trotz der Hitze gingen Johann und Menas rasch durch die leeren Gassen in Richtung Tempel. Unterwegs versuchte Johann nicht an den Bruder zu denken, aber dies bewirkte nur das Gegenteil. Es machte ihn ganz krank, dass er momentan nichts für Peter tun konnte, als zu hoffen, dass Takaits Bemühungen vom Erfolg gekrönt sein würden. Â
Sie begegneten einer Mutter, die ein schüchternes Kind hinter sich herschleifte. Als es die beiden Fremden sah, fing es an leise zu quengeln.
„Die Einheimischen mögen keine bärtigen Männer“, erklärte Menas und warf dem Kind einen derart unwirschen Blick zu, dass es sich hinter seiner Mutter versteckte. „Sie können Kopten nicht von Arabern unterscheiden.“
Schon sah Johann die Umfassungsmauer des Tempels zum Greifen nah vor sich, als Menas vor einem eingezäunten Hof auf der linken Seite der Gasse innehielt.
„Ich brauche eine Verschnaufpause“, erklärte er, während er sich im Schatten die verschwitzte Stirn mit einem speckigen Taschentuch betupfte und sich anschließend einen kräftigen Schluck aus seinem Weinschlauch genehmigte, „schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste.“
Eines der verrammelten Fenster des Nachbarhauses wurde lautstark geöffnet und wie auf Kommando packten Johann und der alte Priester je ein Ende des schweren Bündels und bevor man sie verjagen konnte, waren die beiden Reisegefährten schon wieder verschwunden.
Sie gingen weiter in Richtung Tempel, bis sie zur Rechten ein verwahrlostes Grundstück passierten, das von Dornenhecken überwuchert war, aus denen einige alte Trümmer herausragten.   Â
„Eigentlich ärgere ich mich über mich selbst“, meinte Menas, als sein Blick über das Brachland schweifte, „hier sind wir doch mindestens zehn mal hier vorbeigegangen und mir ist nicht einmal aufgefallen, dass hier durchaus früher der Eingang zu einer Grabanlage gewesen sein kann.“ Â
Menas sagte dies mit einer derartig geradezu professionellen Empörung, dass Johann sich erschrocken fragte, ob auch der koptische Priester sich bereits als Grabräuber betätigt hatte.
Menas hatte unterwegs einen dürren Ast aufgesammelt, mit dem er sich nun – das Kopfende des Kastens in der rechten Hand - mit der Linken seinen Weg zwischen den Hecken hindurch bahnte, bis die beiden Reisegefährten vor der verfallenen Ruine eines quadratischen Baus standen, die sich inmitten des kleinen Grundstücks befand. Einst hatte eine Freitreppe zu dessen Eingang geführt, aber durch das angestiegene Bodenniveau war diese mittlerweile von der Erde bedeckt.
Die Tür aus Zedernholz hing nur noch schräg in den Angeln, aber dank des trockenen Wüstenklimas war sie noch nicht verrottet. Der trapezförmige Eingang wurde von einem Architrav bekrönt, der eine Inschrift von Hieroglyphen trug.
Menas bedeutete Johann, den Kasten auf den Boden zu stellen. Dann las er mit zusammengekniffenen Augen und auf die linke Schulter gelegten Kopf Schriftzeichen für Schriftzeichen der leicht verwitterten Schrift.
„Was steht da?“, fragte Johann einige Minuten später nach, obwohl er bezweifelte, dass sie ihre knapp bemessene Zeit mit ägyptologischen Studien verschwenden sollten.
„Nur die üblichen Verwünschungen“, meinte Menas und Johann bekam weiche Knie, „aber das muss uns nicht kümmern. Schließlich wollen wir hier nichts rauben. Im Gegenteil: Wir bringen etwas zurück!“
Menas trat gegen die riesige Tür und sie brach splitternd auseinander. Ein Staubregen rieselte auf die beiden Männer. Der Kopte klopfte den Schmutz von seinem Gewand ab und Johann musste niesen. Menas warf ihm einen vorwurfsvollen Blick über die Schulter zu und dann bedeutete er ihm mit einer Geste, den Mumienkasten wieder hochzuheben.
Mit einem leisen Seufzer tat Johann wie im geheißen, und dann traten sie endlich in den Pavillon ein, der nur aus einem einzigen schmucklosen Raum bestand, dessen Decke eingestürzt war. Überall lagen Sand, Geröll, Holzspäne und zerbrochene Dachschindeln herum. Johann war über diesen trostlosen Anblick ernüchtert und er wollte schon feststellen, dass sie doch wohl kaum die Mumie hier abstellen konnten, als Menas wieder Anstalten machte, den Sarg abzustellen.
Als dies geschehen war, holte er den Besen aus ihrem Bündel und begann, den von Geröll bedeckten Boden zu fegen. Johann war versucht, ihn zu fragen, ob er sich als Tempelputzfrau verdingt hatte, aber der Spott blieb ihm im Halse stecken, als er sah, dass Menas eine vom Schutt verdeckte Steinplatte freigelegt hatte. Er drückte beide Handballen in die Eintiefungen an den Kanten der Platten und hob sie mit hochrotem Kopf empor. Verblüfft stellte Johann fest, dass dies eine Falltür war und darunter führte eine Treppe in die Tiefe. Johann fragte sich, womit er dies verdient hatte, dass er die schwere Mumie jetzt auch noch diese Stufen hinabschleppen musste.
„Das ist ein geheimer Ort, den nicht viele Menschen kennen. Ich glaube nicht, dass Takait von ihm weiß“, meinte Menas, während er eine der mitgebrachten Fackel anzündete.
Dann machte er eine einladende Geste in Richtung Kellereingang. Johann hob mit einem leisen Seufzer die Teppichrolle hoch. Er ging mit der Fackel in der Linken voran und Menas folgte. Die Treppe führte in einem fast quadratischen Innenraum mit einem steinernen Tisch in der Raummitte, auf dem sie die Mumie abstellten.
Johanns sah vor seinem inneren Auge eine mit Früchten und Blumen reich geschmückte Tafel, die einst in die Rückwand gemeißelt war. Sprachlos vor Erstaunen blickte er sich um: Es war der gleiche Raum, den er in seinem Traum betreten hatte. Nur war er inzwischen verlassen und verwahrlost, als seien seit seinem Besuch Jahrhunderte ins Land gegangen.
„Hier können wir doch eigentlich die Mumie lassen!“, schlug Johann halbherzig vor und drehte sich zu dem alten Kopten um.
„Ich hätte nichts dagegen. Damit hätten wir zumindest unseren guten Willen bewiesen“, brummte dieser in seinen Bart hinein und nahm Johann die brennende Fackel aus der Hand, „aber ich bezweifle stark, dass dies dem unruhigen Schatten wirklich genügen würde.“
„Wenn es denn sein muss“, maulte Johann, denn ihm tat schon das Kreuz weh vom Schleppen. Außerdem gefiel es ihm noch immer nicht, dass er dem Bruder nicht zur Hilfe geeilt war. Was ihn aber vor allem beunruhigte, war dass er ihm der Raum, in dem sie sich gerade befanden aus seinem Traum bekannt war, aus einem Traum, in dem er von einer Riesenschlange verschluckt worden war.    Â
„Da geht es in die Gruft!“, erklärte Menas in einem fachmännischen Tonfall, eine Tür in der Rückwand beleuchtend, neben der sich große Steinquader auftürmten. Hatte sein Vater diese schweren Steine aus einer vermauerten Tür entfernt? Johann sagte sich, dass er nicht soviel nachgrübeln sollte. Schließlich hatten sie nur wenig Zeit, da die Karawane am nächsten Tag aufbrach. Aber er würde die Oase nicht ohne den Bruder verlassen!
Hinter der Tür führte ein leicht abschüssiger Gang in die Tiefe, der kontinuierlich niedriger wurde. Das letzte Mal war Johann ihn gedankenlos heruntergeeilt. Diesmal bemerkte er hingegen im Schein seiner Fackel an den Wänden die Reliefs von anmutigen, tanzenden Mädchen, Feldarbeitern bei der Getreideernte und Bildhauern, die an einem Sphinx meißelten. Alles war so kunstvoll ausgeführt, dass er automatisch stehenblieb, um die Bilder zu bewundern. Aus der Nähe betrachtet wirkten sie in ihrer Ausführung unvollendet: manche Teile der Darstellung waren als eingetieftes Relief in die Felswand geschnitten, andere als Zeichnung eingeritzt und viele Details waren nur mit Farbe auf den Stein aufgemalt. Im unruhigen Licht der Fackel wirkten die Figuren wie zum Leben erweckt, aber Johann fragte sich, was er von der flüchtigen Ausführung halten sollte. Â
„Träumst du schon wieder?“
Fast hätte Johann den alten Priester beschuldigt, ein Banause zu sein, aber es gelang ihm mit letzter Kraft, sich zu beherrschen und nicht ausfallend zu werden.
Widerwillig setzte er seinen Weg fort, drehte sich aber nochmals nach einem besonders schönen Detail um, als sein linker Fuß ganz plötzlich ins Leere trat. Er verlor das Gleichgewicht und stieß vor Schreck einen Schrei aus. Schon fürchtete er, in einen Abgrund hinabstürzen, aber im letzten Augenblick riss ihn ein kräftiger Ruck auf den festen Boden zurück. Menas hatte den Kasten mit aller Kraft nach hinten gezogen und damit auch Johann zurückgerissen.
Schwer atmend stellte Johann den Kasten gegen die Wand. Er fühlte sich an den Alptraum von der Schlange erinnert, aber diesmal hatte sich nichts Übernatürliches ereignet. Schaudernd blickte Johann in einen Abgrund hinab, der sich vor ihm im Boden öffnete.
„Was ist das?“, fragte er den alten Priester, obwohl er eigentlich nicht erwartete, dass dieser seine Frage beantworten konnte.
„Diese Brunnen genannten Schächte finden sich in vielen Gräbern. Sie dienen unter anderen der Entwässerung, denn selbst hier in der Wüste kann es nach Regengüssen zu Ãœberschwemmungen kommen, aber vor allen Dingen sind es Fallen für unachtsame Grabräuber“, hörte er Menas hinter sich sagen und wieder wunderte Johann sich, dass dieser sich offenbar sehr gut in heidnischen Gräbern auskannte.
Johann wollte lieber gar nicht wissen, woher sein Reisegefährte diese profunden Kenntnisse besaß, aber er nahm sich vor, dem Boden in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
„Lassen Sie uns lieber von hier weggehen“, meinte er schließlich, nachdem er vorsichtig um den Brunnen herumgegangen war, denn ihm war der dunkle Schacht unheimlich.
Dann ließ er sich das Kopfende des Sarkophags reichen und der Abstieg ging weiter. Mittlerweile war der Korridor so niedrig, dass Johanns Kopf die Decke fast berührte. Aus einer Öffnung über ihm drang ein schmaler Lichtkegel in den dunklen Gang, was Johann erstaunte. Er musste er sich zu seiner Beschämung eingestehen, dass er völlig die Orientierung verloren hatte.
Schließlich gelangten die beiden Reisegefährten in einen kleinen Raum mit schräger Decke, der Johann an das Innere einer riesigen Puppenstube erinnerte. Anders als in der Grabkammer seines Traumes, war jedoch keine überlebensgroße Dame in die Rückwand eingemeißelt, sondern um alle vier Wände liefen Bänder mit winzigen Hieroglyphen. Trotzdem war er sich sicher, dass es sich um dieselbe Kammer handelte.
Endlich am Ziel, dachte Johann und er kam sich vor wie ein Kapitän, der nach langer Irrfahrt endlich Land am Horizont sah und im gleichen Augenblick wurde ihm erst bewusst, dass er schon wieder in Bildern dachte, die der Odyssee entlehnt waren.
„Was mag da wohl stehen?“, fragte Johann den alten Menas. Nachdem sie den Sarkophag auf dem Boden abgestellt hatten, da es in der Grabkammer keine Möbel gab erleuchtete dieser nämlich die Inschriftbänder mit der Fackel. „werden hier wieder die Grabräuber verflucht?“
„Nein“, entgegnete dieser leichthin, „das sind nur ganz harmlose Pyramidentexte. Sie schildern die Reise des Sonnengottes durch die Unterwelt und das Jüngste Gericht der Ägypter, bei dem das Herz gewogen wird. Nur wenn es leichter ist als eine Feder dürfen die Verstorbenen das Land jenseits des Stroms betreten.“
Johann ließ seinen Blick mit einem wohligen Schauer über die Wände schweifen, aber er erkannte nirgendwo Osiris als Totenrichter. Als er die Scheintür sah, fiel ihm ganz plötzlich ein, dass er Menas bisher gar nicht nach der Bedeutung der schrecklichen Schlange gefragt hatte.
„Was war das eigentlich für eine riesige Schlange, die ich im Traum gesehen habe?“
„Das war Apophis, die Verkörperung von Auflösung, Finsternis und Chaos. Sie ist der große Widersacher des Sonnengottes und muss allmorgendlich besiegt werden, damit die Sonne aufgehen kann“, erklärte Menas, ohne von der Wand wegzuschauen. „Das ist seltsam: Die Frau, die hier bestattet ist, heißt doch tatsächlich Takait und sie war eine Tänzerin des Amun.“
„Takait? Und sie war eine Tänzerin“, rief Johann völlig vom Donner gerührt aus und hätte fast vor Schreck ein Gefäß fallen lassen, das er von Boden aufgehoben hatte.
Menas nickte.
„Sie erfinden das nicht nur?“, vergewisserte sich Johann, da er das ungute Gefühl hatte, dass dies ein schlechter Scherz sein sollte.
Statt eine Antwort zu geben, schüttelte der alte Mann nur den Kopf und Johann beschloss, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und Menas eine Frage zu stellen, die ihn sehr beschäftigte.
„Was wollten Sie mir eigentlich über unsere Takait berichten?“, fragte er in einem beiläufigen Tonfall, während er sich neben den alten Mann stellte und so tat, als ob er die Hieroglyphen studieren würde.
„Ach, nichts Besonderes“, murmelte Menas, ebenfalls mit schlecht gespielter Nonchalance, „das hat wirklich noch Zeit. Wir sollten wirklich schnellstmöglich von hier verschwinde.“
„Sie klangen aber sehr ernst!“, präzisierte Johann, obwohl er sicher war, dass Menas wieder abwiegeln würde.
Dieser seufzte leise und schaute einen Augenblick lang so angestrengt auf den Boden, als ob es dort ebenfalls Hieroglyphen zu entziffern gäbe.
„Irgendwann muss ich es dir ja doch erzählen, also warum nicht jetzt?“ Johann schaute den alten Mann beklommen an, der seinen Blick wieder zu den Pyramidentexten gehoben hatte, da er tief in seinem Inneren befürchtete, dass Menas ihm mitteilen wollte, dass Takait ein leichtes Mädchen sei. „Ich habe mittlerweile erfahren, dass sie …  meine Tochter ist. Das stand nämlich in den Aufzeichnungen ihres Vaters. Ich habe … “ Menas schluckte und leckte sich dann über die Lippen. Johann hingegen war so geschockt und zugleich erleichtert über diese ungeheuerliche Enthüllung, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. „Ihre Mutter früher recht gut gekannt. Dass sie schwanger war, als sie geheiratet hat, hat mir aber niemand erzählt.“
„Und Ihre Frau?“
„Ach überspringen wir lieber diesen Punkt“, brummte Menas, „aber jetzt, da ich weiß, dass ich Takaits Vater bin, mache ich mir doch Sorgen wegen ihres Umgangs …“
„Wollen Sie etwa andeuten, dass ich einen schlechten Einfluss auf diese Lügnerin und Diebin habe? Was für eine gemeine Verdrehung der Tatsachen! Irgendjemand hätte das Mädchen besser erziehen sollen, egal wer!“, rief Johann verärgert aus und die Wände warfen seine Stimme von allen Seiten als Echo zurück. Er sah seinen Reisegefährten von der Seite an, aber er fand, dass Takait ihm gar nicht ähnlich sah.
„Ich habe damit nicht nur dich gemeint“, erklärte Menas in einem beschwichtigenden Tonfall. „Was ich neulich andeuten wollte: Takait gehört hierher. Das ist ihre Welt. Sie ist noch nicht einmal eine halbe Europäerin. Wir Kopten sind die Nachkommen der alten Ägypter. Ich kann mir vorstellen, dass dein Vater Takait mitnehmen wollte und ihre Mutter ihm deshalb die Wahrheit erzählt hat, zumal sie, obwohl sie sich mittlerweile verheiratet hatte, trotzdem nicht ihr Kind verlieren wollte.“
Johann sah das Gesicht der eigenen Mutter vor sich, falls Vater mit Takait vor der Tür gestanden hätte. Er wollte sich lieber gar nicht vorstellen, was dann geschehen wäre.
„Aber weshalb um Himmels Willen hätte Vater sie nach Deutschland mitnehmen sollen?“, fragte er schließlich entgeistert nach.
„Weil der Mann von Takaits Mutter sein Freund war und er daher dachte, sie sei die Tochter seines Freundes. Aber jetzt genug gefragt!“, erklärte Menas und er riss sich von den Inschriftbändern los, „wir sollten lieber wieder verschwinden. Das sieht hier alles nicht besonders stabil aus.“
Der Kopte zeigte auf einen tiefen Riss in der Decke und Johann durchlitt einem Anfall von Platzangst, aber trotzdem war er nicht sicher, ob sie bereits ihrer Pflicht genüge getan hatten.
„Aber wir können den Sarkophag doch nicht einfach hier so liegen lassen!“, protestierte er daher, obwohl seine Gedanken noch immer bei der befremdlichen Vorstellung weilten, dass Takait die Tochter des alten Kopten war.
„Nein, natürlich nicht, wir packen ihn natürlich aus dem wertvollen Teppich aus. Es wäre ein Jammer, ihn hier liegen zu lassen.“
„Das ist nicht, was ich gemeint habe! Sollen wir die Mumie einfach auf den nackten Boden legen?“, erklärte Johann, obwohl er sicher war, dass ihn Menas absichtlich falsch verstanden hatte.
Menas ging mit langen Schritten zu ihrer Last und Johann folgte ihm.
„Eigentlich müsste hier ein Liege stehen, und andere Möbel, aber offenbar haben Grabräuber alles ausgeräumt. Das ist jedoch nicht so schlimm. Wenn wir die Mumie so an die Westwand stellen, dass sie die aufgehende Sonne sehen kann wird es nach der hiesigen Glaubensvorstellung in Ordnung sein.“
Als sie den bemalten Sarkophag durch die Kammer schleppten, fragte Johann sich wie sein Reisegefährte hier unten die Himmelsrichtungen bestimmen wollte, und wie die Mumie im ewigen Dunkel dieser Grabkammer die Sonne sehen sollte. Aber er ging diesen Fragen nicht nach, denn er wollte das Grab so schnell wie möglich verlassen: Noch immer beunruhigte ihn die schadhafte Stelle in der Decke zutiefst.
Endlich war der Mumiensarg gegen die Wand gelehnt, die Menas für die östliche hielt. Einen Augenblick lang schauten die beiden den prächtigen Kasten an und Johann konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihn tatsächlich der Geist des vor Jahrtausenden gestorbenen Mädchens zu Hause bei Nacht erschienen war, dessen Mumie diese kunstvolle Umhüllung enthierl. Er musste völlig von Sinnen gewesen sein, dies geglaubt zu haben.
Und der Morgenmantel, den der Vater ihn mitgebracht hatte? Zum ersten Mal in seinem Leben fragte sich Johann, ob er möglicherweise ein Schlafwandler war. Vielleicht hatte er selbst im Schlaf den Mantel irgendwo im Haus versteckt. Und wenn er ihn bei seiner Rückkehr nicht wiederfand. Johann ermahnte sich, dass er nicht an die Zukunft denken sollte, bevor sie den Bruder gerettet hatten.
Menas bekreuzigte sich nach orthodoxem Brauch und Johann tat es ihm gleich, aber er traute seinen Ohren kaum, als der alte Priester anschließend einige altägyptische Gebete murmelte.
„Woher kennen Sie diese heidnischen …“
„Schaden kann es bestimmt nicht“, erklärte Menas unvermittelt, als er sich wieder zu seinem Reisegefährten umdrehte. „Und jetzt nichts wie raus aus dieser Bruchbude!“
Johann fühlte sich hintergangen.
„Sie haben alles gewusst!“, entfuhr es ihm schließlich beim erklimmen der steilen Stufen, „Warum haben Sie uns nicht erzählt, wie gut Sie sich hier auskennen?“ Menas, der vor ihm die Treppe hinaufstieg antwortete nicht. „Und was verbergen Sie uns sonst noch alles?“
Johann hatte fast gebrüllt, damit Menas nicht behauptete, ihn nicht verstanden zu haben.
„Ich wusste jedenfalls nicht, woher die Mumie stammt. Das hätte ich euch selbstverständlich mitgeteilt. Ansonsten wollte ich euch nicht mit unangenehmen Details belästigen.“
„Sehr freundlich“, entgegnete Johann und er fand die Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter mittlerweile ziemlich ausgeprägt.Â
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23. Sobek
Hori, der Priester des ersten Tempelhofes leistete den Wachen Gesellschaft, um sich selbst ein Bild von der Lage auf dem Tempelvorplatz zu machen. Als er seinen Blick über den – bis auf ein paar Händler – menschenleeren Platz schweifen ließ, ärgerte er sich, dass man ausgerechnet ihn mit der undankbaren Aufgabe betraut hatte, die Gläubigen abzuweisen, die sicherlich bald Zuflucht im Neith-Tempel suchen würden. Es war noch sehr früh am Morgen, weshalb die meisten Einwohner der dritten Oase sicherlich noch schliefen. Andere hatten sich bereits vor Angst in ihren Kellern verschanzt und der Priester hatte das ungute Gefühl, dass es bald an der Tempelpforte nur so vor Hilfesuchenden wimmeln würde, aber was sollte er ihnen sagen? Dass dem obersten Priester der Schutz seines Schatzes mehr am Herzen lag als ihr Wohlergehen und er daher strikte Anweisung erhalten hatte, niemanden einzulassen?Â
Die ranghöheren Priester machten es sich ziemlich einfach! Sie waren es, die die heiligen Riten vollzogen und daher fielen ihnen Anerkennung und materielle Vergünstigungen geradezu in den Schoß, aber die unpopulären Maßnahmen delegierten sie an die jungen Priester. Ansonsten nahmen sie von den „dienstbaren Geistern“ kaum Notiz. Es war bezeichnend, dass der oberste Priester sich noch nicht einmal seinen Namen merken konnte. Er hieß Hori und nicht Hor, aber, wenn er den mächtigsten Priester der Göttin Neith verbesserte, würde er niemals in der Hierarchie aufsteigen. Außerdem ärgerte es Hori, dass die oberen Priester sich während seiner Anwesenheit unterhielten, als wäre er eine Statue oder ein Möbelstück. Anderenfalls wäre ihm sicherlich verborgen geblieben, wie erst die Lage war: Zwar war die dritte Oase die bevölkerungsreichste der drei Sobek-Oasen, aber sie war ein religiöses Zentrum, in dem die Steuern fast ausschließlich in den Bau und den Unterhalt der Tempel geflossen waren, während man in der ersten in den letzten Jahren eine Armee aus Beduinen und Nubiern rekrutiert hatte.
In seinen trübsinnigen Gedanken versunken, bemerkte Hori die beiden ortsfremden Männer erst in dem Augenblick als sie bereits fast den halben Tempelplatz überquert hatten. Aus seiner Grübelei aufschreckend erkannte er sie sofort: Es waren die beiden Halunken, die behauptet hatten, die Brüder der Tempeltänzerin Takait zu sein. Später hatte das Mädchen dann dem obersten Priester berichtet, dass sie keinesfalls mit den beiden Beduinen verwandt war. Vielmehr gehörten diese zu einer berüchtigten Bande von Grabräubern, die auf den Sobek-Oasen ihr Unwesen trieb.
Im Licht der milden Herbstsonne passierten die Beduinen bereits die Stände der Devotionalienhändler. Letztere waren offensichtlich wie Hori der Ansicht, dass die Angst bald die Menschen zum Tempel treiben würde, denn am Vortag hatten weit weniger von ihnen auf dem Tempelvorplatz ihre Skarabäen, Götterfigürchen und Amulette zum Kauf angeboten.
Einen Augenblick lang erwog Hori, den Haushofmeister zu rufen, damit dieser die beiden Schufte festnehmen lassen konnte, aber er verwarf diesen Gedanken wieder, denn die steinerne Miene, mit welcher der oberste Priester das Geständnis Takaits angehört hatte, war ein untrügliches Kennzeichen dafür, dass er ihr nicht glaubte. Zwar hatte er Takait huldvoll „verziehen“, aber Hori hatte er nicht täuschen können. Der oberste Priester hielt Takait für eine Hochstaplerin, die nur zum Spionieren in den Tempel gekommen war. Auch Hori vermutete, dass die Tänzerin ihnen nicht alles gesagt hatte, was sie wusste, aber was ihre beiden Entführer und deren finstere Absichten betraf, so hatte sie bestimmt die Wahrheit gesagt.
„Seid gegrüßt, ehrwürdiger Priester der Neith“, sagte die jüngere der beiden finster wirkenden Kerle, die auch in ägyptischer Kleidung wie Beduinen aussahen, da sie ihre wettergegerbte, dunkle Haut nicht verbergen konnten. Dabei machte er eine unterwürfige Verbeugung. „Wir müssten so bald wie möglich in einer wichtigen Familienahngelegenheit mit unserer Schwester Takait sprechen.“
Hori war froh, dass Takait bereits wieder mit den beiden Fremden verschwunden war oder genauer gesagt, dass er sie dazu genötigt hatte, mit ihnen zu gehen. Er hatte dies getan, um die Tänzerin vor dem Zorn des obersten Priesters zu schützen. Nur weil sie diesen bedeutsamen Traum gehabt hatte, war Takait nicht als Handlangerin der Grabräuber zum Tode verurteilt oder wenigstens des Tempels verwiesen worden. Doch Hori befürchtete das Schlimmste für sie, falls die Armee der dritten Oase die Schlacht verlieren sollte. Aber selbst, wenn diese – wider alle Erwartungen - die feindlichen Soldaten besiegen sollte, würde in Friedenszeiten der gesunde Menschenverstand dem obersten Priester sagen, dass es niemals wieder einen Pharao geben würde. Das äußerste, was die Bewohner der Sobek-Oasen von der Zukunft erhoffen durften war, dass sie weiterhin im Verborgenen weiterexistieren durften. Da aber Takait die Rückkehr des Pharao geweissagt hatte, wäre damit ihre Karriere als Prophetin beendet.
„Sie weilt leider nicht in diesem Tempel“, antwortete Hori wahrheitsgemäß. Dann versuchte er einen sorgenvollen Gesichtsausdruck anzunehmen. „Grauenhafte Dinge haben sich in der Zwischenzeit ereignet, grauenhafte Dinge! Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass Takait zusammen mit einem jungen Fremden von einem abtrünnigen Priester gefangen genommen worden ist, der die beiden dem Sobek opfern möchte, damit der Sohn der Neith unserer Oase im bevorstehenden Kampf beisteht.“
Hori behauptete dies, weil er sich des Verdachtes nicht erwehren konnte, dass das frevlerische Unterfangen des angeblichen Priesters, der das Volk aufwiegelte, nur ein Ablenkungsmanöver war, mit dem Ziel, dass man Wachen vom Neith-Tempel abzog. Und dies, wo eine Schlacht vor den Toren der Stadt bevorstand! Sicherlich gehörte dieser heimtückische Volksverhetzer zur gleichen Räuberbande wie die beiden Karawanenführer, die die Frechheit besaßen in eben diesem Tempel ein- und auszugehen, den sie später berauben wollten. Hori hoffte, dass die Strafe der Götter, die der geplante Frevel eines Menschenopfers unweigerlich hinter sich ziehen würde, auch die beiden Beduinen treffen möge, zumal sie Takait erpresst und gefangen gehalten hatten.
Die beiden Männer starrten Hori mit weit aufgerissenen Augen an.
„Seid Ihr sicher?“
Diesmal war es der ältere der beiden Männer, der sprach. Er fragte sich bestimmt, ob seine Handlanger seine Anweisungen falsch verstanden hatten, denn er brauchte Takait, damit sie für ihn spionieren konnte.
Hori straffte seine Schultern. Dann runzelte er die Stirn und bedachte die Nomaden mit einem arroganten Blick. Dabei nahm er sich den obersten Priester zum – sicherlich unerreichbaren - Vorbild.
„Ihr zweifelt doch wohl nicht etwa am Wort eines Priesters der Neith?“, fragte er in einem Tonfall, als ob dies nur eine rethorische Frage sei.
„Wir haben uns nur gewundert…“, der jüngere Nomade beendete den Satz nicht, wahrscheinlich, weil sein Kamerad ihn wütend anstarrte und kurz davor stand, ihm den Mund zu verbieten.
„Dann will ich eure Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen“, sagte Hori, auch mit diesen Worten den obersten Priester imitierend. Er entließ sie mit einer lässigen Bewegung, als ob sie sein Hofstaat wären.
Die beiden Nomaden hatten verstanden, dass ihre Audienz damit beendet war. Sie verabschiedeten sich mit einigen konventionellen Höflichkeitsformeln und Hori wünschte ihnen insgeheim, dass man sie anstatt des Fremden dem Krokodilgott opfern möge. Wenn man denn unbedingt derartige Bräuche wiederbeleben musste, so waren diese beiden Grabräuber die passenden Opfer.
„Stimmt das, was Ihr eben über Takait gesagt habt?“
Hori drehte sich nach dem jungen Wachposten um, der diese Frage gestellt hatte, und der Offenbar ein Auge auf die schöne Tänzerin geworfen hatte, denn alle Farbe war ganz plötzlich aus seinem Gesicht gewichen.
„Wenn du zu viele Fragen stellst, wirst du es niemals zum Priester ersten Ranges bringen“, tadelte Hori den verliebten Wachposten, bemühte sich aber dabei um einen kollegialen Tonfall, denn er wollte nicht riskieren, dass dieser sich über ihn beim obersten Priester beschwerte.
Dann fragte er sich ganz plötzlich, ob er richtig gehandelt hatte. War es wirklich eine gute Idee gewesen, die beiden Nomaden dorthin zu schicken, wohin auch der alte Menas aufgebrochen war. Sein Ägyptisch war mit den Jahren, die er jenseits der Sobek-Oasen verbracht hatte noch barbarischer geworden, weshalb Hori ihn nur mit Mühe verstanden hatte. Den Kopten hatte ein junger, rothaariger Europäer begleitet, der Hori an den alten Frevler erinnert hatte, der im Frühjahr leider von der Oase geflüchtet war. Konnte dies wirklich ein Zufall sein?
Als dieses ungleiche Paar mit Takait verschwunden war, hatte Hori sich gefragt, woher die beiden die Tänzerin wohl kannte und ob auch der Fremde, den die Fanatiker dem Sobek opfern wollten zu ihnen gehörte.
Andererseits konnten die zwielichtigen Karawanenführer ihm nun den Weg zu ihren Komplizen zeigen, die sie bestimmt aufsuchen würden, nachdem sie diese Hiobsbotschaft erhalten hatten. Hori musste ihnen nur unauffällig folgen. Zwar hatte er eine grobe Vorstellung, wann der Frevel begangen werden sollte. Es konnte nämlich kein Zufall sein, dass just an diesem Tage das Fest des Sobek auf dem ewigen Festtagskalender stand. Daher hatte Hori bereits am Vortag beschlossen, dem heiligen See des Sobek-Tempels im Lauf des Tages einen Besuch abzustatten, aber der Besuch der Beduinen erleichterte die Sache, denn nun musste er ihnen nur noch folgen, um zur richtigen Zeit den Ort des Frevels zu erreichen. Â
„Ich muss den Tempel wegen einer wichtigen Angelegenheit für einige Stunden verlassen“, sagte Hori kurz entschlossen zu den beiden Tempelwächtern und beglückwünschte sich selbst dazu, dass er dem jüngern von ihnen vorhin geraten hatte, keine unnötigen Fragen zu stellen.
Dann suchte er die Spendenkammer auf und holte aus einer Truhe, die gestiftete Textilien enthielt ein einfaches, weißes Gewand, denn erstens sollten die Nomaden nicht bemerken, dass er ihnen folgte und zweitens legte er keinen Wert darauf, auf der Straße als Priester erkannt zu werden, denn dann würden ihn die verängstigten Einwohner, die bald den Tempel aufsuchen würden, mit Bitten und Gesuchen bestürmen.Â
*Â Â Â Â Â
Peter lag auf dem mit Stroh bestreuten Boden aus gestampftem Lehm und konnte es noch immer nicht fassen, was ihm geschehen war. Er schlang seinen Umhang fest um den Körper, fröstelte aber noch immer trotz der sommerlichen Hitze. Der Raum war von einem beißenden Gestank erfüllt, der Peter an die Karawanserei erinnerte, in der Johann sich mittlerweile wohl sorgte, wo sein großer Bruder geblieben war. Zuerst hatte Peter in seinem Verlies getobt, hatte durch das kleine, vergitterte Fenster um Hilfe gerufen und mit den Fäusten gegen die Kellertür gehämmert, bis ihm die Knochen schmerzten, aber die Bewohner des Hauses hatten gar keine Notiz genommen und auch es waren auch keine Nachbarn herbeigeeilt, um ihm zu helfen.  Â
Am ersten Tag hatte Peter gehofft, dass man ihn gegen ein Lösegeld wieder freilassen würde und hatte jeden Augenblick die Ankunft des Bruders erwartet. Die folgende Nacht hatte er in dumpfem Brüten durchlitten. Im Halbschlaf durchwachte Stunden wechselten mit unruhigem Schlaf, aus dem ihn immer wieder Alpträume aufschrecken ließen, nur um festzustellen, dass seine Lage die Träume an Schrecklichkeit übertraf. Als nach dieser mit quälender Langsamkeit verstrichenen Nacht noch immer niemand kam um ihn zu befreien, war seine anfängliche Hoffnung tiefer Verzweiflung gewichen.
Peter hätte nicht zu sagen vermocht, wie viel Zeit im Halbdunkel des Kellers vergangen war, als der Riegel der Kellertür geräuschvoll aufgeschoben wurde und die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde. Plötzlich war Peter hellwach. Der Kopfschmerz und die Benommenheit, die von dem Schlag auf den Hinterkopf herrührten, waren wie weggeblasen und Peter rappelte sich auf mühsam vom Boden auf. Durch den Türspalt sah er eine kleine untersetzte Frau mit welligem Haar, das bereits von grauen Strähnen durchzogen war mit einer Fackel in der Hand. Sein Herz machte vor Freude einen Sprung, da er einen Augenblick lang glaubte, er könnte die Frau einfach zu Seite schieben und die Treppe hinaufstürmen. Schließlich war er jünger und kräftiger als sie.
Dann realisierte er mit Schrecken, dass die Kellertür mit einer Kette gesichert war. Sein Magen zog sich zusammen und eine namenlose Enttäuschung überflutete ihn.Â
Die Frau mittleren Alters schob mit dem Fuß einen Teller mit einem Stück Trockenfleisch und einem halben Fladenbrot durch die Tür. Offenbar war sie mit der Aufgabe betraut, zu verhindern, dass der Gefangene verhungerte. Zu mehr taugte die magere Portion gewiss nicht.
„Warum hält man mich in diesem Loch gefangen?“, fuhr Peter die Besucherin in wilder Verzweiflung an.
Die Frau schrak zusammen und starrte Peter mit vor Furcht weit aufgerissenen schwarzen Augen an. Sicherlich hatte sie nicht erwartet, von dem Gefangenen angesprochen zu werden. Aber natürlich verstand sie kein Wort.
Sie stammelte etwas vor sich hin, während sie hastig die Kellertür schloss und mit zitternden Händen verriegelte. Dann hörte sie Peter die Treppe hinaufeilten. Als sie oben ankam, rief eine barsche männliche Stimme der Frau etwas zu und daraus entwickelte sich ein Streit, der mit einer derartigen Heftigkeit geführt wurde, dass er nicht nur im Keller, sondern bestimmt auch in sämtlichen Nachbarhäusern zu hören sein musste.
Peter versuchte sich auf jede Kleinigkeit zu konzentrieren, die von oben in den Keller drang, die er bei seiner geplanten Flucht ausnützen könnte. Ganz plötzlich war es im Haus wieder ganz still.
Er wird ihr doch hoffentlich nicht meinetwegen etwas angetan haben, fragte sich Peter bang.
Wieder verfiel er in sein vorheriges dumpfes Grübeln und er zermarterte sich sein Hirn, was er tun könnte, um doch noch zu entfliehen. Aber es wollte ihm einfach kein Ausweg einfallen. Wenn er doch wenigstens einen Spaten hätte! Dann könnte er wie der Graf von Monte Christo einen Tunnel graben. Da der Boden des Kellers aus gestampfter Erde bestand, würde er dafür auch nicht wie sein Vorbild dreißig Jahre brauchen. Peter schaute sich verzweifelt in seinem Verließ um, aber er fand keinen Gegenstand, der sich als Werkzeug zweckentfremden ließ.
Noch nicht einmal Schreibmaterial hatte man ihm gelassen, unmöglich dem Bruder eine Nachricht zu schreiben! Aber wie sollte ich ihm einen Zettel zukommen, dachte er einen Augeblick später resigniert.
So vergingen einige Stunden, bis ein stämmiger Mann in einfacher Gewandung, der der Ehemann der Frau sein mochte Peter eine weitere Mahlzeit „servierte“, die auch nicht gehaltvoller oder wohlschmeckender war als die erste. Seine abweisende Miene signalisierte unmissverständlich, dass der Mann nicht mit seinem Gefangenen zu verhandeln gedachte.
Peter haderte noch immer mit seinem Schicksal, als er am folgenden Morgen überraschenderweise Besuch von mehreren Personen erhielt: Im hellen Schein einer Fackel standen die heimtückische Frau, die den anderen als Lockvogel gedient hatte und fünf Männer, die Peter noch niemals zuvor gesehen hatte. Alle waren in Gewänder aus besonders feinem Leinen gekleidet.Â
Die schöne Frau, der er gefolgt war hatte über ihr Kleid ein schlauchförmiges, perlenverziertes Netz gezogen. Mit einer Geste bedeutete sie Peter, ihr zu folgen. Da die Überzahl seiner Feinde erdrückend war, tat er wie ihm geheißen, wenn auch äußerst widerwillig, denn er fühlte geradezu körperlich, dass ihm oben große Gefahr drohte.
Es kostete Peter einige Mühe, die Kellertreppe hinaufzusteigen, so geschwächt war er von seiner Gefangenschaft. Ihm war schwindlig und seine Beine wollten ihm den Dienst versagen. Plötzlich streifte etwas Weiches seine Wade. Es war die Katze, die ihm in Keller Gesellschaft geleistet hatte. Bei Tageslicht betrachtet wirkte sie nicht mehr ganz so hässlich wie im Halbdunkel seines Verlieses und Peter war froh, dass er sein Mahl mit ihr geteilt hatte.
Einer der Männer zeigte anklagend auf das Tier und machte eine hämische Bemerkung. Mit finsterer Miene machte die Frau eine abwehrende Handbewegung. Offensichtlich betritt sie, dass die Katze ihr gehörte und Peter sagte sich, dass das arme Tier sehr schlecht behandelt worden sein musste, dass die wenigen Happen, die er ihr abgegeben hatte, es für ihn eingenommen hatten. Â
Die schöne Frau, die Peter in die Falle gelockt hatte, machte eine spöttische Bemerkung und die Umstehenden lachten. Dann gab man Peter einen Stoß in den Rücken, um ihn zu bedeuten, nicht länger vor der Kellertreppe herumzustehen.
Mit Peter in ihrer Mitte durchquerten die Männer die Diele aus gestampftem Lehm, wie sie in den einfacheren Häusern der Sobek-Oase weit verbreitet waren. Hier roch es angenehm nach frischem Brot und nach Kräutern. Der Duft ließ Peter das Wasser im Mund zusammenlaufen und es empörte ihn, dass man ihm immer einen derartigen Schlangenfraß in den Keller gebracht hatte, wo es im Haus offenbar kein Mangel an bessere Speisen gab. Peter fühlte eine ohnmächtige Wut in sich aufsteigen, aber er wusste zugleich, dass er einen klaren Kopf behalten musste, wenn es ihm gelingen sollte, doch noch irgendwie zu entkommen.
Vier der Männer blieben vor der Haustür stehen, während der fünfte Peter in einen angrenzenden Raum schleifte. Kaum dass er die Schwelle überschritten hatte, wurde die Tür geräuschvoll hinter ihm geschlossen. Das Sonnenlicht, das durch ein hohes Fenster fiel blendete Peter und er erschrak, als zwei Schemen ihm mit drohend erhobenen Gegenständen entgegen schritten. Dann erkannte er erleichtert, dass es Frauen, nach ihrer Kleidung zu schließen Dienerinnen waren. In ihren Händen hielten sie keine Waffen, sondern Kämme, Gefäße und Tücher.
Eine der Frauen öffnete eine Alabasterflasche. Ihr Inhalt roch so betörend nach einer exotischen Blume, dass Peter schwindlig wurde. Sein Blick fiel auf einen großen Bottich und er erkannte, dass der Raum, in den man ihn gebracht hatte als Badezimmer diente. Ehe er protestieren konnte, hatte man ihn mit Wasser besprengt, wieder abgetrocknet und mit duftenden Salben parfümiert. Eine Frau brachte ihm ein paar neue Sandalen, während sich sein Gewand zurechtzupfte und sein Haar kämmte, das ihm mittlerweile bis auf die Schultern fiel.
Während Peter willenlos die ganze Prozedur über sich ergehen ließ, war sein Verstand damit beschäftigt herauszufinden, warum man ihn in einen präsentablen Zustand zu versetzen suchte. Kaum wagte er zu hoffen, dass man ihn endlich gegen Lösegeld ausliefern würde. Aber warum eigentlich nicht? Vielleicht hatten sich die Entführer mit seinem Bruder geeinigt und nun hatten sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn in einem dreckigen Keller gefangen gehalten hatten.
Die beiden Dienerinnen begutachteten ihn, traten einen Schritt zurück und steckten die Köpfe tuschelnd zusammen. Dann klopfte eine von ihnen an die Tür, die augenblicklich aufgerissen wurde. In der Diele erwarteten die Hausherrin und die fünf Männer ihren Gefangenen.
Die Haustür stand sperrangelweit offen und einer der Männer gab Peter einen unsanften Stoß, der ihn zum Stolpern brachte. Nur im letzten Augenblick fand er sein Gleichgewicht wieder, sodass er nicht fiel. Dann fand er sich auf der Gasse wieder und ehe er sich versah, fühlte er die Spitze eines Schwertes im Rücken. Peter wurde von Panik überflutet. Er drehte den Kopf ganz leicht um einen verstohlenen Blick nach hinten werfen zu können und begann am ganzen Köper zu zittern, als er erkannte, dass der Besitzer des Schwertes aussah wie ein Soldat.
Sosehr er sich in den letzten beiden Tagen gewünscht hatte, das Tageslicht wieder zu sehen und endlich wieder frische Luft zu atmen, so hatte Peter sich seine „Befreiung“ aus dem Keller nicht vorgestellt.
Auch die Umgebung ließ zu wünschen übrig: Mit ihrem abbröckelnden Putz waren die Umgebenden Häuser so trostlos, dass Peter sich fragte, ob er völlig von Sinnen gewesen war, ein derart schäbiges Viertel zu betreten. Sein Bruder würde ihn sicherlich mit Vorwürfen überschütten, wenn er davon erfuhr. Peter rief sich ins Gedächtnis, dass er zuerst fliehen musste, ehe ihn jemand tadeln konnte und eine neue Welle der Panik stieg ihn ihm auf.
Was hatte man mit ihm vor? Dies sah nicht aus, wie die Übergabe eines Entführten! Peter spürte geradezu körperlich, wie sich etwas Unheilvolles über ihm zusammenbraute, denn die Fenster der Häuser waren verhängt, die Werkstätten mit ihren Läden geschlossen und aus ihrem Inneren, drangen das Klagen von Frauen und das Weinen von Kindern. Wovor um Himmels Willen fürchteten die Einwohner der dritten Oase sich so?
Sein müder Blick fiel auf die graue Katze mit dem struppigen Fell, die zu ihm hochblickte und er murmelte ihr einige aufmunternde Worte zu, die er jedoch selbst bitter nötig gehabt hätte.
Einer der Männer fuhr Peter barsch an und machte eine Handbewegung, die nur bedeuten konnte, dass er vorangehen sollte. Wieder fragte Peter sich, wohin man ihn wohl bringen wollte. Die Sonnenstrahlen blendeten ihn und er begann zu blinzeln, aber bald machte die Gasse einen Knick und nun brannte ihn die Sonne auf den Nacken, aber er wagte es nicht, sich den Hals abwischen, weil er Angst hatte, dass seine Armbewegung missverstanden werden könnte.
Die ärmlichen Hütten, die Peter passierte, besaßen weder Terrassen noch Gärten. Offenbar war es offensichtlich auf diesen Oasen nur den Priestern vergönnt, unter Palmbäumen zu lustwandeln. Der größte Teil des Volkes musste hingegen mit diesen engen Unterkünften vorlieb nehmen, die nicht einmal vorkragende Dächer besaßen, die etwas Schatten hätten spenden konnte.
Peter schritt schneller, da ihn die Spitze des Schwertes in die Haut bohrte. Als er das Ende der Gasse erreicht hatte, zeigte sich, dass das Haus, in dessen Keller man ihn eingesperrt hatte keinesfalls ungewöhnlich heruntergekommen war: Je weiter der Zug sich vom Zentrum entfernte, desto verwahrloster wurden die Behausungen bis sie kaum mehr als Notunterkünfte waren, elende Schuppen, deren Wände keine richtigen Dächer trugen, sonder nur mit Palmblättern abdeckt waren.
Ab und zu öffnete sich eine morsche Haustür oder ein ärmliches Hoftor. Heraus kamen Männer mit finsterem Gesichtsausdruck - manche von ihnen sogar mit Tüchern vermummt - die sich ihnen anschlossen. Ein paar Frauen und Mädchen folgten ihnen mit einigem Abstand, aber Peter sah keine Kinder in der stetig anwachsenden Menge. Beim Anblick der grimmigen Gesichter wurde es ihm noch mulmiger zumute, falls dies überhaupt noch möglich war. Aber am schlimmsten waren die mitleidigen Blicke, die ihm der eine oder andere Oasenbesucher verstohlen zuwarf, wenn er glaubte, dass ihr Gefangener dies nicht bemerkte. Sie gingen Peter durch Mark und Bein.
Wo mochte wohl Johann gerade stecken? Hatte der Bruder überhaupt irgendwelche Anstalten unternommen, um ihm zu helfen? Dies war das erste Mal in seinem Leben, dass Peter seine Hilfe benötigt hätte und schon ließ Johann ihn im Stich.
Die Neuankömmlinge starrten Peter an, doch waren lag in ihren Blicken eher Neugier als Bösartigkeit. Wahrscheinlich hatten die meisten von ihnen noch niemals einen Europäer aus der Nähe gesehen.
Ein einfach aussehender, älterer Mann mit schütterem Haar und Bauchansatz fuhr Peter in einem groben Tonfall an. Wahrscheinlich gefiel ihm nicht, dass der Gefangene seinen Blick hatte schweifen lassen. Trotz seines unverschämten Auftretens konnte der alte Mann nicht verbergen, dass ihn etwas beunruhigte.
Noch immer spürte Peter die Schwertspitze in seinem Rücken. In einem Anflug von Galgenhumor sagte er sich, dass er wahrscheinlich noch dafür dankbar sein musste, dass man ihn nicht gefesselt hatte. Warum eigentlich nicht? Dafür konnte es eigentlich nur eine Erklärung geben: Was diese Menschen vorhatten verstieß gegen die Gesetze der dritten Oase. So konnten sie im Zweifelsfall behaupten, er würde sie aus freien Stücken begleiten. Und da er die Landessprache nicht beherrschte, konnte Peter sie noch nicht einmal der Lüge bezichtigen.
Auf dem Marsch durch die gaffende Menge vermochte Peter bald nicht mehr alle Einzelheiten festzuhalten. Vor seinen, durch dem Aufenthalt in der Dunkelheit empfindlich gewordenen Augen verschwamm alles um ihn herum in einen Wirbel, die halbnackten Männer, die farbigen Kleider der Frauen, das Geraune der Schaulustigen, das Gebrüll von Tieren, die mitgeschleift wurden. Â
Als sie das Ortsende hinter sich gelassen hatten und sich vor ihnen ein mauerumgürteter Tempel in einer öden Steppenlandschaft erhob, war die Menge bereits auf mindestens fünfzig Personen angewachsen.
Anscheinend war der Tempel das Ziel der Prozession und Peter fragte sich mit gemischten Gefühlen, welchem tierköpfigen heidnischen Gott dieser Sakralbau wohl geweiht sein mochte, dessen verschlossenes Portal von drei kahlköpfige, aber bewaffnete Priester patrouillierten wurde.
Noch bevor der Zug die Pforte erreichte, kam der älteste und daher wohl ranghöchste der Wächter ihnen mit langsamen, würdevollen Schritten entgegen. Er donnerte der Menge einige Worte entgegen, die nur heißen konnten, dass er ihr den Zutritt verwehrte, aber er tat dies in einer unverschämten Art und Weise, die erkennen ließ, dass er seine Pflichten missachten würde, wenn man ihn dafür angemessen entlohnte.
Trotzdem hoffte Peter einen Augenblick lang wider alle Vernunft, dass die Priester den Oasenbewohnern ins Gewissen reden könnten.
Aber die anderen berieten sich nicht einmal, sondern der Mann, in dessen Keller Peter eingesperrt gewesen war, schien die Reaktion des Priesters erwartet zu haben. Er trat nämlich vor und drückte dem Wächter eine Silbermünze in die Hand, die dieser mit einer schnellen, eingeübten Bewegung in dem Beutel, der am seinem Gürtel hing verschwinden ließ.
Dann rief der korrupte Wächter den anderen beiden Priestern etwas zu, wahrscheinlich dass er seine Beute mit ihnen teilen würde und sie daher den Weg freigeben sollten. Die schweren Türflügel aus Zedernholz wurden geöffnet und die die Menge konnte ungehinderte das Portal der Umfassungsmauer des Tempels passieren.
Ihre Anführer bogen in einen staubigen Pfad ein, der entlang des Tempels führte und diesen mit einem kleinen Palmenhain verband. Mittlerweile war Peter vom Hunger und dem Marsch durch die Sonne so erschöpft, dass er den Hain wie in Trance durchquerte. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen und bei jedem Schritt fürchtete er das Bewusstsein zu verlieren.
Dann stand er unvermittelt am Rande eines sumpfigen Tümpels, an dessen Ufer Schildgras wuchs. Lilien und Lotosblüten bedeckten seine Oberfläche. Einige von ihnen waren fast so groß wie Teller und dazwischen regte sich etwas unter Wasser.
Vor dem Teich hatte sich bereits eine Menschenmenge um einen muskulösen Mann mit kahl geschorenem Schädel versammelt, der den Schurz der ägyptischen Priester trug, aber Peter bezweifelte, dass dieser grobknochige Geselle mit seinem brutalen Gesichtsausdruck tatsächlich ein richtiger Priester war. Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - flößte ihm der Anblick des Mannes eine namenlose Furcht ein.
Eine vage Ahnung, was hier stattfinden sollte, begann in Peter aufzusteigen. Jedoch er weigerte er sich zu glauben, dass er dies tatsächlich sein konnte. Soweit er informiert war, gab es bei den alten Ägyptern keine Menschenopfer, aber seitdem waren viele Jahrhunderte vergangen und die Sitten konnten sich inzwischen geändert haben. Bei dieser Vorstellung überkam Peter eine derartige Übelkeit, dass er sich fast übergeben hätte. Trotz der Hitze des Sommertages lief ihm ein eisiger Schauder den Rücken hinunter, auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut und seine Fingerspitzen waren kalt und taub.
In der irrationalen Hoffnung, den Bruder in der Menschenmenge zu erkennen, schaute Peter sich um. Sein Blick blieb an einem quadratischen Stein haften, der ganz in seiner Nähe stand und von dem eine schwache Rauchfahne in die Luft aufstieg. Das ist ein Altar, durchfuhr es Peter. Auf dem Boden war eine Blutlache, Ãœberbleibsel eines vor kurzem vollzogenem Opfers.Â
Dieser Anblick flößte ihm ein wahres Grauen ein, zumal sich der selbsternannte Priester mittlerweile hinter dem Altar aufgebaut hatte. Ihm waren zwei Männer in den langen Gewändern der Beduinen gefolgt, die angeregt mit dem Priester sprachen. Erst als sich einer der beiden umdrehte, erkannte Peter sie und am liebsten hätte er sie laut beschimpft: Es waren die beiden ehemaligen Karawanenführer, die Takait entführt hatten. Wo mochte die Tempeltänzerin nur stecken? Hatten ihre Entführer sie hierher mitgeschleppt? Peter ließ seinen Blick über die Köpfe der Menge schweifen, aber Takait war nirgends zu sehen. Er atmete erleichtert auf, denn er hatte schon befürchtet, dass sie mittlerweile mit den Beduinen gemeinsame Sache machten könnte.
Der ältere der beiden Nomaden zeigte mit dem Finger auf ihn und der Mann in Priesterkleidung schüttelte den Kopf, aber ehe Peter sich aus dem Verhalten der Männer einen Vers machen konnte, zog eine Gruppe alter Frauen seine Aufmerksamkeit auf sich. Mit zeremoniellen, bedächtigen Schritten trugen sie eine kleine hölzerne Barke herbei, in deren Buk und Heck Krokodilköpfe eingeschnitzt waren. In der Mitte der Barke befand sich ein Schrein aus Ebenholz, der mit Tüchern verhängt war. Die Frauen sangen leise im Chor eine Hymne, die für Peters Ohren geradezu schmerzhaft dissonant klang. Ihre Prozession endete am Tempelteich, wo sie die Barke auf den Boden stellten. Sie zogen der Vorhänge zurück und enthüllten ein farbig bemaltes hölzernes Götterbild.
Erschrocken bemerkte Peter, dass das Götterbild den Kopf eines Krokodils besaß. Der Tempel außerhalb des Ortes war also die Heimstatt dieses schrecklichen Mischwesens und die Schemen, die er vorhin im Tümpel gesehen hatte, waren die irdischen Verkörperungen dieses krokodilköpfigen Gottes!
Immer mehr Menschen begannen zu singen. Ihre Augen waren auf das grässliche Standbild gerichtet, ihre Hände klatschen einen monotonen Rhythmus, zu dem einige mit den Füßen stampfen. Andere hatten Sistren dabei.
Am Rand der Gruppen standen einige gaffende junge Leute, die nicht in den Gesang eingestimmt hatten und die offenbar weniger ihre Gläubigkeit als schiere Sensationsgier zum Tempelteich geführt hatte. Peter fragte sich verzweifelt, wann endlich der Bruder zu seiner Rettung kam.
*
Takait hatte nicht im Neith-Tempel, sondern in der Karawanserei übernachtet, da sie sich vor dem obersten Priester fürchtete. Wenn sie nur an seine eiskalten Augen dachte, schauderte es sie. Außerdem fühlte sie sich von diesem Hori durchschaut, der so unverschämt gewesen war, sie einfach auf den Marktplatz zu schupsen, wo die Fremden auf sie gewartet hatten.
Leider hatte sie die Karawanserei später verlassen als beabsichtig, da sie Johann überall gesucht hatte. Erst als sie zum dritten Mal durch den Haupteingang geschossen war, hatte sich der Pförtner endlich daran erinnert, dass er ihr eine Nachricht von Menas übermitteln sollte. Zur Strafe für seine Säumigkeit hatte Takait dem Pförtner kein Bakschisch gegeben, noch nicht einmal ein ganz kleines. Das würde ihm sicher eine Lehre fürs Leben sein, aber es brachte Takait aber die verlorene Zeit auch nicht wieder zurück.
Einerseits beruhigte es sie, dass Johann nun doch nicht an ihrer gefährlichen Mission teilnahm. Andererseits fand sie es typisch für den alten Menas, dass er sich nicht nur selbst gedrückt hatte, sondern auch Johann dazu verleitet hatte es ihm gleich zu tun.
Als sie endlich den Sobek-Tempel erreichte, wunderte sie sich über die pflichtvergessenen Wächter, die trotz der drohenden Kriegsgefahr das Portal hatten sperrangelweit aufstehen lassen. Auch die Kontrolle der Besucher schien an diesem Tag äußerst nachlässig zu sein, denn Takait hatte schon fast das Portal passiert, als sich endlich ein Wächter blicken ließ. Es war ein magerer Bursche mit großen Füßen und schlechtem Gebiss.Â
„Ich bin Tempeltänzerin!“, erklärte Takait, da ihr kein besseres Argument einfiel, um in den heiligen Bezirkt eingelassen zu werden.
„Tänzerin seid ihr?“, fragte der Priester erstaunt nach, „dann solltet Ihr Euch lieber beeilen! Die anderen erwarten Euch sicherlich bereits am Tempelteich!“
Takait erschrak, als sie diese Worte hörte. War sie zu spät gekommen? Hatte man Peter bereits dem Krokodilgott geopfert?
Mit klopfenden Herzen folgte sie hastig dem ausgetretenen Pfad, der zum Tempelteich führte, an dessen Ufer sich eine beängstigend große Menschenmenge versammelt hatte. Einige sangen, andere beteten, wieder andere standen einfach herum.
Schon von weitem erkannte Takait Peter an seiner Körpergröße und an seiner hellen Haut. Hinter ihm stand ein Mann in Priesterkleidung, dessen Gesicht Takait nicht sehen konnte. Dies war also der abtrünnige Priester, der das Volk aufgehetzt hatte!
Wenigstes lebt Peter noch! Ich kann noch das Schlimmste verhindern, durchfuhr es Takait. Bei seinem Anblick war sie so erleichtert, dass sie ihm hätte um den Hals fallen können. Zugleich war ihr aber auch ziemlich mulmig zumute. Was mochte Peter nun von ihr denken? Wahrscheinlich hasste er sie und sie konnte es ihm nicht verdenken! Johann hatte völlig Recht! Durchfuhr es Takait. Das ist alles meine Schuld. Ich hätte die Karawane nicht verlassen dürfen! Takait versuchte, ihr schlechtes Gewissen zu besänftigen, denn schließlich war sie gekommen, um den Gefangenen zu retten, doch der Gedanke kam immer wieder, lauter und stärker.
Eigentlich hatte Takait vorgehabt, am Tempelteich tanzen um das Eingreifen der Göttin Hathor zu bewirken, aber sie bezweifelte mittlerweile, ob sich dieser Plan durchführen ließ. Würde dieser aufgeregte Mob sie überhaupt tanzen lassen? Und selbst falls es ihr gelingen sollte, würde die Göttin ihretwegen erscheinen, obwohl sie den Oasenkrokus in ihrem Garten gestohlen hatte?
Takaits Schritte beschleunigten sich immer mehr, bis sie fast rannte, aber sie sagte sich, dass sie ruhig und würdevoll auftreten musste, wenn sie Erfolg haben wollte. Also zwang sie sich, hoheitsvoll zu schreiten.
Endlich erreichte sie die Volksmenge, aber niemand nahm von ihr Notiz, was eine neue Erfahrung für Takait war, die es bisher gewohnt gewesen war, überall durch ihre Schönheit Aufsehen zu erregen.
Mit Schrecken stellte es fest, dass man Peter bereits vor den Opferaltar geschleift hatte. Glücklicherweise war er nicht gefesselt, aber ein vierschrötiger Ägypter, der wie ein Soldat wirkte, bedrohte ihn mit seinem blanken Schwert.
„Ihr wisst alle, warum wir uns zu dieser schweren Stunde hier versammelt haben!“, rief der falsche Priester in diesem Augenblick pathetisch aus. Seine hohe, etwas schrille Stimme verursachte Takait eine Gänsehaut. Sie wusste, dass sie diese Stimme schon einmal gehört hatte, konnte sich aber nicht entsinnen, wem sie gehörte. „Ich werde diesen Fremden dem Krokodilgott Sobek in seinem Heiligtum opfern, damit seine Mutter, die mächtige Göttin Neith uns den Sieg über die Ãœbermacht unserer Feinde schenken möge!“, Er hielt das blutbefleckte Opfermesser in der hoch erhobenen Hand, sodass es alle sehen konnten, und ein Raunen ging durch die Menge.
„Haltet ein!“, entgegnete Takait spontan und ohne Nachzudenken. „Die Götter missbilligen das Opfer von Menschen! Lasst diesen unschuldigen Fremden sofort wieder frei oder der gerechte Zorn der Hathor wird euch alle treffen!“
Der Mann in Priesterkleidung drehte sich um, sodass Takait sein Gesicht sehen konnte und sie war einen Augenblick lang irritiert, da er ihr vage bekannt vorkam. Dann fiel ihr plötzlich ein, woher sie diese stechenden Augen kannte, die so dunkel waren, dass sie fast schwarz wirkten. Sie gehörten einem der Kaufleute, mit denen sie zur Nordoase gereist war. Aber wie hatte er sich verändert! Konnte aus dem unauffälligen, schweigsamen Mann mit den hängenden Schultern eine derart furchteinflößende Erscheinung geworden sein? Er war groß und drahtig, was Takait zuvor entgangen war und sein dichtes, dunkles Haar war von einzelnen grauen Flechten durchzogen, doch schien er noch jung zu sein. Hochaufgerichtet baute sich dieser schreckliche Mann vor Takait auf, seine bohrenden, kohleschwarzen Augen auf sie gerichtet und den Dolch noch immer drohend in der Rechten.
„Und du weißt, was die Götter wünschen?“, fragte er in einem hämischen Tonfall, wobei er das Wort „du“ stark dehnte.Â
Jemand machte eine spöttische Bemerkung, die Takait aber ignorierte. Sie bekämpfte den Impuls, auf einer respektvolleren Anrede zu bestehen. Verärgert fragte sie sich, welchen Groll dieser falsche Priester gegen sie hegte. Vielleicht ließ er sie nun dafür büßen, dass ihre Reisegefährten sich stets von den Händlern ferngehalten hatten? Takait beschloss, vorsichtshalber vorerst nicht zuzugeben, dass sie ahnte, wer er war. Vielleicht hatte sie Glück und er erkannte sie in Frauenkleidern nicht wieder.
Beunruhigt schluckte Takait, dann nahm sie all ihren Mut zusammen, richtete sich zu ihrer ganzen, für eine Frau nicht unbeträchtlichen Körperlänge auf und holte tief Luft.
„Ja, ich weiß, was die Götter von uns Menschen erwarten!“, widersprach sie dann mit fester Stimme. „Mein Name ist Takait …“
„Das brauchst du uns nicht zu sagen?“, unterbrach der falsche Priester mit beißendem Spott in der Stimme. „Wir alle kennen deinen Namen! Schließlich bist du auf dieser Oase geboren und aufgewachsen!“ Er warf einen beifallerheischenden Blick in die Menge und Takait realisiert mit Schrecken, dass sie den Mann verwechselt hatte: Er war nicht der Kaufmann mit den hängenden Schultern, mit dem er eine flüchtige Ähnlichkeit besaß, sonder er gehörte zur Familie des alten Mannes, mit dem ihr Stiefvater sie verheiraten wollte. Wie soll das alles wohl noch enden? Dachte sie bang und bedauerte in diesem Augenblick von ganzen Herzen, dass sie auf diese von den Göttern verdammte Oase zurückgekehrt war.Â
„Statt in den Ehestand einzutreten, reist Takait lieber mit fremden Männern durch die Wüste!“, erklärte der selbsternannte Priester, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte und wieder ging ein Raunen durch die Menge. „Oder sie treibt sich in der sündigen Metropole Alexandria herum!“
„Ich bin eine Tänzerin der Hathor! Zu Ehren der Göttin zu tanzen ist meine Berufung!“, erklärte Takait trotzig, obwohl sie doch eigentlich lieber Priesterin geworden wäre.
„Du bist gekommen, um für uns zu tanzen?“, fragte eine schneidende Stimme, aber es war nicht der schreckliche Priester, der gesprochen hatte, sondern Abdul, der jüngere der beiden Karawanenführer, den Takait bisher nicht in der Volksmenge bemerkt hatte. Bei seinem Anblick packten sie wahre Mordgelüste. „Diese Frau ist es nicht wert, für die Götter zu tanzen, denn sie ist eine Lügnerin und eine Diebin!“ Takait fragte sich schon, wie der Beduine vom Raub des Oasen-Krokus erfahren hatte, als ihr das Kamel wieder einfiel, das sie sich ausgeliehen hatte. „Und dieser Mann, den wir dem Sobek opfern wollen, ist kein beliebiger unschuldiger Fremder ist“. Der finstere Mann spuckte das Wort unschuldig aus wie eine Beleidigung, „sondern das gnädige Schicksal hat uns den Sohn des Mannes in die Hände gespielt, dem ihr das Sakrileg, das er begangen hat großmütig verziehen habt, den Sohn des Mannes, der unsere Welt verraten wollte, den Sohn des Mannes, dessen Namen in unserer Sprache grüner Berg bedeutet.“
Ein kollektiver Aufschrei der Menge war die Antwort auf diese Beschuldigung. Auch Takait erschrak über die verblüffende Enthüllung halb zu Tode und sie musste sich an am Stamm einer Palme festhalten, damit niemand sah, dass sie am ganzen Leib zitterte. Sie schalt sich selbst eine Närrin. Sie hätte ihre Reisegefährten warnen sollen, dass deren Vater auf der dritten Oase als Frevler galt. Aber sie hatte geschwiegen, weil sie ihnen nicht die Erinnerung an den Vater verderben wollte. Außerdem sahen für sie selbst - wie sie in Alexandria festgestellt hatte - alle Europäer gleich aus. Daher hatte sie nicht erwartet, dass jemand die Familienähnlichkeit zwischen den Brüdern und ihrem Vater bemerken könnte.
Takait sagte sich, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um sich Vorwürfe zu machen. Sie durfte nicht aufgeben – sonst war Peter verloren - und daher beschloss sie, zum Gegenangriff überzugehen.Â
„Wir dürfen den Sohn nicht für die Taten des Vaters verantwortlich machen“, begann sie und blickte dann den Nomaden finster an. „Außerdem wundert mich, dass ausgerechnet du die Unverfrorenheit besitzt, mich eine Diebin zu heißen, obwohl du selbst ein Grabräuber bist!“ Takait hatte so laut gesprochen, dass alle ihre Worte gehört haben mussten und diese verfehlten nicht ihre Wirkung, denn ganz plötzlich herrschte ein betretenes Schweigen vor dem Tempelteich.
Abdul trat in einer jähen Bewegung auf Takait zu und erhob den Arm zum Schlag, aber sein Bruder hielt ihn zurück.
Takaits Blick streifte Peter und sie bemerkte, dass er sie so argwöhnisch anblickte, als ob er befürchtete, dass sie die Menge noch mehr gegen ihn aufgebracht haben könnte. Er hatte kein Wort verstanden, wie Takait sich ins Gedächtnis rief. Trotzdem verletzte sie sein unausgesprochener Vorwurf.
„Glaubt ihr kein Wort“, erklärte nun der ältere Beduine. „Wie mein Bruder schon sagte, sie ist eine notorische Lügnerin und eine abgefeimte Diebin!“
„Und dieser Mann hier“, Takait deutete auf ihn. „Ist sein Bruder und Komplize. Sie sind nur hierher gekommen, um den Tempel der Neith zu berauben!“ Takait machte eine Kunstpause, um ihre Worte wirken zu lassen. Dann zeigte sie mit dem Finger auf selbsternannten Priester, der als Volk aufgewiegelt hatte. „Und der dritte im Bunde ist auch kein Priester, sondern ein einfacher Oasenbewohner wie ihr selbst!“
„Das ist er leider doch!“ Takait erkannte sofort die Stimme des Mannes, der nun aus der Menge trat, auch wenn sie ihm bisher stets aus dem Weg gegangen war. Sie gehörte Hori, dem Priester des Tempelhofs, den sie vorhin noch verflucht hatte. Er warf seinen Umhang ab und nun konnten alle an seinen Insignien sehen, dass er ein Priester der Neith war. Die Menge begann wieder unruhig zu werden. „Zumindest früher war er tatsächlich ein Priester, aber wir haben ihn aus unseren Reihen verstoßen, weil er die Spenden der Gläubigen unterschlagen hat. Er wurde als unwürdig befunden, weiterhin unserer Göttin zu dienen.“
Der angemaßte Priester wollte widersprechen, aber Hori brachte ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen.
„Takait hat die Wahrheit gesagt. Was ihr vorhabt ist ein großes Unrecht! Ihr werdet alle nach der Schlacht dafür zur Verantwortung gezogen werden!“
Takait fragte sich, ob es klug war, einer aufgebrachten Volksmenge zu drohen.
„Du bist doch nur neidisch, dass ich einen höheren Rang innehabe als du“, konterte der Mann in Priesterkleidern. „Ich bin Oberpriester, während du doch noch immer nur ein besserer Pförtner bist!“
„Aber immerhin bin ich noch ein offizieller Priester“, konterte Hori und dann warfen sich die beiden Priester gegenseitig Beleidigungen an den Kopf.
Die Gläubigen starrten sie in wortlosem Entsetzen an. Dann kam plötzlich Bewegung in die Menge: Alle redeten aufeinander ein, doch keiner schien dem anderen zuzuhören, und Takait nutzte das Durcheinander, um langsam und wie zufällig auf Peter zuzugehen, ohne dass dies jemand zu verhindern suchte. Erstaunt bemerkte Takait, dass eine zerzauste Katze neben Peter auf dem Boden saß.
„Du schwebst in großer Gefahr“, raunte sie Peter zu, der sie ernst anschaute. In seinen Augen stand ein merkwürdiger, fiebriger Glanz. „Man will dich dem Krokodilgott Sobek opfern.“
Peter schüttelte mit einem freudlosen Lachen den Kopf.
„Das habe ich ihrem Verhalten bereits entnommen, aber was hast du zu ihnen gesagt?“
„Das erzähle ich dir nachher, wenn wir in Sicherheit sind“, versprach Takait, „der Priester, der eben gesprochen hat, ist auf deiner Seite. Lass uns also möglichst unauffällig zu ihm gehen“Â
Takait ergriff Peter am Arm, der sich dies glücklicherweise gefallen ließ. Sie zog ihn am Opferaltar vorbei durch die Menge, bis sie endlich Hori erreicht hatten.
Den beiden Priestern, waren offenbar die Schimpfworte ausgegangen. Sie standen einander wortlos gegenüber und starrten sich feindselig an, umringt von der gar nicht mehr so aufgebrachten Menschenmenge. In den Gesichtern der umstehenden Männer und Frauen sah Takait nichts außer Skepsis, Schuldbewusstsein und Angst.
Wie konnte sie diesen Stimmungswandel nur für ihre Zwecke nützen? Bevor sich Takait diese Frage beantwortet hatte, machte der Volksverhetzer einen Ausfallschritt nach hinten und trat dabei die graue Katze, die sich in der dicht gedrängten Menge nicht beizeiten retten konnte.
Die Katze fauchte wild, ihre Nackenhaare sträubten sich und sie machte einen Buckel.
„Jetzt seht ihr, was von diesem selbsternannten Priester zu halten ist!“, verkündete Hori in einem leicht übertriebenen pathetischen Tonfall. „Jede Gewalttat gegen ein Tier ist bekanntlich ein Frevel gegen die Götter. Wie ihr wisst, ist die Katze der Göttin Bastet heilig!“
Takait musste neidlos zugeben, dass dies ein sehr kluger Schachzug war. Schließlich mussten die Verstorbenen beim Totengericht des Osiris beteuern, dass sie kein Tier gequält hatten. Dann erst wurde ihre Seele gewogen. Und was Bastet betraf, so wurde ihr zu Ehren sogar Katzen mumifiziert. Dann kam Takait endlich die rettende Idee.
„Genauso war es auf der ersten Oase, bevor das Unheil begann! Jemand hat eine Katze getreten“, erklärte Takait mit lauter Stimme, wobei sie natürlich verschwieg, dass es ausgerechnet der unglücksselige Peter gewesen war, dem dieses Missgeschick zugestoßen war, „nur wenige Stunden später sind das Labyrinth und der Sphinx eingestürzt!“
Inzwischen war die Volksmenge in wilder Aufregung begriffen.
„Das war ein ganz normales Erdbeben, wie es bei uns nicht ungewöhnlich ist! Die Armee der ersten Oase sucht doch schon lange nach einem Vorwand um uns anzugreifen“, rief der falsche Priester den Umstehenden zu, aber niemand schien von dieser banalen Erklärung überzeugt zu sein.
„Vielleicht sollten wir lieber den Priester dem Sobek opfern? Er hat eine Katze gequält!“, brüllte eine aufgebrachte männliche Stimme aus der Menge. Jubelnder Applaus bewies, dass er nicht der der einzige war, der so dachte.
„Hier wird niemand geopfert“, entgegnete Hori mit einem zornigen Unterton in der Stimme.
„Aber wir müssen doch Neith gnädig stimmen!“, rief eine andere männliche Stimme, und wieder jauchzte die Menge. Die Gläubigen traten näher an den Altar heran und Takait streckte ihre Hand nach Peter aus, aber dieser hatte schon verstanden. Langsam, um kein Aufsehen zu erregen entfernten sich die beiden vom Teich.
Zurückschauend sah Takait, dass obwohl Hori weiter gegen die Lynchjustiz protestierte, die Menge den falschen Priester und die beiden Nomaden bis an den Teichrand gedrängt hatte, wo ein Schilfboot am Ufer stand, das die Männer im Begriff waren zu betreten. Fast hätte Takait ihnen zugerufen, dass dies nur ein Zeremonialboot war, mit dem sie nicht weit kommen würden. Dann besann sie sich eines Besseren, denn sie durfte Peters Flucht nicht gefährden.
Schritt für Schritt durchquerten Takait und Peter die Menschenmenge, die sich nicht mehr für sie interessierte. Als sie das Tempelportal fast erreicht hatten, drangen von hinten Schreie an Takaits Ohren, die sogar das laute Gejohle der Menge übertönten. Takait schaute ängstlich zurück, obwohl sie nicht sicher war, ob sie wirklich sehen wollte, was in der Zwischenzeit geschehen war. Die Volksmenge blickte auf den Tümpel, obwohl es dort nicht viel zu sehen gab: Das Schilfboot war gekentert. Von seinen beiden Insassen fehlte jede Spur. Nur fünf große Krokodile schwammen um die mit Wasser vollgesogenen Schilfbündel, die mit Blutflecken besudelt waren.
„Das ist ja schrecklich!“, stammelte Peter, der neben Takait stand und sich ebenfalls umgeschaut hatte.
„Wir sollten schleunigst von hier verschwinden“, entgegnete Takait, „du bist erst in Sicherheit, wenn wir diese von den Göttern verdammte Oase verlassen haben.“
Peter nickte und wandte sich zum Weitergehen.
Sie haben ihre gerechte Strafe erhalten, durchfuhr es Takait und sie schämte sich im selben Augenblick für diesen Gedanken.
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24. Der Aufbruch
Nur Formularende
mit allerletzter Kraft schleppte Peter sich zur Karawanserei. Wahrscheinlich hätte er es allein nicht geschafft, den Ort zu durchqueren. Aber kaum dass sie das ausgedehnte Gelände des Sobek-Tempels hinter sich gelassen hatten, hatte ihn Takait dazu ermuntert, sich auf sie zu stützen. Die Gefangenschaft im Keller, das völlig unzureichende Essen und die Ungewissheit über sein Schicksal hatten mehr an seinen Kräften gezehrt, als ihm bewusst gewesen war. Der Anspannung der vorangegangenen Stunden war nun eine tiefe Erschöpfung gefolgt, die sich in Lethargie zu verwandeln drohte.Â
Als er über die Schwelle des Hauptportals wankte, glaubte er einen Augenblick lang, dass die Oase von einem Erdbeben heimgesucht wurde, aber es waren seine Sinne, die ihm einen Streich spielten. Dann wurde zog sich ein schwarzer Vorhang vor seine Augen und er hatte den Eindruck in einen Brunnen zu fallen. Das letzte, was er wahrnahm, waren die aufgeregten Stimmen Männern in langen Gewändern.
Als er die Augen wieder öffnete, schaute er in das Gesicht seines Bruders, in dem die Besorgnis einem Ausdruck der Erleichterung wich.
„Er ist wieder aufgewacht!“, rief Johann durch das Fenster in den Innenhof und Peter schaute sich in dem großen Raum um, der nach Schweiß und Stroh roch.
Erleichtert stellte er fest, dass es sich um den Schlafsaal der Karawanserei handelte. Einen Moment lang wunderte er sich, wie er hierher gelangt war, aber dann erinnerte er sich, dass er das Bewusstsein verloren hatte. Offenbar hatten die anderen ihn in den hierher getragen und nach dem Stand der Sonne zu schließen, die seitlich durch die Fester schien, hatte er einige Zeit geschlafen.
„Wie lange … ?“, begann er seine Frage zu formulieren.
„Mehrere Stunden“, antwortete Menas, den der Ruf des Bruders herbeigelockt hatte. Auch Takait stand neben seinem Lager. „Das ist auch gut so, denn du musst so schnell wie möglich wieder zu Kräften kommen. Unsere Karawane bricht morgen sehr früh auf.“
„Schon Morgen?“, entfuhr es Peter, der gehofft hatte, sich länger in der Karawanserei erholen zu können.
„Du wirst dies vielleicht nicht mitbekommen haben“, begann Menas in einem belehrendem Tonfall, „aber die Bewohner der ersten Oase machen die Priester der dritten Oase dafür verantwortlich, dass das Labyrinth eingestürzt und der Sphinx zerstört worden ist. Sie werfen ihnen vor, sich schwarzer Magie bedient zu haben. Dabei ist die wahrscheinlichste Erklärung, das nur die Erde gebebt hat…“
„Sie sind uns militärisch überlegen und suchen schon lange nach einen Vorwand, uns zu erobern“, erklärte Takait, bevor Peter richtig stellen konnte, dass es keinesfalls nur ein Erdbeben war.
„Aber ich finde, dass die Kaufleute in einer Sache völlig recht haben: die Einheimischen sollen dies unter sich selbst ausmachen“, brummte Menas. „Dieser schreckliche Saladin hat sich zugegebenermaßen als sehr nützlich erwiesen. Er hat nämlich mit dem Anführer der feindlichen Armee– gegen Zahlung einer gewissen Summe versteht sich - für die Kaufleute unserer Karawane freies Geleit ausgehandelt. Sicherlich hat er einen Teil des Geldbetrags als Dank für seine Bemühung in die eigene Tasche gewirtschaftet, aber niemand hat sich darüber beschwert, denn wir alle sind froh, ungeschoren den zukünftigen Kriegschauplatz verlassen zu dürfen.“
„Ich hoffe nur, dass wir nicht unserer Truppe in die Arme laufen“, bemerkte Takait mit besorgter Miene, „mit deren Anführer haben wir keine Vereinbarung getroffen und er könnte uns daher für Verräter halten. Außerdem gefällt mir gar nicht, dass ich seit vielen Stunden keinen einzigen Soldaten gesehen habe. Ich würde zu gern wissen, wo sie alle stecken.“
Bestimmt sind sie desertiert, dachte Peter, aber Menas lächelte bedeutsam in sich hinein.
„Auch in diesem Fall wird sich bestimmt eine Lösung finden lassen.“Â
Peter hatte den Eindruck, der alte Mann wartete nur darauf, dass man ihn fragte, wie er dies meinte, aber er tat ihm nicht den Gefallen, da ihm seine Geheimniskrämerei auf die Nerven ging. Stattdessen rappelte er sich von seinem Lager auf und handelte sich damit die tadelnden Blicke der Umstehenden ein.
„Du solltest dich wirklich weiterhin schonen“, ermahnte ihn Takait und Peter fühlte sich unangenehm an seine Mutter erinnert.
„Der Schlaf hat mich wieder einigermaßen in Form gebracht. Mir geht es wieder einigermaßen“, beteuerte er. „Daher möchte ich mir jetzt erstmal den Dreck und Staub runterwaschen. Außerdem habe ich einen Bärenhunger.“
„Dann brauchst du mich ja wohl nicht mehr!“, erklärte Menas und schaute dann mit entschlossener Miene auf Johann. „Komm wir trinken solange einen Kaffee im Innenhof der Karawanserei.“
Mit einem Ausdruck des Bedauerns in den Augen folgte der Bruder und Peter wunderte sich sehr darüber, dass Johann offenbar dem alten Kopten gehorchte.
„Und ich gehe schnell in den Neith-Tempel und hole dir etwas Gutes zu essen“, erklärte Takait. „Ich glaube, man hat dort heute Täubchen geopfert.“
Kaum hatte sie dies gesagt, war sie auch schon fortgehuscht. Peter räkelte sich, bevor er aufstand. Leider war ein Bad in einer Oasenstadt ein Luxus, den die Einheimischen nur vom Hörensagen kannten. So musste Peter sich damit begnügen, sich hockend an einer Schüssel mit lauwarmem Wasser zu waschen und dann wieder seine alles andere als frische Reisekleidung überzustreifen. Anschließen verzehrte er ein paar getrocknete Datteln, da er nicht glaubte, dass Takait tatsächlich so schnell wiederkommen würde, auch wenn sie dies versprochen hatte.
Dann schlenderte er in den Innenhof, wo ihn Menas und sein Bruder mit frisch aufgebrühten Kaffee erwarteten, der grässlich roch und ebenso schmeckte.
Bevor er auch nur ein Wort herausbekommen hatte, berichtete Johann mit vor Aufregung glühendem Gesicht, wie er die Mumie in eine Grabanlage gebracht hatte, die sich unter einem verwahrlosten Grundstück nahe des Neith-Tempels befand. Angeblich hatte Menas festgestellt, dass die Mumie aus eben dieser Anlage entwendet worden sei, aber Peter vermutete, dass der alte Mann dies nur behauptet hatte, um Johann zu beruhigen. Peter hörte allerdings nur mit halben Ohr zu, weil ihn noch immer etwas beschäftigte: Als sich die beiden Priester am Tempelteich gestritten hatten, war von seinem Vater die Rede gewesen. Takait hatte eine diesbezügliche Bemerkung gemacht, wollte aber dann doch nichts Genaueres verraten. Stattdessen hatte sie ihn an Menas verwiesen und Peter hatte langsam genug von der Heimlichtuerei.
„Takait hat mir verraten, dass Sie unseren Vater gekannt haben. Ich wäre Ihnen also sehr verbunden, wenn mir endlich mitteilen könnten, was ihn hierher auf diese Oase geführt hat“, sagte er daher zu Menas, kaum dass der Bruder seinen Bericht beendet hatte, „offenbar wissen Sie weit mehr über unseren Vater, als Sie bei unserem Besuch in Alexandria zugegeben habe.“
Johann stand da wie vom Donner gerührt, der Kopte hingegen schürzte die Lippen und zog finster die Brauen zusammen.
„Einschließlich dessen, was Sie aus Vaters Notizbuch erfahren haben“, ergänzte Johann und schaute dann mit großen Augen den Bruder an, „darin stand übrigens, dass er Takaits Vater ist.“
„Takait ist unsere Schwester?“, rief Peter verblüfft aus. Das letzte, was er momentan gebrauchen konnte, war eine weitere kleine Schwester. Ihm genügte die niedliche Sophie, der Liebling aller Verwandten.
Johann lachte.
„Nein, nicht unser Vater, sondern Menas ist Takaits Vater, aber er hat dies auch erst vor kurzem erfahren und ausgerechnet in dieser Gruft, in die wir die Mumie zurückgebracht haben, hat er es mir erzählt.“
Peter wunderte sich, warum ihn diese angeblich sensationelle Enthüllung nicht in Erstaunen versetzte und er gestand sich selbst ein, dass er unterbewusst die ganze Zeit schon geahnt hatte, dass die Tempeltänzerin die Tochter des Priesters war. Als Menas Takait als Dolmetscherin angeworben hatte, war es Peter nicht entgangen, dass sich die beiden recht gut kannten, auch wenn Menas dies zu verheimlichen versucht hatte. Nun ärgerte sich Peter über sich selbst, dass er damals der Sache nicht auf den Grund gegangen war.
„Das liegt daran, dass du mich in der Grabkammer mit Fragen gelöchert hast, aber sprich bitte nicht so laut“, wandte Menas ein und blickte sich mit vorgestrecktem Kopf vorsichtig im Hof um, was ihm das Aussehen einer melancholischen Schildkröte gab. „Takait weiß es noch gar nicht.“
„Keine Sorge, Takait hört uns nicht, denn sie ist gleich wieder in den Neith-Tempel zurückgeeilt“, beruhigte ihn Peter und er verspürte, einen bitteren Geschmack im Mund, „Ich glaube, sie hat ein Auge auf diesen gut aussehenden Priester Hori geworfen.“
Johann blickte ihn erschrocken an. Sein Gesicht war ganz blass und Peter fragte sich, ob er in der Zwischenzeit etwas Wichtiges verpasst hatte. Schließlich hatte der Bruder die Tempeltänzerin früher nicht ausstehen können. Aber Peter schob diesen beunruhigenden Gedanken wieder beiseite. Es war ihm momentan wichtiger, dass der alte Priester ihm endlich die Wahrheit sagte.
„Was wissen Sie über unseren Vater?“, fragte er daher erneut.
Menas’ Blick verdüsterte sich. Er griff schweigend nach der Kaffeekanne, um sich etwas einzugießen, aber sie enthielt nur noch wenige Tropfen. Seine Hand krampfte sich um den leeren Becher. Dann stütze er sich mit einer Hand auf dem Boden auf und erhob sich, wenn auch recht mühsam. Johanns enttäuschte Blicke folgten ihm.
„Ich habe ich genug in der Hitze herumgesessen und geredet. Ich muss dringend etwas trinken“, erklärte der Kopte mit belegter Stimme und leitete damit seinen Rückzug ein. „Wir alle sollten unsere Kräfte schonen, denn morgen werden wir sehr früh aufbrechen. Wenn wir wieder in Alexandria sind, erzähle ich euch alles, aber jetzt gehe ich in die nächste Schenke.“
„Ich …“
„Nein, ihr bleibt beide hier!“, unterbrach der Kopte Peter, „es ist viel zu gefährlich für euch, die Karawanserei zu verlassen. Mir tun die Einheimischen schon nichts. Schließlich kennen sie mich.“Â
„Vielleicht gerade deshalb“, rief ihm Johann grinsend nach. Dann gab er seinem Bruder einen Klaps auf den Rücken. „Aber mach dir nicht soviel trübsinnige Gedanken, sondern ruh dich lieber etwas aus. Menas hat völlig Recht: Es liegt ein anstrengender Tag vor uns.“Â
*
Als die Karawane die Oase kurz nach dem Morgengrauen verließ, war kein Mensch in den Plantagen zu sehen, obwohl um diese Zeit sonst Dutzende von Männern dort arbeiteten, um die kühlen Morgenstunden auszunützen. Im roten Schimmer der aufgehenden Sonne sahen die Dattelpalmen aus wie auf einem Gemälde eines dieser den Orient verherrlichenden französischen und englischen Maler, die vom Fernweh der Daheimgebliebenen profitierten. Die ganze Welt war in warme Töne getaucht und alles sah heiter und friedlich aus. Johann musste sich regelrecht ins Gedächtnis rufen, dass vor der Stadt bereits eine feindliche Armee im Anmarsch war und wo die wahrscheinlich erbärmlichen Truppen der dritten Oase augenblicklich stecken mochten, war selbst Takait unbekannt.
An den Rändern der Oase, wo es nicht mehr genug Wasser für Palmen gab, gediehen verkrüppelte Büsche, dann nur noch die stachlige Berberitze und einige vertrocknete Grasbüschel. Bald ließen die jämmerlichen Grasbüschel ihre langen, trockenen Halme kraftlos zu Boden hängen und die Disteln kümmerten vor sich hin. Dahinter begann die Wüste.
Der Himmel strahlte mittlerweile in dunklem Azur und die Hitze nahm kontinuierlich zu. Vor der Karawane erstreckte sich ein staubiger, unbefestigter Pfad, der hier und da mit kleinen Gesteinsbrocken übersät war, aber bald würde der Karawanenpfad für einen Laien nicht mehr erkennbar sein.
Die neuen Karawanenführer schienen zum selben Stamm zu gehören, wie die beiden Halunken, die den Grabräubern zugearbeitet hatten und wahrscheinlich waren sie auch nicht besser als diese. Es war schon bezeichnend, dass sie es – wie ihre Vorgänger - nicht für nötig erachtet hatten, sich den Kaufleuten vorzustellen. Zumindest hatte Johann nichts dergleichen mitbekommen und so hatte er sie mit Spitznamen versehen, um sie auseinander halten zu können. Während er die beiden Schurken der Alte und der Junge getauft hatte, nannte er die neuen Karawanenführer der Große und der Kleine, wobei auch ersterer nicht so hochgewachsen war wie er selbst und der Bruder. Es waren zwei gefährlich aussehende finstere Gesellen, in deren Gesichtern sich das Erbe der vielen Völker zeigte, die sich hier vermischt hatten. In Anbetracht des bevorstehenden Krieges fand Johann es jedoch beruhigend, dass sie mit Gewehren bewaffnet waren.
Unterwegs herrschte eine gespannte Stille: Niemand sagte ein Wort und alle schauten sie beständig um. Selbst die sonst so phlegmatischen Kamele wirkten schreckhaft, als ob sich die beklemmende Angst, die auf der dritten Oase lastete, sich selbst auf die Tiere übertragen hätte.
Takait ritt zwischen Johann und Peter. Wie auf dem Hinweg hatte sie sich als Junge verkleidete, was Johann nicht recht einleuchten wollte. Sicherlich hatte inzwischen jeder einzelne Kaufmann mitbekommen, dass sie ein Mädchen war. Johanns Augen wanderten geradezu automatisch zu der Tempeltänzerin und er musste sich mühsam beherrschen, um sie nicht ständig anzustarren. Aber wenn er sich unbeobachtet wähnte, beobachtete er sie aus den Augenwinkeln und wunderte sich über sich selbst, dass ihm nicht früher aufgefallen war, wie schön sie war.
Undenkbar, dass sie fast auf der Oase geblieben wäre! Takait hatte sich der Karawane nämlich zuerst auf keinen Fall anschließen wollen. Nur mit vereinten Kräften hatten Menas und die Brüder sie schließlich davon überzeugen können, dass sie jederzeit zur dritten Oase zurückkehren konnte, wenn der Krieg vorüber war. Johann konnte sich jedoch des unangenehmen Verdachtes nicht erwehren, dass der Kopte sie nur deshalb zu der Reise überredet hatte, weil er seinen Bruder Peter gern zum Schwiegersohn hätte, wahrscheinlich, weil dieser Rechtswissenschaft studierte. Dabei würdigte Takait Peter keines Blickes mehr, seit dieser Hori auf den Plan getreten war. Leider schien sie auch Johann gar nicht wahrzunehmen, aber er wusste, dass er sich dies selbst zuzuschreiben hatte. Nun suchte er nach einer Gelegenheit, um mit ihr zu sprechen, aber dann forderte die Reise seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Johann sah nämlich in der Ferne Bäume, Gebäude, sowie eine Staubwolke, die von Menschen, Kamelen und Streitwagen aufgewirbelt worden war, die sich vor einem Feldlager sammelten. Dies musste die angreifende Armee sein, die an einem Brunnen lagerte. Das Wetter meinte es gut mit ihnen. Kein heißer Wüstenwind oder fliegender Sand behinderte die Sicht.
Im Näherkommen wurde deutlich, dass sie ihr Lager direkt neben dem Karawanenpfad aufgeschlagen hatten, wo ein kleiner Palmenhain mehr schlecht als recht gedieh. Die Feinde hatte ihre farbenprächtigen Zelte, auf denen im Wüstenwind die Wimpel flatternden, vor einem in Bau befindlichen Bollwerk mit einem runden Turm aufgeschlagen. Die Befestigungsanlage wies Zerstörungsspuren auf, für die möglicherweise die feindlichen Soldaten verantwortlich waren. ob sie sich wohl an die Vereinbarung halten würden, die sie mit ihnen getroffen hatten?
Johann beunruhigte es zutiefst, dass die Karawane kontinuierlich auf die gegnerischen Soldaten zuschritt, so wie die Lemminge zum Meer rannten, um sich darin zu ertränken. Trotz seiner Befürchtungen begriff er aber, dass sie den Karawanenpfad nicht verlassen durften, wenn sie nicht riskieren wollten vom Weg abzukommen oder im Treibsand zu versinken. Auch die Kaufleute waren offensichtlich von der Armee stark beunruhigt, denn sie saßen in einer geduckten Haltung auf ihren Kamelen, als ob sie sich am liebsten unsichtbar gemacht hätten. Man konnte nur hoffen, dass die feindliche Truppe sich an die getroffene Vereinbarung hielt.
Am Wegrand lagen Skelette von Kamelen, als wollten sie die Reisenden nachdrücklich auf die Gefahren der Wüste hinweisen. Johann wandte sich schaudernd von den Gerippen ab. Â
Als die Karawane das Lager fast erreicht hatte, konnte er die Soldaten genauer beobachten als ihm lieb war. Bisher hatte er sich der Illusion hingegeben, dass auf den Sobek-Oasen nur Bauern, Handwerker und Priester lebten, aber diese Soldaten machten einen sehr professionellen Eindruck. Sie waren ganz bestimmt keine Bauernlümmel, die man auf die Schnelle zum Wehrdienst verpflichtet hatte. Nicht nur ihre Waffen, sondern auch ihre militärische Haltung verriet ihren Beruf.
Das Fußvolk bildete den größten Teil dieser Truppe, die aus nicht mehr als zweihundert Soldaten bestand. Sie trugen kurze Röcke und Sandalen und schützten ihre Körper mit  Brustpanzern und Beinschienen aus in der Sonne glänzender Bronze. Ihre Köpfe waren mit Helmen geschützt, die mit Federn oder Hörnern geschmückt waren. Ihre Bewaffnung bestand aus ziemlich langen Schwertern, Lanzen und runden Schilden aus Holz.
Es gab auch zwei Dutzend barfüßige Bogenschützen in knielangen Gewändern, aber sie wirkten mit ihren altmodischen Waffen nicht sehr bedrohlich, zumindest versuchte Johann sich dies einzureden. Wie gut, dass die Beduinen mit Gewehren bewaffnet waren!
Die zahlenmäßig kleinste Waffengattung war die Kavallerie, bestehend aus zehn leichten Streitwagen mit großen Rädern, denen jeweils zwei Pferde vorgespannt waren. Auf den Rücken der Tiere lagen farbige, gestreifte Satteldecken und ihre Köpfe schmückten exotische Federn. Die Wagen waren mit seitlichen Haltevorrichtungen für Lanzen und riesige Köcher ausgestattet und ihre Lenker schienen - nach ihrer aufwendigen Rüstung zu schließen - alle Offiziere zu sein. Â
Die Soldaten überprüften gerade ihre Waffen. Ihre Speere blinkten in der Sonne und die Pferde scharrten unruhig mit den Hufen, während die Dromedare, die der Truppe als Lasttiere dienten, auf die Soldaten hochmütig herabsahen.
Plötzlich gab ein Wachtposten mit einer Art Trompete ein Signal und augenblicklich begaben sich die Soldaten in Formation. In geordneten Reihen standen sie neben dem Karawanenpfad und bedachten die Kamele der Kaufleute und die Last, die sie trugen mit hasserfüllten Blicken. Einer der Offiziere an den Heerführer heran und sagte mit leiser Stimme etwas zu ihm. Der General nickte. Dann brüllte er einen Befehl in den heißen Wüstenwind. Die Offiziere sprangen auf ihre Wagen, die Bogenschützen spannten ihre Bögen und das Fußvolk zog die Schwerter aus der Scheide. Johann blieb bei diesem Furcht einflößenden Schauspiel fast das Herz vor Schreck stehen.
Hoffentlich beschließen sie nicht, den Kaufleuten ihre Ware zu rauben, durchfuhr es Johann. Wie konnte man ihnen nur begreiflich machen, dass besaßen der Bruder und er keine wertvollen Dinge besaßen, die zu verteidigen sich lohnte.
Johann schaute sich nach den Karawanenführern um, und er fand sie mit geschultertem Gewehr am Ende der Karawane. Sie gaben den Kaufleuten ein Kommando und mit einem Ruck kam die Karawane zum Stehen. So fest er konnte, zog Johann am Zügel seines Dromedars, da er befürchtete, es könnte selbständig weiterlaufen. Als das Tier mit einem Ruck zum Stehen kam, wurde Johann ganz mulmig zumute, denn noch immer warfen die Soldaten begehrliche Blicke auf die reich beladenen Dromedare. Diese trugen auf beiden Seiten prall mit Salz, Getreide und - wie Johann vermutete - auch mit Antiquitäten gefüllte Säcke, denn der überstürzte Aufbruch von der dritten Oase hatte manches Geschäft nicht zustande kommen lassen.
„Die wollen uns berauben“, murmelte Menas, der sich ebenfalls am Kopf der Karavane befand, während sich Peter und Takait, die ihre Reittiere schneller gezügelt hatten in einigem Abstand hinter ihm befanden.
„Ich fass es einfach nicht! Haben wir nicht für unser freies Geleit bezahlt!“
Zwar hatte Johann vor kurzen selbst befürchtet, dass man sie um ihre Waren erleichtern wollte, aber trotzdem empörte ihn dies.
Menas schüttelte mit einem freudlosen Lachen den Kopf.
„Bist du naiv! Es herrscht Krieg! Und die Waren und Geldbörsen zu rauben, ist noch viel erträglicher als nur Schutzgeld zu erpressen, von den wertvollen Reittieren ganz zu schweigen!“Â
Der kleinere der beiden Karawanenführer richtete mit gefährlich leiser Stimme einige Worte an die Soldaten, doch die Drohung, die sich dahinter verbarg war unüberhörbar.
Der Heerführer erwiderte etwas einen befehlsgewohntem, barschen Tonfall. Sein Harnisch, seine Arm- und Beinschienen, sowie sein Köcher waren vergoldet. Auf dem Kopf trug er eine blaue Kappe, die mit einer goldenen Kobra verziert war, deren Kopf sich drohend erhob. Maßte er sich die Pharaonenwürde an?
Mehre Kaufleute protestierten zugleich mit erzürnten Gesichtern und blickten dabei anklagend auf Saladin, aber dieser zuckte mit den Schultern und machte dann eine beschwichtigende Geste. Dabei wirkte er so enerviert, dass Johann spontan Mitleid mit ihm empfand, obwohl er dies noch vor einer Stunde nicht für möglich gehalten hätte. Schließlich hatte Saladin getan, was er konnte und es war nicht seine Schuld, wenn die Soldaten ihr Wort nicht hielten.
Saladin machte Anstalten, sich an der Verhandlung zu beteiligen, aber bevor er etwas sagen konnte, wandte der General sich wieder der Karawane zu und knurrte die Karawanenführer in einem harschen Tonfall an.
Johann wartete darauf, dass diese etwas erwiderten, aber sie sagten kein Wort. Alles was er in der angespannten Stille hörte, war das metallische Klicken, als die Beduinen die Hähne ihrer Gewehre spannten. Johann wunderte sich, dass die Soldaten offenbar keine Schusswaffen besaßen. Diese mochten bei ihnen geächtet sein, aber ihre schiere Existenz konnte ihnen doch wohl kaum unbekannt sein.
Mit angehaltenem Atem erwartete Johann, dass ein Schuss sich löste. Dann würden die Bogenschützen zum Einsatz kommen.
Plötzlich kam Bewegung in die Truppe. Der General rügte seine Soldaten, aber trotzdem lösten sie sich aus ihrem Verband. Auch die Kaufleute schien etwas erschreckt zu haben. Jedenfalls saßen sie einer nach dem anderen rasch ab und versteckten sich hinter ihren Dromedaren. Johann tat es ihnen vorsichtshalber gleich, obwohl er noch immer keine Ahnung hatte, was vorgefallen war.
„Schau!“, rief Menas und deutete auf die zerstörte Befestigungsanlage, der Johann keine weitere Beachtung geschenkt hatte.
Wie aus dem nichts war dort eine Kompanie Bogenschützen aufgetaucht. Mit gespannten Bögen standen sie entlang der Mauer auf dem Rundturm. Ihre Bewaffnung entsprach der der gegnerischen Soldaten, aber der Anführer trug keinen Goldschmuck. Sein grimmiges Gesicht mit den senkrechten Stirnfalten ließ keinen Zweifel daran, dass mit ihm nicht zu spaßen war.
Mit einem verächtlichen Unterton in der Stimme gab der Heerführer der dritten Oase einen Befehl. Johann bedurfte keines Übersetzers um zu begreifen, dass er die feindliche Armee dazu aufforderte zu kapitulieren oder zumindest augenblicklich das Feld zu räumen. Seine Truppe schien zwar der Armee der ersten Oase zahlenmäßig unterlegen zu sein, aber sie bestand ausschließlich aus Bogenschützen und sie waren besser positioniert als die gegnerischen Soldaten, denn das Gebäude, in dem sie offenbar die ganze Zeit gelauert hatte bot ihnen Schutz.
Warum haben sie ihre Feinde nicht schon längst von hinterrücks erschossen? Fragte sich Johann. Dafür gab es eigentlich nur eine Erklärung: Die Soldaten hatten auf die Karawane gewartet. Aber woher hatten sie gewusst, dass diese am Morgen aufbrechen würde? Johann schob den unschönen Gedanken beiseite, dass es in ihren Reihen einen Verräter geben könnte. Schließlich hatte bestimmt die gesamte Bevölkerung der verdammten Oase dies gewusst.
Die Zeit war einige Minuten lang wie eingefroren. Die Soldaten fixierten einander mit hasserfüllten Blicken. Noch immer hielten sie ihre gespannten Bögen drohend aufeinander und hinter ihnen standen die Nomaden, die mit ihren Gewehren auf sie zielten.
Das Schweigen wurde von dem letzten Mann gebrochen, von dem Johann dies erwartet hatte: Der alte Menas trat mit entschlossener Miene vor die Soldaten. Mit der Rechten schwenkte er einen schmuddeligen Stofffetzen, der einst einmal weiß gewesen sein mochte und Johann hoffte inständig, dass man in der Wüste die Bedeutung der Parlamentärflagge kannte. Die Soldaten machten ihm eine Gasse frei, bis er vor ihrem General stand.
Menas radebrechte wild gestikulierend etwas auf Ägyptisch und Johann zuckte zusammen, als er das Wort Takait aufzuschnappen vermeinte.
Ein Blick in das blasse Gesicht der Tempeltänzerin genügte ihm, um zu wissen, dass er sich nicht verhört hatte.
„Was ist los?“, rief er Takait über die Köpfe dreier Kaufleute hinweg zu.
Sie beachtete ihn nicht, sondern lauschte der Antwort des feindlichen Generals. Menas wollte etwas erwidern. Mühsam suchte er nach Worten und wieder fragte sich Johann, wie der Kopte sich früher mit seiner Frau verständigt hatte. Noch immer suchte er verzweifelt Blickkontakt mit der Tänzerin aufzunehmen, aber Takait schaute wie gebannt auf ihren Vater.
Mit einem leisen Fluch huschte Johann in geduckter Haltung hinter den Kamelen zum Ende der Karawane, bis er die Tempeltänzerin erreicht hatte.
Aber bevor er sie ansprechen konnte, sprang Takait unvermittelt auf. Mit hoch erhobenem Kopf schritt sie zu ihrem Vater. Johanns Herz setzte einen Augenblick lang aus. Musste sie sich mutwillig einem derartigen Risiko aussetzen?
Einzelne Proteste wurden laut und Takait schlug mit einer anmutigen Bewegung die Kapuze ihres Umhangs zurück. Jetzt konnten alle sehen, dass ihr Kopf nach altägyptischer Sitte kahl geschoren war, aber noch immer schienen die Soldaten nicht überzeugt zu sein. Takait warf ihnen einen vernichtenden Blick zu. Dann streifte sie ihren Umhang ab, unter dem sie ein einfaches ägyptisches Frauengewand aus ungebleichten Leinen trug. Es war verschwitzt und fleckig, aber Johann fand Takait selbst in dieser Aufmachung wunderschön.
Er war es leid, untätig zuzuschauen und unternahm einen halbherzigen Versuch, sich Takait anzuschließen, aber bevor er sich richtig erhoben hatte, packte ihn der Bruder am Ärmel seines Umhangs und zog ihn unsanft zurück.Â
„Bist du eigentlich völlig übergeschnappt? Denk nicht einmal daran“, fuhr Peter ihn mit gedämpfter Stimme an.
Die Tänzerin übersetzte offenbar die Ansprache ihres Vaters. Wie viel lieblicher hörte sich die ägyptische Sprache aus ihrem Munde an!
„Ich ertrage diese Ungewissheit nicht!“, protestierte Johann, „ich will endlich wissen, was hier vorgeht!“Â
„Menas hat die Angreifer mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass es seine Tochter war, die mit ihrem Tanz den Sphinx unschädlich gemacht hat. Sonst hätte das zum Leben erweckte Untier großen Schaden auf ihrer Oase angerichtet“, erklärte Saladin in seinem besten Oxford English und es dauerte einen Augenblick lang, bis Johann realisierte, dass dieser offenbar Deutsch verstand.
„Danke“, erwiderte Johann irritiert und er fragte sich allen Ernstes, ob Saladin auch einige Semester in Heidelberg studierte hatte.
Die feindlichen Soldaten wirkten langsam unentschlossen, aber der General erweckte nicht den Anschein, als werde er von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit seines Tuns beschlichen. Mit barscher Stimme brüllte er etwas in Richtung Menas zurück.
Der alte Priester antwortete und diesmal schien er dem Heerführer der ersten Oase zu drohen. Alle starrten Takait an, die mit unbeweglicher Miene neben ihrem Vater stand. Diesmal übersetzte sie seine Worte nicht. Ein entsetzlicher Tumult brach aus. Wenn der General nicht furchteinflößende Blicke in die Runde geworfen hätte, wären ihm sicherlich seine Soldaten desertiert. Aus ihren Gesichtern war die Kampeslust verschwunden. Kaum dass sie nicht ihre gezückten Waffen senkten.
Johann schaute Saladin fragend an.
„Der wahnsinnige Kopte hat ihnen damit gedroht, dass seine Tochter sie alle vernichten wird, wenn sie uns nicht ziehen lassen. Dann würde Takait mit ihrem Tanz einige grässliche Götzen herbeirufen, deren Namen ich lieber nicht in den Mund nehmen will“, zischte ihm dieser zu. „Irgendwer muss diesen Verrückten stoppen. Haben Sie vielleicht Einfluss auf ihn?“
Johann und Peter schauten sich an. Dann schüttelten beide den Kopf.
Atemlos vor Anspannung erwarteten sie eine Antwort des Generals, aber diese kam diesmal nicht sofort, denn der Soldat dachte aber einen Augenblick nach. Seinem verkniffenen Gesicht war deutlich anzusehen, dass er üblicherweise lieber Waffen als Argumente sprechen ließ. Ganz plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper und er wandte sich Takait zu.
Mit einer seltsamen Mischung aus berufsgedingter Arroganz und missglückter Höflichkeit stellte er der Tänzerin eine Frage. Er wird ihr doch hoffentlich keinen Heiratsantrag gemacht haben? Durchfuhr es Johann und er bedauerte, dass Peter ihn vorhin zurückgezogen hatte.
Über Takaits Gesicht huschte ein glückliches Lächeln. Dann nickte sie. Hatte sie den Antrag angenommen? Das entsetzte Gesicht ihres Vaters ließ dies befürchten. Der General brüllte einen Befehl in die öde Landschaft und seine Soldaten senkten die Waffen. Der Heerführer der dritten Armee gab seinen Bogenschützen ein Zeichen. Auch deren Haltung entspannte sich. Dann verschwanden sie einer nach dem anderen in der Ruine.
Hilfesuchend schaute sich Johann nach Saladin um, der in der Zwischenzeit wieder aufgestanden war. Auch Johann erhob sich wieder vom Boden. Das Gesicht des Kaufmanns nahm einen mitleidigen Ausdruck an.
„Man hat Takait angeboten, mit der feindlichen Armee als Priesterin auf die erste Oase zurückzukehren und sie hat dies Angebot freudig akzeptiert. Das war die Bedingung des Generals für den Rückzug seiner Truppe.“
„Der wusste doch genau, dass die Bogenschützen seine Leute anderenfalls erschossen hätten“, erwiderte Johann, der noch immer nicht recht fassen konnte, was er eben erfahren musste. Er hatte ganz plötzlich den Eindruck, der Boden würde sich unter ihm drehen. „Dieser alte Heuchler hat doch nur einen Vorwand gesucht, um sein Gesicht zu wahren.“
„Das nennt man Diplomatie“, bemerkte Saladin lakonisch.
Die Kaufleute waren inzwischen aus ihrem Versteck hervorgekommen und beratschlagten untereinander. Offenbar dolmetschten diejenigen, die Ägyptisch verstanden, was sich ereignet hatte.
„Wenigstens heiratet sie jetzt nicht diesen schrecklichen Hori.“ Peter gab seinem Bruder einen Klaps auf den Rücken. „Außerdem war es Takaits sehnlichster Wunsch, Priesterin zu werden. Es wäre egoistisch von uns, wenn wir versuchen würden, sie davon abzuhalten.“
Du hat gut reden, dachte Johann und verkniff sich mühsam eine boshafte Bemerkung über Anneliese von Gaimersdorf. Ohne den Bruder eines weiteren Blickes zu würdigen eilte er zu Takait, aber wieder beachtete sie ihn nicht. Neben ihr stand ihr Vater und redete heftig auf sie ein. Johann hörte etwas von „heidnischem Aberglauben“, „Gotteslästerung“ und „nicht meine Tochter“, aber der Priester schien auf verlorenem Posten zu sein.
„Das ist deine eigene Schuld“, erwiderte die Tänzerin lächelnd, „wenn du nicht mit meinen Fähigkeiten angegeben hättest, war er nicht auf diese Idee verfallen.“
Menas zog ein betroffenes Gesicht.
„Aber das habe ich doch nur so gesagt, um ihnen Angst zu machen! Wer konnte denn gleich ahnen, dass dich mitnehmen wollten.“
Ehe Takait etwas erwidern konnte, sprach sie der Heerführer der dritten Oase an, der sich bisher nicht an den Verhandlungen beteiligt hatte. Johann erschrak, da er ihn nicht hatte kommen sehen. Konnte es sein, dass es unterirdische Gänge unter der Ruine gab? Takaits Gesicht verdüsterte sich als der Soldat auf die Brüder deutete.
„Nach dem Gesetz unserer Oasen darf kein Fremder, der unser Territorium betritt es wieder verlassen“, übersetzte Takait, „wir haben schon früher ab und zu eine Ausnahme gemacht. Aber das mindeste, was wir erwarten ist, dass die beiden Fremden einen heiligen Eid schwören, über alles Stillschweigen zu bewahren, was sie hier gesehen haben.“
Johann wurde von einer Welle der Verzweiflung durchflutet, als er realisierte, dass man sie ziehen ließ. Einen irrationalen Augenblick lang hatte er gehofft, dass der Heerführer darauf bestand, dass sie blieben.
Peter hingegen war sichtlich erleichtert über die Worte, die Takait gedolmetscht hatte. Ohne eine Sekunde zu zögern, gelobte er ewige Verschwiegenheit. Johann schloss sich widerwillig seinem Versprechen an.
Der Heerführer nickte knapp und drehte den Brüdern wieder die kalte Schulter zu.
„Haben auch Sie diesen Eid abgelegt?“, fragte Johann den alten Menas, denn ihm war eingefallen, dass der Kopte in diesem Fall ihnen nicht hätte den Sammelpunkt der Karawanen verraten dürfen.“
„Schon, aber“, begann Menas, aber einer der Karawanenführer bedachte ihn mit einigen unfreundlichen Worten, die sicherlich hießen, dass sie keine Zeit mit Reden verschwenden sollten.
„Ehe die Abendsonne sich vom Tag verabschiedet, muss die Karawane das Territorium der dritten Oase verlassen haben“, übersetze Saladin mit einer ironischen Verbeugung. Offenbar war er wieder ganz der alte.Â
„Aber wir haben doch wohl noch die Zeit, um Abschied voneinander zu nehmen!“
Es war Peter, der gesprochen hatte.
„Die Kaufleute wollen sich keinen Sonnenstich holen“, erwiderte Takait entschuldigend, „außerdem muss die Karawane bald wieder aufbrechen, wenn sie vor Einbruch der Dämmerung das nächste Wasserloch erreichen will.“
„Warum sagst du nicht: Sie haben Angst?“, fragte Johann erbost.
Mit einer wahren Mordlust im Herzen blickte er sich nach den Reisegefährten um. Er fand seine schlimmste Befürchtung bestätigt: Die Karawane sammelte sich bereits. Die Furcht starrte den Kaufleuten noch immer aus den Augen. Deshalb wollten sie so schnell wie möglich von hier fort. Unmöglich mit ihnen über einen Aufschub zu verhandeln!
Johann wollte Takait umarmen und ihr noch etwas sagen, wusste aber nicht was. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Peter schob sich zwischen sie und verabschiedete sich von der Tänzerin. So verstrich die Gelegenheit ungenutzt.
„Bleiben Sie bei ihrer Tochter?“, fragte Johann den alten Menas und einen Augenblick lang erwog er, sich ihm im Zweifelsfall anzuschließen.
„Bei diesen Heiden?“ Takait schaute sich vorwurfsvoll nach ihrem Vater um. „Natürlich besuche ich dich von Zeit zu Zeit.“
Johann hätte ihm an ihrer Stelle kein Wort geglaubt. Takait hatte ihren neu gefundenen Vater gleich wieder verloren.
Er stammelte einige Höflichkeitsfloskeln, die Takait mit einem Lächeln erwiderte. Dann hievte sich Johann wieder auf sein Kamel.
Ein Ruck ging durch die Karawane und die Kamele setzten einen Fuß vor den anderen. Schritt für Schritt stapften sie über die sandige Piste in die endlose Wüste hinein und die Reisenden entfernten sich langsam, aber sicher von den beiden Armeen, die sich zu mischen begannen.
Johann machte sich keine Illusionen darüber, dass die jahrtausende alte Kultur der Sobek-Oasen dem Untergang geweiht war. Zwar hatte man ihnen das Gelübde zu schweigen auferlegt, aber früher oder später würde jemand reden. Auch wenn die Bewohner der beiden Oasen im letzten Augenblick davon Abstand genommen haben, einander in einem absurden Krieg auszurotten, war es doch nur eine Frage der Zeit, bis die Segnungen des modernen Lebens auch hier Einzug halten würden. Zumindest falls nicht vorher der Sand die kleinen Inseln im weiten Meer der Sahara unter sich begraben haben sollte.
Nach einem Ritt von einer Viertelstunde waren bereits die Soldaten zu Ameisen zusammengeschrumpft und das Geschrei von Mensch und Tier wurde leiser, bis es kaum noch zu hören war und dann völlig verstummte.Â
Als die Sonne am höchsten stand, fiel ganz unvermittelt ein Lastkamel tot um. Es hatte schon den ganzen Tag lang gehinkt und Johann musterte misstrauisch sein eigenes Tier, aber es wirkte zwar erschöpft, aber nicht krank.
Der Zwischenfall sorgte für einige Aufregung, denn die Lasten die das verendete Dromedar getragen hatte, mussten nun auf die anderen Tiere aufgeteilt werden. Als dies nach einem lauten Palaver endlich über die Bühne gebracht war, ließ man das Kamel einfach dort liegen, wo es hingefallen war. Bald würde dort wieder ein von der Sonne ausgebleichtes Gerippe liegen, dass die Reisenden erschrecken würde.
Die Karawane setzte sich wieder in Bewegung. Johann hörte hinter sich ein Geräusch und ängstlich schaute er sich um, aber er sah keine Räuber. Nur das tote Kamel, das in der endlosen Sandfläche lag.
Am Abend erreichte die Karawane eine winzige Oase, die eigentlich nur aus einem Wasserloch und einigen, wenigen vertrockneten Büschen bestand, sowie strohgelben vertrockneten Grasbüscheln, die nur mühsam überlebten.
Apathisch und noch immer wie innerlich betäubt saß Johann von seinem Dromedar ab um Wasser zu holen. Dabei dachte er unentwegt an Takait. Achtlos lief er zwischen den Berberitzensträuchern hindurch, deren Dornen Löcher in seinen Umhang rissen und seine Haut aufritzten. Kletten setzten sich an ihm fest. In seinem Haar blieben trockene Blätter hängen.
„Was ist eigentlich mit dir los?“, fuhr der Bruder ihn an und riss ihn zurück. „Siehst du nicht, dass du um die Sträucher herumgehen kannst?“
Johann schüttelte den Kopf. Als ob der Bruder nicht wüsste, warum er in dieser beklagenswerten Verfassung war!
„Ach lass mich doch in Frieden“, murmelte Johann vor sich hin.Â
Die folgenden Tage vergingen einer wie der anderer: Im Morgengrauen aufstehen, karges Frühstück und dann der Ritt durch die glühende Sonne. Das Atmen fiel Johann zunehmend schwer, so heiß war die Luft. Er aß zu wenig und trank zu viel, wenigstens was den billigen Wein des alten Priesters betraf.
Abends wurde Peter manchmal böse, weil Johann ihm nicht zugehört hatte, während Menas kaum mit den Brüdern sprach. Mit jeder Meile, die sie zurücklegten verschwamm die Erinnerung zu einem seltsamen Traum. Schon konnte sich der völlig übermüdete Johann kaum noch an die Tempelbauten erinnern und auch Takait erschien ihm entrückt wie eine Fatamorgana.
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25. Des Rätsels Lösung
Als die Karawane nach einer langen und beschwerlichen Reise endlich das trostlose Kaff am Rand der Sahara erreichte, von dem sie aufgebrochen war, kam es Peter vor, als seien seitdem Jahrhunderten vergangen. Alles hatte sich in der Zwischenzeit verändert, nur die heruntergekommene Karawanserei war noch immer die gleiche. Allenfalls hatte der trockene Wüstenwind die weiße Farbe, mit der sie getüncht war, noch mehr abgerieben. Trotzdem war diese Karawanserei geradezu luxuriös im Vergleich mit den anderen, mit denen die Brüder hatten Vorlieb nehmen müssen. Sie besaß sogar eine Art Speisesaal, in der die Reisenden verköstigt wurden, was Peter aber auf dem Hinweg selbstverständlich gefunden hatte.
Das gemeinsame Mahl war eine ausgezeichnete Gelegenheit, um endlich darauf zu bestehen, dass Menas ihnen alles erzählte, was er über den Vater wusste. Leider war er, während sie die Wüste durchquert hatten, den Brüdern konsequent aus dem Weg gegangen. Seit sie die dritte Oase verlassen hatten, war dies die erste Gelegenheit, die sich bot mit dem alten Kopten zu sprechen und Peter wollte diese Gelegenheit am Schopfe packen.
Obwohl Peter und Johann lieber in Ruhe gebadet hätten, beeilten sie sich um so schnell wie möglich im Speisesaal zu sein, um den Kopten zur Rede zu stellen. Genauer gesagt hatte Peter den apathischen Bruder dazu gedrängt. Noch immer konnte Peter nicht recht nachvollziehen, warum Johann, der Takait von Anfang an nicht leiden konnte, es so schwer genommen hatte, dass die Tänzerin auf der Sobek-Oase zurückgeblieben war. Auch die Trauermiene des alten Kopten provozierte Peter geradezu. Sein ganzes Leben hatte Menas sich vor jeder Verantwortung gedrückt und nun entdeckte er ganz plötzlich väterliche Gefühle für seine erwachsene Tochter, die seiner Hilfe mittlerweile längst nicht mehr bedurfte.
Peter war gründlich von seinem Fernweh kuriert. Es war ernüchternd festzustellen, dass sich die Bewohner der Sobek-Oase sich mit denselben Problemen herumschlagen mussten wie die der Heimatstadt. Nur dass sie abergläubisch waren und unter der Fuchtel von machthungrigen Priestern standen. Â
Mittlerweile bereute Peter sein Versprechen, nicht über die unglaublichen Dinge zu sprechen, die er gesehen hatte. Er hatte dies spontan zugesichert, da er sich bedroht gefühlt hatte. Damit hatte er seine Aussichten zunichte gemacht, ein berühmter Ägyptologe zu werden.
Peter rief sich schlecht gelaunt ins Gedächtnis, dass das Ziel der Exedition gewesen war, die Mumie zurückzubringen. Daher war sie kein völliger Fehlschlag gewesen. Peter musterte verstohlen seinen Bruder von der Seite, um abzuschätzen, ob er nun endgültig von seinen Alpträumen befreit sein mochte. Johanns blasses Gesicht verhieß nichts Gutes. Hatte er tatsächlich geglaubt, Takait könnte ihm nach Deutschland folgen? Denk lieber nicht darüber nach, dachte sich Peter. Schließlich muss ich jetzt Menas zur rede stellen. Wenn ich in Gedanken woanders bin, erhalte ich niemals eine Antwort auf meine Fragen.
Sie fanden Menas mit mürrischem Gesicht am Ende einer langen Bank sitzend. Peter quetschte sich neben ihn, während Johann am gegenüberliegenden Ende der Bank Platz nahm.
„Wir würden gern mit ihnen reden“, sagte Peter.
Menas antwortete nicht sofort, sondern machte er eine schnelle, ausweichende Bewegung, da ein dicker Kaufmann ihn sonst angerempelt hätte. Dies lag an der bedrückenden Enge, die im Speisesaal herrschte. Jeder verfügbarer Platz des einfachen Raumes, dessen Boden aus gestampfter Erde bestand, war mit roh gezimmerten, langen Tafeln und kippligen Stühlen verstellt. Peter fühlte sich an das Refektorium eines besonders asketischen Mönchsordens erinnert. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch die eintönige Kleidung der Gäste. Die weißgekleideten Ägypter hätten Zisterzienser und die Beduinen in ihren dunkleren Umhängen Bettelmönche sein können. Â
„Sie haben mir versprochen, mir nach unserer Rückkehr in die Zivilisation endlich zu erzählen was sie über unseren Vater wissen“, wiederholte Peter seinen Wunsch.
„Wir sind noch nicht in Alexandria angekommen!“, entgegnete der Kopte grimmig, aber Peter war nicht bereit, sich schon wieder mit einer Ausrede abspeisen zu lassen.
„Aber wir haben die Wüste hinter uns gelassen!“ Johann nickte. „Ich habe ein Recht auf mehr Informationen und lasse mich nicht immer nur vertrösten“, stelle Peter daher in einem insistierenden Tonfall fest. „Daher frage ich Sie noch einmal: Was wissen Sie über unseren Vater?“
„Vielleicht wird es dir nicht gefallen, was du zu hören bekommst“, wandte Menas mit sorgenvoller Miene ein.
„Ich will es trotzdem hören“, behauptete Peter, obwohl er sich gar nicht sicher war, ob dies wirklich stimmte. Eine schreckliche Vorahnung ergriff ihn und einen Augenblick lang erwog er, seinen Wunsch zurückzuziehen.
Menas schaute vor sich auf den Tisch und betrachtete seinen Teller, auf dem abgenagte Hühnerknochen lagen. Dann schluckte er, aber er wirkte entschlossen.
„Ihr müsste versprechen, dass all dies unter uns bleibt! Ihr wisst, ich muss als Geistlicher auf meinen Ruf achten.“
Beide Brüder beteuerten einstimmig ewige Diskretion und Verschwiegenheit. Peter dachte sarkastisch, dass es nun auf ein weiteres idiotisches Versprechen auch nicht mehr ankam. Dann begann Menas zögernd zu sprechen: „Vor zehn Jahren habe ich euren Vater zufällig in Alexandria kennen gelernt. Es war zu recht später Stunde in kleinen Spelunke und ich hatte schon einiges getrunken …“
Er will sich auf mangelnder Zurechnungsfähigkeit herausreden, durchfuhr es Peter in einer fernen Erinnerung an sein ungeliebtes Jura-Studium.
„Irgendwie kam ich ins Gespräch mit eurem Vater und ich muss wohl etwas zu viel geredet haben, denn am nächsten Tag hat er mich mit einem Freund in meiner Kirche aufgesucht. Die beiden wollten unbedingt zu der Oase aufbrechen, die ich angeblich beschrieben habe, auch wenn ich mich an nichts mehr daran erinnern konnte. Natürlich habe ich alles abgestritten. Daraufhin hat mich der Freund eures Vaters gefragt, was wohl die Mitglieder meine Gemeinde dazu sagen würde, wenn sie von meiner heidnischen Ehefrau erführen. Ich glaube im Nachhinein, dass er mich nicht wirklich denunziert hätte, denn inzwischen weiß ich, dass er kein schlechter Mensch war. In diesem Augenblick hingegen, habe ich die Drohung ernst genommen.
Kurz und gut: Ich habe den beiden verraten, wie man zu den Sobek-Oasen gelangt. Ihr könnt mir aber glauben: Wenn ich gewusst hätte, wie dies noch alles endet, ich hätte es nicht getan! Dein Vater und sein Freund haben sich also – so wie ihr - einer Karawane angeschlossen und sind hierher gereist. Den Bewohnern der dritten Oase haben sie die Lüge aufgetischt, ihr Schiff sei von Piraten gekapert worden und man habe sie in die Sklaverei verkauft. Sicherlich wusste dein Vater, dass es im alten Ägypten keine Sklaven gab und man ihnen daher Asyl gewähren würde.
Offiziell haben euer Vater und sein Freund einen Kolonialwaren-Laden betrieben, aber heimlich haben sie Antiquitäten gesammelt und sie irgendwo beiseite geschafft, wie ich inzwischen vermute in der morschen Pavillonanlage, aus der die Mumie stammt. Der Freund – sein Name trägt nichts zur Sache bei - hat nach einer Weile Takaits Mutter geheiratet, aber er hat wahrscheinlich niemals erfahren, dass sie damals bereits schwanger war.“
Und zwar von einem opportunistischen koptischen Priester, der bestimmt ein sehr schlechter Vater gewesen wäre, dachte Peter boshaft.
„Alles ging etwa zwei Jahre lang gut, dann geschah ein schlimmes Unglück: Die beiden falschen Kolonialwarenhändler wurden beim Einsturz einer Grabkammer verschüttet. Das war auf der zweiten Oase. Die Priester haben sie zu bergen versucht. Für den Freund eures Vaters kam jede Hilfe zu spät. Euer Vater wurde zwar schwer verletzt gerettet, aber nun galt er den Priestern als Frevler. Zur Strafe musste er für den Neith-Tempel arbeiten. Schlimmer noch: Er durfte die Tempelanlage nicht mehr verlassen, denn den Priestern war zu Ohren gekommen, dass er vorhatte, ein Buch über ihre Oasen zu schreiben. Das hätte natürlich bewirkt, dass sie nicht mehr im Verborgenen ihren Götzendienst hätten praktizieren können.“
„Zu Ohren gekommen ist eine sehr allgemeine Formulierung“, bemerkte Peter, „also Vater hat es ihnen bestimmt nicht gesagt.“
„Meine Frau hat mir vorgeworfen, ich könnte mich verplaudert haben“, stieß er dann mit heißerer Stimme zwischen den Zähnen hervor, „aber genauso gut kann es die Witwe des Freundes gewesen sein.“ Â
Er glaubt, dass seine frühere Geliebte unseren Vater verraten hat! durchfuhr es Peter. Ob sie dies getan hatte, weil sie der Ansicht gewesen war, dass der Vater ihren Mann auf Abwege gebracht hatte? Peter konnte sich dies nicht vorstellen. Bestimmt war es umgekehrt gewesen!
„Und was glauben Sie?“, fragte Peter nach.
 „Wahrscheinlich wird sich dies wohl niemals klären lassen!“, erwiderte der Kopte, „mehr habe ich jedenfalls nicht zu sagen.“
„Und wie konnte Vater entkommen?“, fragte Johann, der ganz offensichtlich enttäuscht über das abrupte Ende der Erzählung war.
Menas machte ein abweisendes Gesicht und Peter fühlte sich an einen Straßenräuber erinnert. Er konnte sich in diesem Augenblick den Kopten beim besten Willen nicht beim Predigen vor seiner Gemeinde in Alexandria vorstellen.
„Das weiß ich leider auch nicht. Das nächste, was ich von Bernhard Bergruen gehört habe, war das was ihr mir erzählt habt, nämlich, dass er es ihm irgendwie gelungen sein muss zu fliehen und dass er zuhause gestorben ist.“
„Und Sie verbergen wirklich nichts mehr vor uns?“, fragte Johann vorsichtig. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen, „zum Beispiel weil es Ihnen … peinlich ist.“
Peter erwartete einen Augenblick lang, Menas würde Johann wegen seiner nicht gerade sehr höflichen Frage, barsch zurechtweisen, aber dann brach der alte Mann in schallendes Gelächter aus.
„Langsam ist mir gar nichts mehr peinlich“, sagte er dann mit Tränen in den Augen und wischte sich die verschwitzte Stirn mit dem Ärmel ab, „aber wenn ich euch einen Ratschlag geben darf, fragt diesen schleimigen Kaufmann, der sich Saladin nennt. Ich kann ihn zwar noch immer nicht ausstehen, da ich mir ziemlich sicher bin, dass er mir im Auftrag meiner Frau in Alexandria nachspioniert hat, aber …“ Menas zögerte, „nach den Gerüchten, die mir zu Ohren gekommen sind, hat er die Flucht eures Vaters organisiert. Aber erzählt ihm bitte nicht weiter, dass ich dies gesagt habe!“
Einige Dankesfloskeln vor sich hinmurmelnd sprang Johann von der Tafel auf und machte Anstalten, den Speisesaal zu verlassen. Peter, der darüber irritiert war, dass der Bruder ihn nicht gefragte hatte, ob er mitzukommen wollte, schloss sich an.Â
„Aber ich warne euch! Mit diesem Saladin zu reden, kann ziemlich teuer werden!“, rief Menas den Brüdern warnend nach.
„Die Erfahrung habe ich leider auch schon gemacht!“, erwiderte Peter, sich lachend zu dem Priester umdrehend. Er nahm sich vor, nachher ein paar freundliche Worte zu dem alten Mann zu sagen, den er in seiner ruppigen und etwas ungelenken Art gut leiden konnte.
Obwohl er fast rannte, erreichte er Johann, der es offenbar unglaublich eilig hatte, erst als dieser den Speisesaal verlassen hatte, wobei er die Tür unnötig laut hinter sich schloss.
„Hoffentlich ist Saladin überhaupt noch in der Karawanserei“, brummte Johann, dessen Enthusiasmus beim Anblick des staubigen Korridors, der auf den Speisesaal folgte etwas gedämpft zu sein schien, „er könnte irgendwo in diesem verfluchten Kaff sein.“Â
„Das stimmt, aber wir sollten es erst einmal mit dem Warenlager versuchen“, meinte Peter, „wenn er dort nicht ist, macht das aber auch nichts. Spätestens heute Abend sehen wir ihn sowieso wieder, denn es würde mich sehr wundern, wenn er nicht unter irgendeinem Vorwand noch etwas Geld bei den Kaufleuten eintreiben würde.“
„Vielleicht dafür, dass er sie bei der nächsten Tour wieder berücksichtigt wird“; schlug Johann grinsend vor.
„Ich sehe, du hast unterwegs viel gelernt“, meinte Peter und die Brüder eilten in den großen Frachtraum, der fast einen ganzen Flügel der Karawanserei einnahm. Dort waren einige Kaufleute mit dem Verschüren ihrer Waren beschäftigt, von denen sie wahrscheinlich wegen weniger hatten absetzten konnten als sie gehofft hatten, aber Saladin war nicht unter ihnen.Â
Wie dumm, dass wir nicht nach Saladin fragen können, durchfuhr es Peter, bestimmt wissen seine Kumpanen, wo er steckt. Â
„Wollen wir im Stall nachsehen?“, fragte er dann den Bruder.
„Von mir aus“, entgegnete Johann ohne große Begeisterung, „obwohl in diesen Ställen immer so schrecklich stinkt. Ich frage mich, ob die jemals ausmisten!“
Peter ging diesmal voran und Johann folgte, als sie einen anderen Flügel der Karawanserei aufsuchten. Offenbar hatten die Räume, die sie passierten zu mehreren Gebäuden gehört, die man durch das Niederreißen diverser Wände und Mauern zu einem Haus gemacht hatte.
Sie rochen den Stall, bevor sie ihn sahen. Mit angehaltenem Atem lugte Peter durch die Tür, aber selbst im trüben Licht, das durch die kleinen Fenster einfiel, konnte man auf einen Blick sehen, dass ur Dromedare und ein paar Esel zwischen den Futterkrippen standen.Â
„Ich schaue mal schnell um den Block!“, meinte Johann, „die frische Luft wird mit gut tun und ich glaube nicht, dass Saladin weit weggegangen ist.“
„Aber bitte sei vorsichtig und denk dran, dass wir morgen nach Alexandria aufbrechen, mit dir oder ohne dich“, ermahnte ihn Peter, der dem Bruder am liebsten verboten hätte, die Oase zu verlassen. Aber er wusste, dass Johann trotzdem gehen würde, wenn er sich dies einmal in den Kopf gesetzt hatte, „ich komme bis zur Pforte mit.“
Peter sagte sich, dass er nicht jeden Ägypter unterstellen durfte, dass er ein fanatischer Götzenanbeter auf der Suche nach einem Opfer sei.
Als die Brüder sich dem Ausgang näherten, war Peter erleichtert, dort im Gegenlicht einen Mann zu sehen, der keinen Beduinenumhang, sondern prächtige orientalische Kleidung trug. Dies konnte nur Saladin sein, der in ein Gespräch mit dem Pförtner, einem alten Mann mit lustlosen, schicksalsergebenen Gesicht verwickelt war.
„Könnten wir Sie vielleicht einen Augenblick sprechen?“, sprach Peter den gut gekleideten Mann von hinten an, aber als dieser sich umdrehte, stellte Peter enttäuscht fest, dass es ein Fremder war.
Der Ägypter sagte etwas für Peter Unverständliches auf Arabisch, aber da der Mann nicht unfreundlich wirkte, beschloss Peter einen Kommunikationsversuch zu wagen.
„Saladin“, sagte er daher gedehnt und der reich gekleidete Mann schüttelte lachend den Kopf.
Wahrscheinlich dachte er an den berühmten Heerführer aus den Kreuzzügen meinte nun, dass Peter scherzte, aber ein Aufleuchten huschte über das Gesicht des mürrischen alten Pförtners.
„Sal a din?“, wiederholte er und die Brüder nickten stumm.
Ein flüchtiges Lächeln trat auf die Züge des Pförtners. Sogleich verließ er seine Stube und bedeutete den beiden Fremden mit einer Geste ihm zu folgen. Peter blickte Johann an. Dieser zuckte mit den Schultern und murmelte: „Schaden kann es nicht!“
Dann trotteten die Brüder dem Pförtner nach, der sie zu einer einfachen Holztür in einem dunklen Korridor geleitete. Er klopfte dreimal an und eine Stimme rief etwas aus dem Inneren des Raums. Der Pförtner zog am Türknauf und mit angehaltenem Atem schaute Peter durch den Türspalt in einen kleinen Raum hinein, der wie das Büro eines barocken Handelskontors eingerichtet war. Hinter einem altmodischen, englischen Schreibtisch saß Saladin im Beduinenumhang, aber trotz dieser einfachen Gewänder hätte Peter wetten mögen, dass seine Finger mindestens zwei juwelenbestückte Ringe mehr schmückten, als bei ihrer letzten Begegnung. Peter gab dem Pförtner ein Trinkgeld und trat ein.
„Womit kann ich dienen?“, fragte der Kaufmann mit übertriebener Höflichkeit, als er die Brüder sah.
„Menas aus Alexandria, der Freund unseres Vaters“, begann Peter, obwohl er sich gar nicht mehr so sicher war, dass man diesen unsicheren Kantonisten wirklich als einen Freund bezeichnen konnte, „hat uns erzählt, Sie wüssten, wie unser Vater aus der dritten Oase entkommen ist.“
„Wollen Sie nicht Platz nehmen?“, meinte der Kaufmann mit einer einladenden Geste auf zwei unlackierte Holzstühle mit geflochtener Sitzfläche, die vor seinem Schreibtisch standen.
Die Brüder ließen sich auf die Sitzgelegenheiten fallen und Peter überlegte schon, ob er seine Frage wiederholen sollte, da einen Augenblick lang Schweigen herrschte. Aber er beherrschte sich, da er festgestellt hatte, dass es Landessitte war, eine Sache weitschweifig zu umkreisen, ehe man Interesse zeigte. Seine Ungeduld hatte ihn dazu verleitet, gegen diese fundamentale Regel zu verstoßen. Â
„Wir wüssten gern, wie unser Vater geflohen ist“, sagte Johann, der sich offenbar nicht um die hiesigen Geflogenheiten scherte. Wie gut, dass der Kaufmann in England studiert hatte und dies daher nicht verübelte.
„Da sind Sie an der richtigen Adresse, denn ich selbst habe einen bescheidenen Beitrag dazu geleistet“, erklärte Saladin, nicht ohne Selbstgefälligkeit. Seine Stimme war ungezwungen, aber in seinen Augen war Anspannung zu sehen.
„Und was möchten Sie dafür, dass sie uns davon erzählen?“, fragte Peter, der beim Anblick des Kaufmanns schon die Piaster klimpern hörte.
„Als Zeichen meines guten Willens ist diese Auskunft gratis, zumal mich Ihr Vater bereits mehr als gut bezahlt hat!“ Saladin lächelte, wobei er zwei Reihen weißer, makelloser Zähne entblößte. „Ich war vor einiger Zeit Gast im Neith-Tempel und einer der Priester hat mir stolz die Tempelgärten gezeigt. Ihr Vater, der dort als Gärtner gearbeitet hat, hat mir einige Feigen förmlich aufgedrängt, unter denen Stück ein Papyrus versteckt war. Darauf hatte er eine Botschaft notiert, in der er mich gebeten hat, ihm bei der Flucht behilflich zu sein. Wir sind uns dann schnell handelseinig geworden …“
„Wie haben Sie das gemacht, wo Vater doch gefangen gehalten wurde?“, unterbrach Johann.
„Berufsgeheimnis“, entgegnete Saladin mit einem leicht ironischen Lächeln, „Ich kann aber vielleicht soviel verraten: Die arme, verlassene Ehefrau Ihres neuen Reisegefährten hat dabei eine wichtige Rollen gespielt. Gemeinsam haben wir die Antiquitäten Ihres Vaters in Sicherheit gebracht, für den Transport verpackt und in der Karawanserei gelagert.“
„Eine Ägypterin hat Ihnen geholfen, Dinge, die aus pharaonischen Gräbern stammen außer Landes zu bringen?“, fragte Peter erstaunt, da er an Takait und ihre Skrupel denken musste.
Saladin zuckte kaum wahrnehmbar mit den Schultern.
„Bei diesem Ehemann, hat sie wohl alle Illusionen verloren. Außerdem brauchte sie das Geld, als er sie hat sitzen lassen.“
Hinter dem ungezwungenen Ton, den Saladin in Oxford geübt haben mochte, spürte Peter einen Anflug von Ungeduld.Â
„Wohnt sie noch immer auf der dritten Oase?“, fragte Peter, der bedauerte, die Dame nicht kennen gelernt zu haben.
„Sowie ich informiert bin schon, aber sie hat wieder geheiratet und einen neuen Namen angenommen, damit ihr zweiter Mann nicht ….“
„Ich verstehe, aber wie konnte Vater fliehen, wo er unter ständiger Beobachtung stand?“, unterbrach Johann, da er sich den Rest des Satzes vorstellen konnte. Wahrscheinlich ahnte der zweite Ehemann weder, dass seine Frau die Witwe eines Grabräubers war, noch dass man diesem die Tochter des Kopten untergeschoben hatte. Oder vielleicht doch? Vielleicht wollte er sie deshalb unbedingt verheiraten.Â
„Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, habe ich es so eingerichtet, dass die Karawane am Tag des großen Fests der Neith die Oase verlassen hat. Wie bei allen ägyptischen Festen, wurde sehr viel getrunken und ihr Vater konnte im allgemeinen Durcheinander entkommen.“    Â
„Waren auch die Tempelwärter betrunken?“, fragte Johann erstaunt.
Saladin lächelte hinterhältig.
„Natürlich nicht! Aber ich habe demjenigen, der ein Auge zugedrückt hat, versprochen, seinen Namen geheim zu halten.“
Unweigerlich stieg vor Peters innerem Auge das Bild des gut aussehenden Priesters auf, der ihn gerettet hatte.
„Und warum haben Sie uns all dies nicht vorher gesagt?“, wollte er wissen, denn ihn ärgerte die Heimlichtuerei.
Saladins Mundwinkel strafften sich und sein Blick wanderte durch das Fenster in die Ferne.
„Sie habe mich niemals danach gefragt, ob ich ihren Vater gekannt habe“, erklärte Saladin mit der größten Selbstverständlichkeit und Peter hätte ihm die Gurgel umdrehen können. „Aber Sie werden mich entschuldigen. Die Pflicht ruft!“ Der Kaufmann zeigte anklagend auf einen Stoß Zettel und einige Papyrusrollen auf seinem Schreibtisch.
„Selbstverständlich!“
Peter erhob sich von seinem unbequemen Stuhl auf und Johann tat es ihm gleich. Im Herausgehen warf er dem Kaufmann einen vernichtenden Blick zu.Â
„Schade, dass nicht ihn der Fluch der Mumie getroffen hat“, meinte Johann erstaunlich heftig, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte und Peter wunderte sich sehr über seinen sanften Bruder. „Er lässt sich doch von allen bezahlen: Von den Kaufleuten, den Grabräubern, den ägyptischen Priestern und von ihren Gefangenen, sowie erst unlängst von der feindlichen Armee, die im Anmarsch auf die dritte Oase ist. Er ist zweifelsohne der schlimmste von allen.“
„Aber denk dran, dass er Vater geholfen hat!“, gab er zu bedenken.
„Ich weiß“, entgegnete Johann mit einem leisen Seufzer, „meinst du, dass er noch am Leben wäre, wenn er auf der dritten Oase geblieben wäre?“
„Das werden wir wohl niemals erfahren, aber Mutter wird sich freuen, wenn wir ihr erzählen, dass Vater nicht nach Hause gekommen ist, weil man ihn hier gefangen gehalten hat“, erwiderte Peter und als er von seiner Mutter sprach, bekam er augenblicklich ein schlechtes Gewissen. „Wir hätten ihr wirklich schreiben sollen!“
„Ich habe ihr eine Postkarte aus Alexandria geschickt“, entgegnete Johann gedankenverloren, „meinst du, dass wir Ägypten jemals wieder sehen?“
Peter war sich nicht sicher, ob er dies wollte, aber dem Bruder zuliebe sagte er: „Warum nicht? Schließlich wissen wir nun, wo wir in Alexandria übernachten können.“
„Aber meldet euch gefälligst vorher an“, brummte Menas, der zufällig vorbeikam, aber Peter fand, dass sich dies nach einer Einladung anhörte, die nächsten Semesterferien bei ihm zu verbringen.
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13. Die Zauberblume
„Du hast uns doch die ganze Reise lang nur belogen!“, fuhr Johann Takait an, kaum dass sie das Portal des Tempels durchschritten hatten. Auf dieses erste Portal folgte ein zweites, das aussah wie das aufgerissene Maul einer Schlange, die durch ihre farbige Bemalung erschreckend lebendig wirkte. Johann blieb wutentbrannt stehen um Takait zur Rede zu stellen, denn er war nicht bereit, sich von ihrem melodramatischen Auftritt beeindrucken zu lassen, „und warum trägst du plötzlich diese bombastische Kleidung? Du willst uns doch wohl nicht weismachen, dass du nicht von Anfang an vorgehabt hast, auf dieser blöden Oase zu bleiben. Du hast uns doch nur dazu benützt, hierher zu kommen und jetzt lässt du uns schmählich im Stich!“
„Sie nicht böse auf sie“, sagte Peter leise, „sie hat uns eben vor dem Zorn der Priester gerettet.“
„Trotzdem ist sie eine notorische Lügnerin!“
„Ich bin Tänzerin des Amun“, erklärte Takait ohne auf Johanns Vorwürfe einzugehen und schaute dabei Peter tief in die Augen, „doch es ist mein sehnlichster Wunsch eine Hathore, eine Priesterin der Hathor zu werden.“
„Ich kann es noch immer gar nicht fassen, dass es hier noch Heiden gibt“, erklärte dieser kopfschüttelnd, „Ich dachte, in Ägypten sind alle Mohammedaner, abgesehen, von den paar Kopten?“
„Wie Priester Menas euch schon mitgeteilt hat, werden auf den Sobek-Oasen die alten Traditionen gepflegt“, meinte Takait leichthin.
„Stammst du von dieser Oase!“, wollte Peter wissen und Johann fand, dass der Bruder die Verräterin viel zu freundlich behandelte.
„Ich bin in der dritten Oase aufgewachsen, aber …“, Takait ließ den Satz unbeendet, jedoch Peter sah ihr solange in die mandelförmigen, dunklen Augen bis sie weitersprach.
„Ich bin von zu Hause ausgerissen, um nicht heiraten zu müssen, aber Alexandria war eine große Enttäuschung für mich. Ich wusste überhaupt nicht, was ich in einer Stadt ohne Tempel anfangen sollte. Daher bin ich zurückgekehrt, um mich hier zur Hathore ausbilden lassen.“
Für Johanns Geschmack waren Takaits Worte voller Widersprüche, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie log.
„Wenn ich das richtig verstanden habe, so liegen die drei Sobek-Oasen nur jeweils eine Tagesreise voneinander entfernt“, begann er laut zu denken und versuchte dabei nicht in das riesige aufgerissene Maul der Schlange vor sich zu blicken, „deine Leute werden also bald erfahren, dass du in zur ersten Oase zurückkehrt bist und dich wieder in den Schoß der Familie zurückholen!“
„Die Bewohner der ersten und der dritten Oase sind seit Menschengedenken miteinander verfeindet“, erklärte Takait in dem sachlichen Tonfall, in dem man allbekannte Tatsachen referiert.
Johann fand es ziemlich befremdlich, dass die Oasenbewohner nicht zusammenhielten, so von der Außenwelt isoliert wie sie waren, aber dies ging ihn wahrscheinlich wieder einmal nichts an. Trotzdem war er nicht bereit Takaits hinterhältiges Verhalten einfach so ad acta zu legen.
„Willst du dich nicht wenigstens anstandshalber zu meinen Vorwürfen äußern?“, forderte er sie daher verärgert auf.Â
„Später“, erwiderte sie mit einem honigsüßen Lächeln und deutete in Richtung Tempelinneres, „uns bleibt nicht viel Zeit bis die Priester zurückkehren.
„Sie sind vor dem Erdbeben geflüchtet?“, wollte Peter wissen, der offenbar wie Peter befürchtete, dass die Erde erneut beben könnte.
„Welches Erdbeben? Die Priester sind alle zu der eingestürzten Grabkammer geeilt!“, erklärte Takait mit einem erstaunten Gesichtsausdruck, „aber jetzt kommt endlich mit!“
Sie schritt durch das zweite Tempelportal und den Brüdern blieb nichts anderes übrig als ihr zu folgen. Johann zog automatisch den Kopf ein, als er die Fangzähne der steinernen Schlange über sich wähnte und er spürte, dass dieses schreckliche Portal nichts Gutes verhieß. Wahrscheinlich war dies auch der Grund dafür, dass die Priester des Labyrinths es vorgezogen hatte, draußen zu bleiben.
Der Saal, den sie nun betraten ging über die Breite des gesamten Geschosses. Seine monumentale Großartigkeit übertraf selbst das Labyrinth. Im Inneren herrschte ewiges Dämmerlicht. Johann bemerkte, dass es hier Tische im Überfluss gab. Aus Holz geschnitzt und mit Einlegearbeiten verschiedener Techniken versehen, standen sie entlang der Wände. Jede Tischplatte war mit Gegenständen überladen, davon manche schön, viele seltsam, alle wertvoll. In Alabastervasen standen frisch geschnittene Blumen, dazwischen Schalen mit Früchten. Bläulicher Rauch stieg aus einem goldenen Becken auf.
Peter verschwand ohne Zögern in der Tiefe des düsteren Raumes und Johann folgte ihm notgedrungen, bis sie einen Altar aus schwarzem Granit erreicht hatten. Johann wunderte sich, dass man sie soweit in den Tempel hatte vordringen lassen denn er hatte gehört, dass nur Priester die ägyptischen Gotteshäuser betreten durften.
Auf dem Granitaltar stand eine Schale mit kleinen Beeren. Der Oasenkrokus!, durchfuhr es Johann. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er die Beeren jedoch für die Kerne von Granatäpfeln gehalten.
„Willkommen im Haus der Göttin Hathor“, sagte Takait, während sie die Schale in beide Hände nahm.
Johann wurde von einer dunklen Ahnung beunruhigt, da er sich an Persephone erinnert fühlte, die die Unterwelt nicht wieder verlassen durfte, da sie Granatapfelkerne gegessen hatte. Das war es also, was Takait bezweckte!, durchfuhr es ihn und er hatte den Eindruck, dass der vorher schon düstere Tempel noch finsterer wurde.
„Iss nichts davon!“, sagte er inständig zu dem Bruder, „Sonst kannst du nie wieder nach Hause!“
 „Wie kommst du nur auf solche Ideen?“, fragte Peter lachend, „wir sind nicht in der Unterwelt! Wenn wir zurück sind, nehme ich dir die Odyssee weg!“
Johann erwiderte nichts, sondern er packte Peter am Arm um ihn aus dem Tempel herauszuschleifen, aber Takait trat ihnen in den Weg. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch ihre Augen blieben ernst.
„Dies ist die traditionelle Art, einen Fremden im Tempel der Göttin zu begrüßen.“
In Takaits dunklen Augen tanzten winzige weiße Flecken.
„Wenn dies stimmen würde, hättest du auch mir Samen angeboten.“
„Du hast kein Tier gequält. Hier wird Hathor verehrt, die im Zorn zur wilden Löwengöttin Sackmet wird, die im Blut ihrer Feinde badet. Sie duldet nicht, dass man sich an ihren Katzen vergreift!“
Johann fragte sich, woher Takait wusste, dass Peter aus Versehen eine Katze getreten hatte? Bestimmt von den Priestern, die den Bruder und ihn wahrscheinlich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatten. Außerdem entbehrten Takaits Wort jeglicher Logik.
„Merkst du eigentlich nicht, dass du dir selbst widersprichst?“, stellte er sie zur Rede, „ist dies nun die traditionelle Art Gäste zu begrüßen, oder hat Peter einen unverzeihlichen Frevel begannen, als er im Sandsturm eine streunende Katze übersehen hat?“
So als ob Johann gar nicht existierte ging Takait auf Peter zu, der dem Gespräch mit einem leicht belustigten Gesichtsausdruck beigewohnt hatte.
„Zeige mir deine Hände“, sagte sie leise und sah Peter dabei tief in die Augen. Peter streckte ihr irritiert die Handflächen entgegen und Takait betrachtete zuerst die eine und dann die andere Hand. Johann fragte sich, was sie bezweckte. Sie wollte doch wohl sicherlich nicht Peters Zukunft aus seinen Handlinien lesen?    Â
„Sie lügt, wenn sie nur den Mund aufmacht! Sie möchte dich hier behalten“, warnte er den Bruder, aber mit Schrecken bemerkte er, dass dieser sehr blass war. War dies ein Vorzeichen dafür, dass diese Löwengöttin ihm schon langsam das Leben entzog? Oder hatte Takait ihm nur Angst eingejagt?
„Das ist völlig absurd!“, rief Takait verärgert aus, den Blick von Peters Händen hebend, „dein Bruder sollte endlich einige der Kerne essen. Ãœber kurz oder lang kommen die Priester zurück. Sie sind aufgebracht, wegen des Einbruchs im Labyrinth, aber sie müssen die Götter morgens wecken und sie einkleiden. Sie bringen ihnen Speisen und brennen zu ihren Ehren Räucherwerk ab…“
Takait stockte, schaute Peter mit unendlich traurigen Augen an und erste Zweifel nagten in Johann. Er spürte, wie sein Widerstand zerbröckelte.
„Ich esse die Kerne draußen“, erklärte Peter unvermittelt
Er wollte sich die Beeren schnappen, aber Takait war schneller und hielt die Schale hinter ihren Rücken. Sie schüttelte den Kopf und sah die Fremden an als wären sie unerzogene Kinder.
„Wollt ihr ohne die Zwiebel des Oasenkrokus nach Hause zurückkehren, nach all den Strapazen, die ihr auf euch genommen habt?“
„Das ist nicht der Oasenkrokus?“, fragten beide Brüder zugleich.
Takait lachte, dies war das erste Mal, dass Johann sie lachen sah, nicht lächeln, sondern richtig lachen und er musste widerwillig zugeben, das ihr dies gut stand.
„Nein, das sind gewöhnliche Granatäpfel“, sagte sie, den Brüdern die Schale vor die Nase haltend und Johann ärgerte sich über sich selbst, dass er nicht seinen Instinkten gefolgt war. „Ihr habt wohl gar keine Ahnung von Botanik? Die Oasenkrokusse wachsen im ummauerten Garten hinter dem Tempel.“
Johann sah Peter an und beide mussten lachen. Dann griff Peter in die Schale und schob sich drei Kerne in den Mund. Takait atmete sichtbar auf.Â
„Willst du auch einen?“, fragte sie dann Johann mit einem angedeuteten Lächeln.
„Wenn du ihm gleich etwas angeboten hättest, dann hättet ihr euch nicht herumstreiten müssen“, bemerkte Peter, noch immer auf den Kernen herumkauend, „Johann steckt mich langsam mit seinem Griechenfimmel an.“
Wortlos griff Johann nach einem der Kernbeeren, die wie sich herausstellte wunderbar aromatisch schmeckte.
„Jetzt solltet ihr euch wirklich beeilen. Wenn die Priester zurückkommen ist es zu spät, denn niemals zuvor haben sie eine ihrer heiligen Pflanze einem Fremden gegeben.“
„Sie hat Recht“, sagte Peter mit entschlossenem Gesichtsausdruck und die Brüder folgten Takait durch den Tempel, dessen rückwärtiger Ausgang in den Garten führte.
„Ihr dürft im Tempelgarten nichts anfassen“, ermahnte sie ihre Gäste unterwegs, „keine Blumen pflücken, keine Früchte essen, keine Blätter abreißen, keine Äste knicken…“
„Und keine Katzen treten“, ergänzte Johann grinsend.
Takait drehte sich mit einer schnellen, doch eleganten Bewegung um.
„Das ist nicht komisch.“ Johann und Peter sahen sich wortlos an konnten sich beide nur mühsam das Lachen verkneifen. „Im Tempelgarten werden heilige Bäume kultisch verehrt. Ganze Expedition wurden unter den Pharaonen in fremde Länder ausgeschickt um seltene Pflanzen hierherzubringen, zum Beispiel Bergpflanzen aus dem Süden.“
Noch immer war Johann argwöhnisch. Er befürchtete, dass es sich um eine Falle handeln könnte. Vielleicht versteckten sich im Garten Priester, die sie im Tempel nicht festnehmen durften, weil dieser den Fremden Asyl gewährte. So fragte er schließlich: „Was hast du eigentlich davon uns zu helfen? Warum verstößt Du unsretwegen gegen die Gesetze deines Landes?“
„Lass sie doch endlich in Ruhe“, raunte Peter ihm zu, „ehe sie es sich am Ende noch anders überlegt.“
„Das erzähle ich euch ein andermal, wenn wir es nicht so eilig haben“, erwiderte Takait, ohne sich zurückzuschauen. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass Peter ihr Gesicht sah, denn ihrer Stimme war anzuhören, dass ihr die Frage unangenehm war.
Johann war nicht bereit, sich schon wieder mit einer derart ausweichenden Antwort abspeisen zu lassen, aber der Anblick des Gartens verschlug ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Hinter hohen Mauern war er eine gegen den Außenbereich abgeschlossene, wohlgeordnete Welt, deren Pracht sonst nur den Priestern vorhalten war. Er bestand aus symmetrisch angeordnete Baumreihen und Wasserbecken, deren Ränder mit Blumen geschmückt waren. Kiesbestreute Wege führten durch die Beete, die sich bis zu den Gartenmauern ausdehnten. Unvorstellbar, dass diese Idylle sich mitten in der Wüste befand!
„Dort züchtet man den Oasenkrokus!“, sagte Takait und deutete auf einen steinernen Pavillon mit reliefverzierten Wänden und großen Fenstern, der sich zum Wasserbecken hin öffnete, aber ansonsten auf dem nackten Boden zu stehen schien.
Der Kies knirschte unter ihren Füßen als Takait und die Brüder dem Weg zum Pavillon beschritten und ein Ibis flatterte auf. Drinnen war es stickig feucht und noch wärmer als im Garten. Es roch nach Erde, Blättern und Blumen, deren Duft so betäubend war, dass Johann einen Augenblick brauchte, um sich daran zu gewöhnen. Kräuter und Blumen der unterschiedlichsten Art wuchsen in Blumenkübeln aus gebrannter Terrakotta, die teils auf dem Boden und teils auf Regalbrettern standen. Â
„Das ist er“, sagte Takait und zeigte auf eine rot blühende Blume, die wie ein Krokus aussah, aber Krokusse blühen normalerweise nicht im Sommer, und schon gar nicht in der Wüste.
„Woher weißt du das eigentlich alles? Du bist doch selbst erst seit wenigen Tagen in dieser Oase“, fragte Johann, während sich Peter von einem Klapptisch, auf dem Gartenwerkzeuge lagen einen miniaturhaft kleinen Spaten holte.
„Auf Oasenkrokus beruht die Heilkunst der Sobek-Oasen. Daher ist der Priester, der für die Pflege des Gartens verantwortlich ziemlich eingebildet. Er hat von früh bis spät mit der Wichtigkeit seines Amtes geprahlt. Ich musste ihm noch nicht einmal Fragen stellen.“
Peter bückte sich zum Boden und griff nach einem der roten Krokusse. Johann konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Blumen mit den roten Blüten vor der Schaufel zurückzuckten. Im gleichen Augenblick erschütterte wieder ein Erdstoß die Oase.
Es war nur ein leichtes Beben, wahrscheinlich ein Nachbeben der letzten Stöße. Peter hielt in der Bewegung inne. Er umschloss den Griff der Schaufel mit zitternden Fingern. Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck und stach mit der Schaufelspitze in den Boden. Ein undefinierbares Geräusch drang an Johanns Ohr, das vage an die Schreie der Dämonen in der Wüste erinnerte. Peter schien es nicht wahrzunehmen oder er ignorierte es. Mit angehaltenem Atem beobachtete Johann, wie Peter eine Pflanze mitsamt der Zwiebel ausgrub.
Takait stieß einen halbunterdrückten Schrei aus, denn von der fleischfarbigen Zwiebel tropfte eine rote Flüssigkeit herab. Voller Entsetzten starrte Peter auf den Oasenkrokus in seiner Hand, an deren Spitze die blutähnliche Flüssigkeit zu trocknen begann.
„Was für eine verfluchte Blume hast du ihn ausgraben lassen?“, fuhr Johann außer sich vor Wut und Ekel Takait an.
„Ihr selbst habt danach verlangt“, erwiderte Takait, die sich als erste wieder gefasst hatte, „aus dem Saft des Oasenkrokus wird die Prometheische Salbe gemacht, denn diese Blume ist in den Schluchten des Kaukasus entsprossen, an der Stelle, an der das Blut des angeketteten Prometheus auf den Boden tropfte als der Adler an seiner Leber nagte. Die Erde brüllte und bebte als der Oasenkrokus herausgerissen wurde.“
„Ganz reizend“, kommentierte Johann, „warum hörst du nur immer wieder auf Takait?“
„Es ist geschehen“, erklärte Peter, immer noch blass, aber gefasst, „nun sollten wir den Garten schleunigst wieder verlassen.“
Bevor Johann oder Takait etwas erwidern konnte, begann die Erde erneut zu beben, diesmal mit weit größerer Vehemenz als zuvor. Alle drei stürzten aus dem Pavillon und blieben draußen abrupt stehen. Das Labyrinth begann zu schwanken, zuerst kaum merklich. Dann verschoben sich seine Mauern und das ohrenbetäubende Geräusch zusammenstürzender Steinmassen erschütterte die Luft. Eine riesige Staubwolke schien nach allen Richtungen geradezu zu explodieren. Als die Luft wieder klar war, konnte man sehen, dass das Dach des Labyrinthes zerstört war. Nur die massiven Säulen standen noch aufrecht. Auch der Tempel wankte, aber er hielt der Erschütterung stand und stürzte nicht ein.
Schweigend durchquerten Takait, Peter und Johann die Beete, denn leider war die Gartenmauer zu hoch, um über sie klettern zu können. Sie eilten besorgt durch den noch immer leeren Tempel und atmeten erst auf, als sie durch dessen beide Portale geschritten waren, denn sie hatte befürchteten, auch der Tempel könnte einstürzen. Als die Sonne sie wieder begrüßte, schloss Johann genüsslich die Augen, aber seine Erleichterung hielt nur einen Augenblick an.
Ganz plötzlich wurde die Stille durchschnitten von einem Gebrüll, das nichts Menschliches an sich hatte. Johann riss die Augen auf und schaute sich um voller übler Vorahnungen um. Er sah sein schlimmster Alptraum war wahr geworden: Der Sphinx hatte seinen Kopf gewendet und schaute ihn aus lebendigen leuchtendgrünen Augen an.
Peter bückte sich nach einem der Steine, die seit dem Einsturz des Labyrinths auf dem ganzen Gelände herumlagen.
„Ihr könnt ihn nicht besiegen! Er ist ein Gott, ein Gott, der lebendig geworden ist um die Feinde Ägyptens zu strafen!“, rief Takait und ihre Stimme überschlug sich fast vor Entsetzen. Dann brüllte sie etwas auf Ägyptisch in eine kleine Tür, an der Schmalseite des Tempels; anders konnte man ihre heftigen Worte nicht bezeichnen.
Wenige Augenblicke später eilten drei, mit breiten Halsketten, schweren Ohrringen und Armringen geschmückte Frauen heraus. Sie brachten Musikinstrumente mit: ein kleines Saiteninstrument mit einem ziemlich langen Hals, eine Bogenharfe und die kultischen Rasseln, die von den Griechen Sistrum genannt wurden. Sie bestanden aus auf Drähten aufgereihten Perlen aus Bronze, die ein melodisches Klimpern erzeugten.
Als die drei Frauen sich im Halbkreis aufstellten, sah Johann, dass die Mädchen vor Angst zitterten. Er konnte es ihnen nicht verdenken, denn auch ihn graute es, obgleich er irgendwo das Gefühl nicht loswurde, dass all dies nicht wirklich passierte. Als sei dies nur ein Traum.
Takait richtete sich zu ihrer für eine Ägypterin beträchtlichen Länge auf und warf den Musikerinnen einen Blick zu, der fast so furchteinflößend war wie der des Sphinxen. Die jungen Frauen begannen zu singen und zu musizieren. Die beiden Saiteninstrumente spielten eine fremdartige Melodie, während das Sistrum den Rhythmus vorgab. Die Musik klang anders als alle Musik, die Johann jemals gehört hatte, archaisch, aber doch üppig.
Takait stellte sich vor die Musikerinnen. Sie löste mit einer entschlossenen Bewegung ihren Gürtel. Im gleichen Augenblick durchschnitt ein schauerliches Löwengebrüll die Luft. Johann wagte es nicht, sich nach dem Sphinx umzudrehen, denn er befürchtete der bloße Anblick würde ihn vor Schreck tot umfallen lassen. Die Musikerinnen hörten nacheinander auf zu spielen. Es war unübersehbar, dass sie bald flüchten würden, aber Johann fragte sich wohin, denn vor dem riesigen Sphinx war man nirgends auf der Oase sicher.
Eine der jungen Frauen stieß einen schrillen Schrei aus und deutete mit kalkweißem Gesicht und weit aufgerissenen Augen auf den Sphinx. Johanns Blick folgte automatisch ihrem Finger und fast hätte auch er aufgeschrieen, denn der Sphinx hatte mit seinen riesigen Löwenpranken einen ägyptischen Bauer gepackt. Die Menschenmenge, die der Lärm herbeigelockt hatte, rannte panisch in alle Richtungen davon und Johann sah entsetzt, wie der Mann zappelnd und schreiend hochgehoben wurde. Der Sphinx riss das Maul auf und bleckte seine weißen Zähne. Noch immer rief sein Opfer um Hilfe und Johann schaut vor Grauen weg, aber er hörte noch das Geräusch von brechenden Knochen. Dann herrschte ganz plötzlich wieder Stille.
Die Musikerinnen standen schreckensstarr vor dem Tempel, sie zitterten vor Angst und eine von ihren schluchzte laut. Takait rief ihnen einige ermutigende Worte zu und zu Johanns Erstaunen begannen sie wieder zu musizieren, aber ihre Musik klang dissonant, als ob sie es nicht schafften, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Takait streifte ihr Gewand über den Kopf und warf es auf den Boden. Sie trug jetzt nur noch einen kurzen Schurz, sonst war sie nackt. Über ihren bloßen Brüsten war ein dreifach gekreuztes Band geschlungen und auf ihren rechten Oberschenkel war das Bild eines tanzenden dicken Mannes mit Knollnase tätowiert.
Takait, die für ein Mädchen muskulös war, erhob die Arme und ließ ihre Hüfte kreisen, zuerst langsam, dann immer schneller, da sich der Rhythmus der Musik steigerte. Sie griff nach dem Sistrum, das an ihrem rechten Handgelenk an einer Schlaufe hing und produzierte damit klappernde Geräusche während sie sich bewegte.Â
Der Sphinx brüllte nochmals so laut, dass es noch in der nächsten Oase zu hören sein musste. Diesmal drehte Johann sich automatisch um, aber zu seiner Erleichterung hatte sich der Sphinx nicht von der Stelle bewegt. Er beobachtete seine Opfer, in der Art und Weise wie eine Spinne auf eine Fliege schaut, die in ihrem Netz zappelt. Oder konnte ihn die Musik tatsächlich friedlich stimmen?
Takait wiegte die Hüften und ließ sich nach hinten fallen. Dann streckte mit hoch erhobenen Armen ein Bein in die Höhe. Johann fühlte sich an einen Kranich erinnert. Es war erstaunlich, wie gelenkig Takait war, aber Johann hatte andere Vorstellungen vom anmutigen Tanz eines jungen Mädchens. Trotzdem starrte er sie so gebannt an, dass er einen Augenblick lang den Sphinx vergaß.
Bald übertönten das Klatschen der Hände und das Klappern des Sistrums das Spiel der Musikinstrumente. Takait knickte ihren Oberkörper zur Seite ab, die Arme in die Hüften gestemmt und wieder ließ sie ihren Kopf kreisen, zuerst langsam, wie in Trance, dann immer schneller.
Die Musikerinnen spielten eine neue Melodie und Takait beugte sich so tief nach vorne, dass ihre Fingerspitzen und ihre Haare den Boden berührten. Bevor sie sich wieder aufrichten konnte brüllte der Sphinx zum dritten Mal. Er schüttelte dabei seinen Kopf so heftig, dass sich sein Kopftuch löste. Seine Mähne flatterte im Wind, der das riesige Tuch mit sich fortrug und in die Wüste wehte.
Hin- und hergerissen zwischen Furcht und Faszination schaute Johann von der Tänzerin zum Sphinx und wieder zurück. Peter stand reglos neben ihm. Er hatte nur Augen für Takait, die mit geschlossenen Augen ihren Tanz fortsetzte, der zunehmend akrobatisch wurde. Sie schlug eine Brücke und machte einen Handstand. Das geflochtene Haar fiel ihr ins Gesicht.
Warum versuchten die Priester nicht, den Sphinx zu bannen? Johann schaute sich auf dem Platz um, aber die Priester ließen sich nicht blicken. Nur zehn bis fünfzehn Einheimische und zwei der Kaufleute waren zusammengelaufen und wohnten mit weit aufgerissenen Augen dem schrecklichen Geschehen bei.
An Johanns Ohr drangen Geräusche, die ihn an einen Sandsturm erinnerten. Er gab sich einen Ruck und schaute noch einmal zurück. Was er nun sah ließ ihm das Blut in den Adern erstarren: Der Sphinx stand auf. Ganz langsam, als ob ihm dies körperliche Schmerzen bereitete, verlagerte er sein Gewicht auf seine Vorderpfoten und streckte sie durch. Er saß nun da wie ein Hofhund, auf den Hinterbeinen sitzend, aber hoch aufgerichtet. Seine Katzenaugen verengten sich zu Schlitzen und sein riesiger Schwanz peitschte nach rechts und links. Er wirbelte eine Sandwolke auf, die alles mit einer feinen Sandschicht bedeckte.
Laut kreischend sprangen die Musikerinnen auf. Takait rief ihnen tadelnde Worte nach, aber die Ermahnung verfehlte diesmal ihre Wirkung. Die Mädchen ließen ihre Musikinstrumente achtlos auf den Boden fallen. Spitze Schreie ausstoßend flüchteten sie sich in den Tempel.
Takait begann wieder zu tanzen, diesmal ohne Musik. Sie hob die Arme und ließ sie kreisen, wobei das Sistrum laut in einem monotonen Rhythmus klapperte. Sie warf ihren Kopf vor und zurück, zu einer Musik, die nur für sie selbst hörbar war. Das Klappern ihrer Rassel war das einzige Geräusch, das dieses gespenstische Szenario begleitete.
Wieder erschütterte ein Erdstoß die Oase. Palmen schwankten, Kamele brüllten, Kinder schrieen. Dann herrschte ganz plötzlich wieder Stille, aber nur für einen Herzschlag, bevor leichte Erschütterungen alles vibrieren ließen.
Der Sphinx brülle auf, offenbar von großen Schmerzen gequält. Immer noch blickte er zornig in die Runde, aber ganz langsam verebbte sein Gebrüll, wurde immer leiser, bis es völlig verstummte. Sein Schwanz und seine Hinterbeine begannen wieder zu versteinern. Gelbes Fell verwandelte sich kontinuierlich in Sandstein, bis der ganze Sphinx wieder eine aus dem Fels gehauene Skulptur einer großen Katze war.
Johann hatte erwartet, dass der Spuk nun vorbei sei, aber ein scharfes Geräusch, durchdringend wie ein Peitschenhieb durchschnitt die Luft. Risse bildeten sich auf der steinernen Oberfläche des Sphinxen. Laut knirschend zerbarst der Sandstein in mehrere Teile, die wiederum ganz langsam zerbröckelten. Große Felsbrocken zersprangen zu kleineren und auch dieser zerfielen unaufhaltsam.
Takait rief dem Sphinx etwas zu, aber sie sprach nur noch ins Leere. Dort, wo noch vor wenigen Augenblicken der Verteidiger Ägyptens gedroht hatte, erhob sich jetzt ein Sandberg, der unter dem eigenen Gewicht zusammensackte, bis er nur noch eine breite Düne übrig war.
Die Musikerinnen lugten aus dem Eingang des Tempels heraus, wohl angelockt vom Verstummen des Sistrums und von den Rufen Takaits, doch von den Priestern fehlte weiterhin jede Spur. Die Tänzerin warf den Mädchen einen finsteren Blick zu, während sie sich ihr weißes Gewand über den Kopf streifte. Sie wirkte erstaunlich gefasst für die tödliche Gefahr, die nur im letzten Augenblick abgewehrt worden war. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißperlen, aber diese war wohl dem Tanz zuzuschreiben und nicht der Angst.Â
Peter ging zu Takait und Johann schloss sich ihm an, schon um sicher zu sein, dass ihm nichts entging.
„Du hast uns gerettet“, erklärte Peter mit feierlicher Stimme, während er die Tänzerin bewundern ansah.
„Die Götter lieben den Tanz“, erwiderte Takait, noch etwas kurzatmig von der Anstrengung. Dabei ordnete sie mit großer Sorgfalt ihre schwarze Perücke. „Tefnut, die Löwengöttin hat sich einst in die Wüste zurückgezogen, wo sie durch ihre Wildheit Angst und Schrecken verbreitet hat. Die anderen Götter versprachen ihr, dass man sie durch Musik und Tänze unterhalten würde. Daraufhin hat sie eingewilligt, wieder in die Stadt zurückzukehren, wo sie sich in ein sanftes Mädchen verwandelte und ihre Löwennatur völlig aufgab.“
„Was haben die Musikantinnen eigentlich vorhin eigentlich gesungen?“, wollte Johann wissen, da er sich fragte, ob es sich um Zauberformeln gehandelt hatte.
„Für dich tönen die Trommeln, der Himmel und die Sterne. Für dich tönen die Trommeln über die ganze Erde. Für dich tanzen vor Freude die Tiere“, erklärte sie, „dies ist eine Hymne zu Ehren Hathors.“   Â
Unwillkürlich stieg vor Johanns innerem Auge das Bild von tanzenden Sphingen auf.
„Lass uns diesen Ort des Schreckens und des Todes verlassen“, entfuhr es ihm. „Ich habe genug von dieser Oase.“
„Der Tod ist überall“, entgegnete Takait düster.Â
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12. Das Labyrinth
Die geringe Abmessung der Karawanserei am Rande der Oase war ein Hinweis darauf, dass niemals Züge von mehr als maximal zwanzig Kamelen hier Unterschlupf suchten. Im Innenhof, der von Ställen, Lagergebäuden und Unterkünften umgeben war, saßen die müden Reisenden von ihren Dromedaren ab. Peter bemerkte, dass nicht alle Kaufleute sich mit den Einheimischen verständigen konnten und er lauschte auf den Klang der Sprache, derer sich die Oasenbewohner bedienten. Es handelte sich definitiv nicht um Arabisch, sondern die Laute ähnelten denen des Koptischen, das der alte Priester während der Messe gesprochen hatte.
„Was ist das für eine Sprache?“, wollte Johann wissen, der offenbar die gleiche Beobachtung gemacht hatte.
„Das ist Ägyptisch“, erwiderte Takait mit der größten Selbstverständlichkeit und Peter überlegte, was sie wohl damit meinte und er kam zu dem Schluss, dass man hier eine Sprache verwendete, die der der alten Pharaonen ähnlich. Schon wollte er Takait fragen, ob sie auch Arabisch sprach, als er sich daran erinnert, wie sie sich mit den Kaufleuten herumgestritten hatte. Â
Aber warum wunderst du dich darüber, dass sie Ägyptisch reden?, fragte Peter sich. Die altertümliche Sprache passt hervorragend zu den Gebäuden, die er aus der Ferne fassungslos bestaunt hatte. Nichts hatte ihn auf die fremdartige Welt vorbereitet, die er nun betreten würde: Nicht die reichlich vagen Warnungen des alten Priesters und auch nicht die konkreteren Schilderungen Takaits, die im Hause des Priesters von ihrer Heimat berichtet hatte. Als sie ihm erzählt hatte, dass man auf den Sobek-Oasen wie früher lebte, hatte er sich ein altmodisches ägyptisches Dorf ohne Gaslaternen und englische Tageszeitungen vorgestellt, aber keine halbnackten Bewohner, die gefältelte Schurze, weiße, plissierte Gewänder und Perücken trugen. Kein einziges Minarett einer Moschee ragte in den blauen Himmel und weit und breit waren keine Turbane zu sehen. Auch versteckten sich die Frauen nicht züchtig verschleiert im Inneren ihrer Häuser, sondern sie standen barhäuptig auf den Gassen und betrachteten die Ankunft der Karawane mit unverhohlener Neugier.
„Du erinnerst dich an alles, was ich dir erklärt habe?“, fragte Takait und Peter nickte automatisch, obwohl ihm nicht recht klar war, worauf sie hinauswollte.
„Dann braucht ihr mich ja heute nicht mehr“, stellte sie sachlich fest und bevor Peter – verblüfft wie er war – etwas erwidern konnte, hatte sie schon die Zügel ihres Kamels einem Stallknecht in die Hand gedrückt und war in der Menge verschwunden.
„Warum hat sie es denn so eilig?“, fragte Johann in einem beiläufigen Tonfall der vermuten ließ, dass er glaubte, dass sie im Auftrag des Bruders irgendetwas erledigte.
„Keine Ahnung“, erwiderte Peter und der Verdacht stieg in ihm auf, dass Takait ihn angelogen hatte, als sie versichert hatte, dass sie den Brüdern während der ganzen Reise als Dolmetscherin zur Verfügung stehen würde.
„Kommt sie bald wieder?“, wollte Johann wissen und er klang ernsthaft besorgt.
Peter zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß auch nicht mehr als du“, musste er zugeben und er ärgerte sich darüber, dass Johann ihm an allem die Schuld gab, was auf der Reise nicht wie geplant klappte.
„Also unter einem zuverlässigen Dienstboten stelle ich mir etwas anderes vor“, protestierte Johann, „und außerdem was soll diese Anspielung heißen, die sie eben gemacht hat? Ich meine, das mit dem sich an alles erinnern?“
„Hast du denn gestern Abend gar nicht zugehört?“, entfuhr es Peter und er bedauerte, den schlaftrunkenen Bruder, dem ständig die Augen zugefallen waren, nicht zur Aufmerksamkeit ermahnt zu haben, „Takait hat uns eingeschärft, dass wir morgen zuerst dieses Labyrinth durchqueren müssen, was angeblich weniger kompliziert ist als der Name des Baus befürchten lässt. Erst dann können wir im Tempel nach dem Oasenkrokus fragen.“
„Und die Mumie?“
Johann verdrehte die Augen und nur mühsam zwang er sich, ruhig zu bleiben.
„Das haben wir doch schon so oft durchgesprochen: Das Grab, in dem Vater die Mumie gefunden hat, befindet sich auf der zweiten Oase. Das ist die nächste Station der Reise. Leider besucht die Karawane dann noch die dritte und letzte Oase der Sobek-Gruppe, aber sie liegt, wenn ich das richtig verstanden habe irgendwie auf den Rückweg.“
„Und dann fahren wir endlich wieder nach Hause?“
Nach Hause zu der treulosen Anneliese, der ewig nörgelnden Mutter und der kleinen Schwester, die ihn ständig verpetzte? Peter stieß bei dieser unangenehmen Vorstellung einen leisen Seufzer aus.
„Selbstverständlich“, behauptete er trotzdem, um den Bruder zu beruhigen. Dann sagte er sich, dass er keine großen Pläne machen sollte, bevor sie wieder wohlbehalten nach Alexandria zurückgekehrt waren. „Ich würde gern den Ort besichtigen. Er scheint mir ein regelrechtes Freilichtmuseum zu sein. Du kommst doch hoffentlich mit?“
Es wäre eine Untertreibung gewesen, dass Peter fasziniert war. Seit der Rückkehr seines Vaters hatte er eine wahre Passion für das alte Ägypten. Und hier konnte er die uralten Riten, die in zerbröckelnden Papyroi beschrieben waren leibhaftig miterleben wie ein Bühnenstück.
„Wo wir schon einmal da sind, sollten wir uns das nicht entgehen lassen“, stimmte Johann ihm zu und so verließen die Brüder - nachdem sie ihr Gepäck im Lagerraum verstaut hatten – am späten Nachmittag die Karawanserei.
„Ich hoffe nur, die Kiste mit der Mumie ist sicher“, bemerkte Johann als sie das Eingangstor passierten.
„Der Verwalter des Warenlagers schien mir vertrauenswürdig zu sein“, versicherte Peter, „außerdem möchte ich nicht wissen, was diese Schmuggler so alles bei ihm verstauen. Diskretion ist daher ein wichtiger Teil seines Geschäftes.“
Der heiße Wind, der durch die Oase wehte, bewegte die Blätter der Palmen und fegte abgestorbene Zweige durch die Gassen.
„Ich wollte, es wäre nicht so windig“, beschwerte sich Johann, „Dieses Wetter machte mir Kopfschmerzen.“
„Auch ich finde den Wind lästig, aber wir sollten uns wenigstens die Gebäude schon mal von außen ansehen, bevor wir sie betreten“, erwiderte Peter, der sich fragte, warum der Bruder immer so ein Spielverderber war.
Vor ihnen lag ein eindrucksvolles Szenario: Granitstatuen von Löwen säumten den schnurgeraden Weg zur Pyramide eines Pharaos, dessen unaussprechlichen Namen sich keiner der Brüder merken konnte. Obwohl sie kaum höher war als die Pylone des Tempels erschien die Pyramide Peter wie ein Fels in der Brandung der Wüste, der den Himmel mit der Erde verband. Ihre Verkleidungsplatten aus hellem Kalkstein reflektierten das Sonnenlicht, während die Spitze der Pyramide aus schwarzem, poliertem Granit bestand.Â
Aus der Nähe betrachtet zeigte sich jedoch, dass sich die Kalksteinplatten zu lockern begannen. Einige waren bereits heruntergefallen und gaben den Blick frei auf ein Rahmenwerk aus Steinblöcken, dessen Zwischenräume mit ungebrannten Lehmziegeln gefüllt waren. Schon begannen die Ziegel zu zerbröseln. Sicherlich würde die, auf diese kostensparende Weise gebaute Pyramide der Zeit nicht solange trotzen wie die zu den Weltwundern zählenden Pyramiden von Gizeh.
Wann mochte die Pyramide der ersten Sobek-Oase wohl errichtet sein? Wahrscheinlich war sie keinesfalls Jahrtausende alt, wie Peter zuerst vermutet hatte, denn dann wäre sie bei ihrer schlampigen Bauweise bestimmt in einem noch viel beklagenswürdigeren Zustand. Johann hatte Recht gehabt: Das würde ihnen zu Hause niemand glauben. Warum nur hatten sie keinen Fotoapparat auf die Reise mitgenommen? Es lag bestimmt nur an ihrem überstürzten Aufbruch, dass Peter diese an und für sich nahe liegende Idee nicht in den Sinn gekommen war. Ob sich die nächtliche Besucherin des Bruders wohl hätte auf eine fotographische Platte bannen lassen? Bei der bloßen Vorstellung schauderte es Peter und er versuchte, sich wieder auf seine Umgebung zu konzentrieren. Â
Südlich der Pyramide befand sich das sogenannte Labyrinth, das dem Haupttempel vorgelagert war. Es handelte sich um einen Gebäudekomplex und nicht um einen Garten, wie Peter und Johann erwartet hatten.
Auf der nördlichen Seite der Pyramide blickte ein steinerner Sphinx mit weit aufgerissenen Augen auf die Skulpturenallee hinab. Er lag da wie ein überdimensionierter Löwe mit Zeremonialbart, auf dem Kopf ein steinernes Kopftuch von der Form wie es der Pharao getragen hatte.
„Was mag diese Sphinx wohl bewachen?“, fragte Johann und er klang leicht belustigt. „Und wozu der Aufwand ein Labyrinth in dieses selbst von den altägyptischen Göttern verdammte Wüstennest zu bauen?“   Â
„Man sagt der Sphinx, denn in Ägypten sind Sphingen männlich“, erklärte Peter, der über den mokanten Tonfall des Bruders verärgert war und es sich daher nicht nehmen ließ, diesen zu belehrte, „Takait hat gesagt, dass in der unterirdischen Grabanlage des Pharaos unermessliche Schätze liegen. Das dürfte der Grund für die Errichtung der Wächterskulptur gewesen sein.“
„Wahrscheinlich wird die Grabanlage von Bewaffneten bewacht“, erwiderte Johann nachdenklich, „wir sollten also morgen versuchen, ihr nicht zu nahe zu kommen.“
„Das hatte ich auch nicht vor“, stimmte Peter dem Bruder zu und dann schlenderten die Brüder noch eine Weile schweigend durch die schmalen Gassen des Ortes.
Nachdem Peter den ersten Schock darüber überwunden hatte, dass man in dieser Oase die altägyptischen Traditionen - einschließlich der heidnischen Religion - pflegte, bemerkte er einige Unterschiede zu den Darstellungen des Alltagslebens auf den ägyptischen Reliefs. Dies fing damit an, dass die Bewohner der Oase das Kamel kannten, das erst die Perser in Ägypten eingeführt hatten, weshalb man sich in Pharaonischer Zeit hatte mit Eseln behelfen müssen. Und es hörte damit auf, dass einige der Bewohner Arabisch untereinander sprachen. Dieses Bild wurde noch abgerundet von der Tatsache, dass niemand Notiz von den Brüdern nahm. Offenbar waren die Einheimischen an den Anblick von Nomaden und Kaufleuten gewöhnt, die in regelmäßigen Abständen ihre Oase besuchten.
Aber wahrscheinlich kamen sehr selten Europäer hierher? Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, so realisierte Peter bereits, dass sie in ihren Beduinengewändern in den Augen der Einheimischen nicht anders als die Nomaden aussahen.
Bei aller Faszination, die die Kultur der ersten Oase auf ihn ausübte, fand es Peter jedoch bedauerlich, dass er sich mit dem Besuch des Tempels noch gedulden musste, da er auf einen Bescheid Takaits wartete.
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Drei Tage später machten sich die Brüder dann endlich nach einem reichlichen Frühstück auf den Weg zum Labyrinth, aber Johann verstand noch immer nicht, warum sie dieses durchqueren sollten.
„Lass uns doch einfach außen um das Gebäude herumgehen!“, schlug er daher vor, „Das ist der kürzeste Weg zum Tempel und der ist doch wohl unser eigentliches Ziel.“
Peter zuckte hilflos mit den Schultern.
„Takait meint, dass es besser sei der Tradition zu folgen. Offenbar wird man in diesem Tempel nur empfangen, wenn man vorher das Labyrinth durchquert hat, was auch immer der Sinn dieser Sitte sein mag. Aber was wunderst du dich? Priester Menas hat uns ja gewarnt: In dieser Oase ist alles seltsam!“
Bei der bloßen Nennung des Namens Takait wurde Johann wütend. Zwar war sie am ersten Abend ihres Aufenthaltes gegen zehn Uhr zur Karawanserei zurückgekehrt, aber sie hatte Peter nur einige kurze Instruktionen gegeben – als ob sie die Herrin sei und er der Diener - und morgens beim Frühstück war sie schon wieder verschwunden und hatte sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Vielleicht erlaubte sie sich nur einen schlechten Scherz mit ihnen, als sie behauptet hatte, dass sie das Labyrinth durchqueren sollten? Das Labyrinth? Ganz plötzlich kam Johann ein beunruhigender Gedanke.
„Hoffentlich lauert in diesem Labyrinth kein Ungeheuer, wie der Minotaurus!“
Peter lachte.
„Minotauros heißt er korrekt! Du liest zuviel griechische Sagen! Und außerdem sind wir nicht auf Kreta.“
„Deshalb hilft uns auch keine Ariadne mit ihrem roten Faden“, ergänzte Johann, dem seine Furcht mittlerweile selbst albern vorkam. „Vielleicht sollten wir uns selbst einen Wollknäuel besorgen?“
„Ich glaube nicht, dass es den Einheimischen gefiele, wenn wir Fäden in ihren Gebäuden herumliegen lassen würden. Außerdem wollen wir nicht zum Ausgangspunkt zurückkehren, sondern auf der anderen Seite wieder herauskommen. Hast du wirklich alles verstanden, was ich dir heute Morgen beim Frühstück in der Karawanserei erklärt habe?“
Es wäre eine Lüge gewesen, wenn Johann diese Frage bejaht hätte, denn er hatte die Ausführungen des Bruders reichlich verworren gefunden.
„Dass wir immer rechts herum gehen müssen“, antwortete er daher etwas vage.
„Genau“, bestätigte Peter, „wenn wir uns stets an der rechten Wand halten, aber in bereits betretene Abzweigungen nicht noch einmal hineingehen, laufen wir alle Verzweigungen nacheinander ab. Wir lassen also auf diese Weise keine Abzweigung aus und müssten so über kurz oder lang zum Ende des Labyrinths gelangen.“
„Hast du dir das ausgedacht?“, fragte Johann, den dieses System mit großem Respekt erfüllte.
Peter schüttelte mit einem belustigten Gesichtsausdruck den Kopf.
„Nein, Takait hat mir das erklärt.“
Der heiße Wind, der durch die Oase fegte, verstärkte sich und trieb den Brüdern Sand ins Gesicht. Peter hielt im Schritt inne und Johann hörte das klägliche Miauen einer Katze. Es war ein besonders hübsches, geflecktes Tier, das geschwind den Stamm einer Palme hinaufkletterte und so wirkte als ob es vor etwas Angst hätte. Offenbar hatte der Bruder die Katze aus Versehen getreten, da wegen des Wüstenwindes einen Augenblick lang nichts gesehen hatte. Es war nur eine Frage der Zeit bis alles unter Wanderdünen verschwunden war: Der Sphinx, der Tempel und auch das Labyrinth.
„Ich frage mich ja ernsthaft, warum dieser Pharao sich hat in dieser trostlosen Oase begraben lassen“, sagte er zu dem Bruder, „über kurz oder lang erobert die Wüste diese Oase zurück.“
„Vielleicht liebte er die Einsamkeit“, schlug Peter vor, „oder er dachte, dass das Grab hier sicher vor Räubern ist.“
„Was nützt ihm dies, wenn sein Grab unter Wanderdünen begaben ist und das Bar seine Mumie nicht mehr finden kann“, wandte Johann ein, „In der Residenz des Pharaos, wo auch immer sie sich befunden haben mag, gab es sicher Tausende von Dienern, die den Sand hätten wegschippen können.“
„Die Residenz war bestimmt am fruchtbaren Ufer des Nils, wo es nicht so sandig ist“, informierte ihn Peter mit einem angespannten Gesichtsausdruck, weshalb sich Johann einen Kommentar über seine gewohnheitsmäßige Besserwisserei verkniff, der ihm schon auf der Zunge lag.
Sie näherten sich der Säulenreihe, die dem Labyrinth vorgelagert war. Die Kapitelle der anschwellenden Säulen glichen den Blüten der Lotosblumen im Wasserreservoir der Oase.
„Noch können wir umkehren“, wandte Johann ein, als er aus der Nähe erst richtig realisierte wie beängstigend groß das Gebäude war.
„Das hättest du dir vorher überlegen sollen“, erwiderte Peter enerviert. „Jetzt, nachdem wir die halbe Wüste durchquert haben um zu dieser Oase zu gelangen, gibt es kein Zurück mehr für uns.“
„Ich finde, dass die oder der Sphinx uns regelrecht anstarrt“, meinte Johann, der sich noch einmal umgesehen hatte, um sich die Richtung einzuprägen, in der sie das Labyrinth durchqueren mussten. „Man könnte meinen, dass er lebendig ist.“
Peter musterte den Sphinx mit einem nachdenklichen Blick. „Auch ich finde ihn ziemlich unheimlich“, gab er zu. „Takait sagt, ihr Volk liebt und fürchtet die Tiere wegen ihrer Stummheit, aber ich bin eigentlich dankbar dafür, dass diese Kreaturen nicht sprechen können“, fügte er hinzu und zeigte auf die Löwen, die rechts und links den Weg flankierten.
„Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie aus Stein sind“, erwiderte Johann, der diese Bemerkung ziemlich unlogisch fand.
Als er die Stufen hochstieg, die zur Vorhalle führten, konnte Johann sich des Verdachtes nicht erwehren, dass er einen großen Fehler machte. Vor dem Portal stand breitbeinig ein Ägypter mittleren Alters, der sich eine Leopardenhaut mit Tatzen und Schwanz um die Brust geschlungen hatte. Der strenge Blick aus seinen, von schwarzen Strichen umrahmten Augen ließ erkennen, dass er es nicht gewohnt war, dass man ihm widersprach. Um den Hals trug er ein breites, aus mehreren Reihen farbiger, meist blauer Perlen bestehendes Schmuckband. Kurz und gut, er sah aus wie eine lebendig gewordene Statue aus einer ägyptischen Sammlung.
Als Peter und Johann den Wächter erreicht hatten, hob dieser gebieterisch eine lange Standarte in die Höhe. Er sagte etwas auf Ägyptisch und Peter holte aus seinem Bündel eine Schriftrolle.
„Woher hast du das?“ fragte Johann leise, obwohl er die Antwort eigentlich schon kannte.
„Von Takait.“
Johann fühlte sich hintergangen.
„Davon hast du mir aber nichts gesagt, und überhaupt: Warum hast du Takait nicht überredet mitzukommen, wo sie alles besser weiß? Schließlich haben wir sie als Dolmetscherin angestellt.“
„Sie hat gesagt, dass wir allein das Labyrinth durchqueren müssen, wenn wir im Tempel empfangen werden wollen“, erwiderte Peter, während er dem Wächter die Papyrusrolle überreichte.
„Und was steht da drauf?“, wollte Johann wissen, als der Ägypter mit wichtiger Miene zu lesen begann.
„Weiß ich auch nicht, aber Takait hat gesagt, man würde uns einlassen, wenn wir dieses Dokument präsentieren.“ Â
„Und du hast nicht nachgefragt, was auf der Rolle steht? Wir verstehen kein Wort dieser Sprache. Der Text könnte genauso gut lauten: werft die beiden den Krokodilen zum Fraß vor oder Sie haben eine reiche Mutter, die für ihre Söhne jedes Lösegeld zahlt.“
Peter warf Johann einen irritierten Blick zu.
„In der Wüste gibt es keine Krokodile.“
„Vielleicht halten sie welche im Dorfteich!“
Der Mann im Leopardenfell hatte den Text mittlerweile studiert und betrachtete nun die Fremden wie zwei besonders hässliche Käfer. Johann fragte sich, ob es möglich war, dass er ihrer Unterhaltung hatte folgen können, aber er verwarf diesen Gedanken augenblicklich wieder, denn sie hatten Deutsch gesprochen.
Mit einem missbilligenden Gesichtsausdruck gab er Wächter Peter die Rolle zurück. Dabei murmelte er einige Worte, die für Johann wie „fahrt zur Hölle“ klangen, aber er machte ihnen den Weg frei, was Johann enttäuschte, denn er hatte gehofft, dass ihm der Eintritt in das Labyrinth verwehrt werden würde. Â
Die Luft des riesigen Raums, den die beiden Brüder nun betraten war erfüllt vom betörenden Geruch der Räucherstäbchen, die eine Schar von fliegenden Händlern vor dem Tempel verkaufte.
„Warum sind wir allein in dieser öden Steinwüste?“, fragte Johann und schaute sich irritiert um. „Ich habe erwartet, dass es hier nur so vor Besuchern wimmeln würde.“
„Das Labyrinth ist heute offiziell geschlossen. Takait hat uns eine Sondererlaubnis besorgt.“
Johann verzog bei der bloßen Nennung des Namens das Gesicht.
„Ich weiß nicht, was man hier unter einem Labyrinth versteht“, meinte er einen Augenblick später, „aber für mich sieht das aus, wie ein Palast.“
„Was hast du anderes erwartet?“, fragte Peter zurück, „schon von außen haben wir festgestellt, dass dies kein aus Buchsbaumhecken geschnittenes barockes Labyrinth ist.“ Â
Johanns Blick blieb an den feinen Reliefs haften, die die Wände bedeckten. Eine riesige Kuh war darauf zu sehen, darüber der Sternenhimmel, eine Mumie, ein Mann, der einer Frau einen Kringel vor die Nase hielt und immer wieder Menschen mit Tierköpfen, sie hatten Köpfe von Löwen, Köpfe von Schakalen und sogar Köpfe von Krokodilen. Dies waren die heidnischen Götter, die man hier noch immer verehrte. Was würde wohl die mittlerweile recht fromme Mutter bei diesem Anblick sagen? Â
An die Halle schloss sich ein langer Raum an, in den mehrere Reihen von dicken Säulen eingestellt waren, in deren Schäften Prozessionen von tierköpfigen Göttern eingemeißelt waren. Auf die Wände waren Figuren mit Kreisen auf dem Kopf aufgemalt und über ihnen Räder mit vielen Speichen.
„Wenigstens besteht bisher keine Gefahr, dass wir uns verlaufen“, bemerkte Johann mit einem Anflug von Galgenhumor.
Tatsächlich war die Raumabfolge klar und logisch. Hier gab es keine Seitenkammern und dunklen Gänge und alles war von strenger Symmetrie und Axialität.
Am anderen Ende des langen Raumes tat sich ein schummriger langer Saal auf, von dem zu beiden Seiten Korridore durch halbhohe Wände abgetrennt waren. Wortlos betrat Peter den rechten Seitentrakt und Johann trottete ihm nach. Am Ende des Gangs gelangten sie wieder in den Hauptraum.
Es folgte ein Hof mit überdachten Säulengängen, dessen Boden mit dunklem Basalt gepflastert war. Die Säulen standen sehr eng. Sie endeten in grünbemalten Kapitellen, die wie Pflanzen aussahen und die dem Raum die Erscheinung eines schilfbestandenen Flussufers gaben. Wieder durchquerten die beiden Brüder nicht den Hauptraum, sondern hielten sich rechts der Säulen.
Dann betraten sie einen kleinen Raum, der mit flachen Reliefs geschmückt war, auf denen in mehreren übereinander geordneten Registern Alltagsszenen abgebildet waren, wie Bankettszenen und das Schlachten von Tieren. In der Mitte des Raumes stand eine kleine Barke. Von der rechten Wand zweigte ein Flur ab, an dessen Ende eine Tür offen stand, auf die Peter zielstrebig zuging.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, fuhr Johann Peter an. Das hatte er noch nie getan, in all den Jahren und er erschrak vor seiner eigenen Heftigkeit. „Siehst du nicht, dass diese Tür gewaltsam geöffnet worden ist?“, fügte er etwas freundlicher hinzu.
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Peter sah es, aber dies erregte gerade seine Neugier, denn seit er bemerkt hatte, dass er quasi in die pharaonische Zeit zurückgereist ist, dreht sich seine Phantasie nur noch um die Schatz, die hier noch nicht vergraben waren und um die Kunstgegenstände, die die Handwerker der Oase sicherlich weiterhin produzierten.
„Wer weiß, wie lang das her ist, dass die Tür geöffnet worden ist. In der trockenen Luft der Wüste bleibt alles jahrhundertelang frisch wie am ersten Tag“, erklärte er dem Bruder, „außerdem hat man uns offiziell gestattet, das Labyrinth zu betreten und ich sehe an der Tür kein Verbotsschild.“
„Warum gehen wir nicht einfach weiter?“, drängte Johann. „Das ist bestimmt nur der Dienstboteneingang, der zur Küche führt. Wir sind schließlich nicht verpflichtet, ständig nach rechts zu gehen, sondern wir wollen den verfluchten Bau so schnell wie möglich wieder verlassen.“
Peter schreckte auf seinen Gedanken auf. Hatte Johann eben tatsächlich Küche gesagt?
„Du denkst aber auch immer nur ans Essen“, rügte er seinen Bruder. „Hier gibt es bestimmt nichts so Banales wie eine Küche!“
„Ich will nicht nur daran denken“, maulte Johann, „wenn wir um den Bau herumgegangen wären, so wären wir längst am Ziel“.
Ohne auf die Bemerkung des Bruders einzugehen, durchschritt Peter so ruhig wie auf einem Abendspaziergang den Korridor, der hinter der Tür lag und Johann folgte ihm so nervös wie kurz vor dem Examen.
„Außerdem ist es wichtig, dass wir immer rechts herum gehen“, fügte Peter zur Beruhigung des Bruders hinzu, „das hat Takait mir eingeschärft.“
Johann zuckte beim Klang dieses Namens sichtbar zusammen, aber er gab keinen Kommentar ab.
Der Flur endete in einer überwölbten Kammer, von der rechts ein langer abschüssiger Weg abzweigte, der von schlitzartigen Fenstern nur spärlich erleuchtet wurde. Die farbigen Wandreliefs zeigen Gefangene verschiedener Nationalität, sowie Angehörige unterworfener Völker, die dem Pharao Gegenstände präsentierten. Wahrscheinlich handelte es sich um Tributzahlungen. Unter den Würdenträgern befanden sich ein Zwerg und einige Afrikaner. Obwohl sie ihn zunehmend faszinierten, warf Johann nur einen kurzen Seitenblick auf die Reliefs, denn er musste sich beeilen, um mit Peter Schritt zu halten. Â
„Mir gefällt das einfach nicht, dass wir durch diese Tür gegangen sind“, rief er ihm nach. „Wir haben hier nichts zu suchen.“
„Stell dich nicht so an.“ erwiderte Peter, obwohl auch er sich mittlerweile fragte, was dies für eine merkwürdige Anlage war, aber er wollte dies dem Bruder gegenüber nicht zugeben.
Er stieg eine Treppe hinab. In ihre Wände waren Gabenträgerinnen und Tänzerinnen gemeißelt, die ebenfalls die Stufen hinunterzugehen schienen.
„Lass uns doch umkehren“, rief Johann ihm geradezu flehendlich nach.
Doch Peter ließ sich nicht beirren. Ohne sich nach Johann umzudrehen, der wieder einmal nicht Schritt halten konnte, durchquerte er den Raum und ging dann durch einen schmalen Gang, der abrupt abknickte. Nun sah er vor sich einen erleuchteten Raum und folgte dem Weg immer weiter, immer auf das Licht zu, denn er hoffte dort einen Ausgang aus dem Labyrinth zu finden. Zunehmend erinnerte Peter die Szenerie an einem Kerker, aber er ermahnte sich selbst nicht so ängstlich zu sein.
Die Brüder gingen unter einem massiven Portal hindurch und gelangten in einen von Fackeln erleuchteten Gang, der so steil nach unten führte, dass er gerade noch bequem begehbar war. Die in Pech getauchten Holzfackeln waren halb abgebrannt, woraus Peter folgerte, dass sie vielleicht momentan die einzigen lebenden Wesen in diesem Reich aus Granit und Rosenquarz waren. Peter erwog ernsthaft umzukehren, aber er konnte sich nicht überwinden, dem Bruder diesen Gefallen zu tun, der die ganze Zeit lamentierend hinter ihm hergetrottet war.
Der Schein der Fackeln warf wild flackernde, verzerrte Gebilde an die Wände und Peter meinte Schritte zu hören. Mit angehaltenem Atem lauschte er, aber er hörte nichts mehr. Er musste sich getäuscht haben. Also folgte er weiterhin dem Gang, der kontinuierlich abwärts führt.
Eine aberwitzige Hoffnung packte ihn. Wie von selbst stieg vor seinem inneren Auge das Bild der Grabkammer des Pharaos mit ihren unermesslichen Schätzen auf. Noch niemals war ein Grab eines Pharaos entdeckt worden, das nicht ausgeraubt worden war. Vielleicht war er der ersten, dem dies gelang? Peter verwarf diesen Gedanken wieder. Zugegeben: die erste Tür war eingeschlagen gewesen, aber das konnte auch der Kellermeister gewesen sein, der den Schlüssel vergessen hatte und zu faul gewesen war um zurückzugehen, aber nein, hatte er nicht selbst vorhin Johann mitgeteilt, dass es sicher im Labyrinth weder Küche noch Weinkeller gab?
Der Gang knickte mehrmals ab und dann verzweigte er sich. Hoffentlich hatte Takait recht mit ihrer Immerrechtsrumtheorie! Nach einer Biegung weitete sich der Korridor zum doppelten seiner vorherigen Breite. In seine dicken Mauern waren Nischen eingetieft. Jede zweite von ihnen war mit einem Teppich mit der Darstellung eines ägyptischen Gottes verhängt.
„Ideal um dahinter einen Liebhaber zu verstecken“, bemerkte Johann und Peter stellte erstaunt fest, dass der Bruder ganz plötzlich eher neugierig als ängstlich wirkte.
Am Ende des Korridors überstrahlte ein mit Fackeln erleuchteter Raum die Dunkelheit und wieder dachte Peter an Goldschätze und Antiquitäten. Er stutzte und blieb abrupt stehen. Waren da nicht Stimmen? Er lauschte und die Vermutung wurde zur Gewissheit. Diesmal hatten ihm seine Sinne keinen Streich gespielt, aber die Stimmen waren sehr leise und Peter war auf Vermutungen angewiesen, wem sie gehören mochten. Langsam wurden die Stimmen lauter. Offensichtlich kamen ihre Besitzer ihnen entgegen. Wahrscheinlich handelte es sich um Priester oder um Beamte, die hier arbeiteten. Selbst Johann hatte sich vorhin gewundert, dass sich in der ausgedehnten Anlage keine Menschenseele befand.Â
Peter wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als der Bruder ihn ohne ein Wort zu sagen mit beiden Händen von hinten an den Schultern packte und ihn hinter den nächsten der Vorhänge schob. Peter war so überrascht, dass er es geschehen ließ. Die Nische war kaum groß genug, um zwei Personen aufzunehmen. Peter wollte protestieren, aber Johann legte den Zeigefinger auf die Lippen und flüsterte: „Lass uns warten bis diese Leute da vorn an uns vorbeigegangen sind. Es sind wahrscheinlich die Männer, die die Tür eingetreten haben.“
„Aber…“
„Nichts aber!“, unterbrach der Bruder, „Hör wenigstens einmal in deinem Leben auf mich.“
Es waren inzwischen zwar keine Stimmen mehr zu hören, aber Schritte, das leise Tappen von sandalenbeschuhten Füßen auf dem Steinboden des Labyrinths. Die Schritte kamen immer näher und hatten schließlich den Korridor erreicht.
Mit angehaltenem Atem lugte Peter vorsichtig hinter dem Spalt zwischen Vorhang und Wand hervor. Er erwartete wichtigtuerische Beamte zu sehen oder Wächter, die das Labyrinth patrouillierten, aber ein ganz anderes Bild bot sich seinen Augen dar: Drei ungewaffnete Ägypter, zwei kleine Dicke und ein langer Dünner schleppen eine Kiste, genauer gesagt ließ der Dünne die beiden anderen schleppen. Diese Truhe war so schwer, dass sie nur langsam vorankamen.
Grabräuber!, dachte Peter. Sie kamen ihm merkwürdig bekannt vor, aber er wusste nicht, wo er sie einordnen sollte.
Kurz vor der Nische, in der sich die Brüder versteckt hatten, blieben die Männer stehen. Sie reden alle zugleich aufeinander ein. Ihren Stimmen waren laut und ihre Gesichter von Wut verzerrt. Offensichtlich warfen sie sich gegenseitig Schimpfwörter an den Kopf. Gab es schon jetzt Unstimmigkeiten beim Verteilen der Beute? Peters Puls raste und er verfluchte den Umstand, dass er kein Wort verstand. Der Streit wurde immer heftiger. Dann griff einer der beiden Träger den Höhergestellten ganz unvermittelt an und es kam zu einem Handgemenge, in dem sich zeigte, dass der dünne Ägypter kräftiger war als er aussah.
Der andere Träger kippte den Deckel der Truhe um. Er griff hinein, holte ein Alabastergefäß heraus, näherte sich von hinten den Kämpfenden und erhob seinen rechten Arm. Fast hätte Peter laut aufgeschrieen, um das Opfer zu waren, aber es war bereits zu spät dazu. Mit einem dumpfen Geräusch traf der Schlag des Trägers seinen Auftraggeber hinter dem Ohr. Statt eines Schreis kam aus dessen Kehle nur ein leises Gurgeln. Dann kippte er ganz langsam nach hinten und schlug mit dem Kopf hart auf den Boden auf. Seine starren Gesichtszüge, die die Fackeln schaurig beleuchteten, ließen keinen Zweifel daran, dass der Mann tot war.
Die beiden dicken Ägypter blickten einander wortlos an. Einer zuckte mit der Schulter. Der anderen machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann hoben sie die Truhe hoch und gingen weiter als ob nichts geschehen wäre. Allerdings schleppten sie nun ihre Last mit weit höherer Geschwindigkeit als zuvor.
Peter war zutiefst schockiert. Er hatte tatenlos mit angesehen, wie ein Mensch heimtückisch ermordet wurde und es stand zu befürchten, dass der Mörder niemals für seine Tat zur Rechenschaft gezogen werden würde. Sprachlos vor Schreck drehte Peter sich nach Johann um, der offensichtlich ebenfalls Zeuge des Verbrechens gewesen war, denn sein Gesicht war noch bleicher als das des Toten.
„Ich wusste doch die ganze Zeit, dass wir einen Fehler begangen haben“, flüsterte Johann ihm vorwurfsvoll zu, „Wer sonst hätte die Fackeln anzünden sollen, außer Grabräubern?“
Peter ärgerte sich über den Bruder, der dieses Argument vorher keinesfalls ins Spiel gebracht hatte. Peter jedenfalls hatte keinen Augenblick lang an Einbrecher gedacht.
„Das hast du vorhin aber nicht gesagt!“, zischte er zurück und verließ sein Versteck, denn er wollte den Raum in Augenschein nehmen, aus dem die Räuber gekommen waren. Vielleicht hatten sie nicht die gesamte Grabausstattung geplündert und noch einige Antiquitäten für sie übrig gelassen.Â
„Komm zurück!“, rief ihm Johann verärgert nach. „Wenn der Korridor dort weiterginge, wären die Räuber nicht zurückgekommen.“
Warum musste der Bruder so ein Angsthase sein?“, dachte Peter und setzte seinen Weg unbeirrt fort. Hinter sich hörte er die Schritte seines Bruders, der ihm folgte. Mit Erleichterung bemerkte Peter am Ende des Korridors eine weitere Nische mit Vorhang, hinter dem er sich im Zweifelsfall verstecken konnte.
Dann blieb er abrupt stehen, so überraschend war der Anblick, den das Innere der Kammer bot. Inmitten von Möbelstücken mit offen stehenden Türen, auf den Boden geworfenen Waffen und silbernem Geschirr lag das goldene Abbild eines Pharaos. In seinen, über der Brust überkreuzten Armen hielt er zwei Szepter. Ein vergoldeter Thron war umgestürzt, genauso wie eine Art Schrein, sowie die bemalten Holzstatuen von Tieren. Zu beiden Seiten der Schwelle lagen eine große Zahl von Alabastergegenständen und lebensechte Abbilder von Mistkäfern blauem Stein. Doch ehe Peter auch nur die Schwelle des Raums überschritten hatte, packte ihn Johann erneut am Arm.
„Wir müssen uns verstecken!“, erklärte er mit Nachdruck, „Sie kommen zurück.“
Nun hörte auch Peter die herannahenden Schritte und Stimmen. Mit einem unterdrückten Fluch flüchtete er sich in die nächste Nische, wo der Bruder ihm bereits den Vorhang aufhielt.
Ihn packte die Panik. Hatten die Mörder ihre Stimmen gehört und waren daher an den Ort ihres Verbrechens zurückgekehrt? Warum führten sie keine Waffen mit sich? Starr vor Angst wagte es Peter diesmal nicht, hinter dem Vorhang herauszulugen, aber der leichte Schritt der beiden Räuber ließ vermuten, dass sie ihre Beute im Gang hatten liegen lassen. Wahrscheinlich hatte ihre unersättliche Gier sie in die Grabkammer zurück getrieben. Sie kamen um weitere Schätze zu rauben und Peter ärgerte sich, dass sie ihn davon abhielten, sich auch ein kleines Stück des Kuchens zu sichern. Dabei hatte er es weit mehr als diese Banausen verdient, ägyptische Kunstwerke zu besitzen, denn er wollte sich an ihnen erfreuen und sie nicht an den nächsten Hehler verscherbeln.
Im gleichen Augenblick begann der Boden unter seinen Füßen zu wackeln. Ein Edbeben!, durchfuhr es Peter. Gab es so etwas in Ägypten? Ausgerechnet jetzt, ich sie in einem Korridor tief unter der Erde waren!. Peter wäre am liebsten weggerannt, aber dann würde er den Mörder in die Arme laufen! Es waren glücklicherweise nur wenige Erdstöße, aber das Vibrieren des Bodens ging Peter durch Mark und Bein.
Laute Schreie drangen durch die Dunkelheit. Sie wurden übertönt von einem knirschenden Geräusch, als ob ein großer Stein über den Boden gezogen würde, gefolgt von einem lauten Grollen, das an eine Lawine erinnerte. Der aufgewirbelte Staub flog bis in die Nische, in der sich die beiden Brüder versteckt hatten. Dann herrsche ganz plötzlich eine geradezu bedrückende Stille.
Ganz langsam und vorsichtig schob Johann den Vorhang leicht zur Seite, sodass er durch einen Spalt hinausschauen konnte. Peter stellte sich hinter dem Bruder auf die Zehenspitzen, um einen bessere Sicht in den Korridor zu haben.
„Das musst du dir ansehen!“, rief Johann entsetzt aus, den Vorhang gänzlich aufreißend und auf die Kammer deutend.
Nun sah auch Peter, was den Bruder zu erschreckt hatte: Der Zugang zur Kammer war geschlossen. Dort, wo sich noch vor wenigen Augenblicken ein beeindruckendes Portal mit mächtigem Sturz aus weißem Kalkstein befunden hatte, stand jetzt ein schwarzer Monolith. Offensichtlich war eine riesige Steinplatte nach unten geglitten, deren größter Teil in der Decke verborgen gewesen war. Was mochte diesen Mechanismus ausgelöst haben? Das Erbeben oder die Räuber, die in die Kammer eingedrungen waren?
„Gut, dass sie uns verjagt haben“, murmelte Johann mit vor Schreck bebenden Lippen, „sonst wären auch wir jetzt in dieser Gruft gefangen.“
Peter nickte und ihn plagte zunehmend ein schlechtes Gewissen, dass er so leichtsinnig gewesen war.
„Wir kehren besser um, ehe uns der ganze Bau über dem Kopf zusammenkracht“, stimmte er dem Bruder zu.
Der Gang, dem die beiden folgten, machte einen Knick und dahinter stand die Truhe, die die beiden Räuber im Stich gelassen hatten, um in die Grabkammer zurückzukehren. Wie konnte ich die Schatzkiste vergessen?, dachte Peter, nun kann ich mir doch noch einige schöne Stücke für meine Sammlung sichern. Seine Schritte beschleunigten wie von selbst bis er fast rannte. Johann folgte ihm und schaffte es, ihn zu überholen. Er stellte ihm in den Weg.
„Bis hierher und nicht weiter! Du wirst die Truhe nicht anrühren. Der Krach der einstürzenden Kammer war so ohrenbetäubend, dass ihn oben alle gehört haben müssen. Mittlerweile hat sich bestimmt die komplette englische Armee vor dem Labyrinth versammelt. Denk dran, wir sind Fremde in einem Land, dessen Sprache und Gebräuche wir nicht verstehen.“    Â
In diesem Augenblick hasste Peter Johann geradezu. Trotzdem musste er widerwillig zugeben, dass dessen Worte nur allzu vernünftig klangen. Mehr tot als lebendig ließ er sich an der Truhe vorbeischleifen, obwohl ihm der Gedanke an deren Inhalt fast das Herz brach. Nur die Angst vor neuen Erdstößen bewirkte, dass er nicht darauf bestand, sich wenigstens die Taschen mit ein paar Skarabäen zu füllen.
Als er das Portal durchschritten hatte, das den Korridor mit dem nächsten Saal verband, drehte er sich um, um einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Truhe zu werfen.
„Konnte ich nicht wenigstens ein kleines….“
Der Satz blieb ihm im Halse stecken, denn im gleichen Augenblick gab es ein leichtes Nachbeben. Die Fackeln im Gang flackerten und drohten zu verlöschten. Ein weiteres, winziges Zittern folgte, danach war es wieder still, aber ein neuer Schrecken folgte: Vor Peters ungläubigen Augen senkte sich die Decke des Korridors langsam zum Boden hinab.
„Was, um Gottes Willen hat dies jetzt schon wieder zu bedeuten?“, entfuhr es ihm.
„Renn, so schnell du kannst!“ rief Johann entsetzt aus. „Das Labyrinth stürzt ein!“
Auch Peter fühlte erneut Panik in sich aufsteigen. Daher widersprach er nicht und so rannten die Brüder keuchend durch den langen, verzweigten Korridore, in dem ihre Schritte schaurig widerhallten. Dies war ziemlich kräftezehrend, da dieser Gang kontinuierlich anstieg. Trotz aller Eile mussten sie immer wieder innehalten, weil sich Wege abzweigten und die Brüder nachdenken mussten, welchen Pfad sie auf dem Hinweg gefolgt waren. Johann musste sich widerwillig eingestehen, dass sie dies überhaupt nur rekonstruieren konnten, weil sie sich auf dem Hinweg konsequent immer rechts gehalten hatten.
Schließlich erreichten sie den erleuchteten Saal, der spätestens hätte ihren Argwohn wecken sollen. Johann blieb einen Augenblick lang schwer atmend stehen und massierte mit beiden Händen die schmerzenden Knie.
„Wir müssen weiter“, wollte Peter ihm zurufen, aber er war selbst völlig außer Atem und es gelang ihm nur mit Mühe, den Satz zu artikulieren.
„Ich weiß“, antworte Johann keuchend und machte sich widerwillig wieder auf den Weg.
Es folgte der schmale, mehrfach abknickend Gang und dann die lange, steile Treppe. Diesmal war Peter bei deren Anblick kurz davor aufzugeben und Johann gab ihm einen aufmunternden Klaps auf den Rücken. Peter sah, dass das hochrote Gesicht des Bruders fast die Farbe seines Haars angenommen hatte. Er nahm die erste Stufe und mit einem leisen Seufzer folgte Peter ihm. Sie steigerten das Tempo und stürzten die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend, stolperten aber mehrfach vor Eile. Auf den Reliefs der Wände schritten ihnen Gabenträgerinnen und Tänzerinnen anmutig entgegen, in zeitloser Schönheit gebannt in den Stein. Peter musste an Takait denken und fühlte sich von ihnen geradezu verspottet.Â
Endlich folgte die überwölbte Kammer, dann der letzte der schmalen Flure und die Stelle, an der sie vom Hauptweg abgekommen waren lag zum Greifen nah vor ihnen. Wahrscheinlich hatte der Rückweg nur wenige Minuten gedauert, aber Peter waren sie wie Stunden erschienen.
Vor Anstrengung zitternd und um Atem ringend durchschritten die Brüder die gewaltsam geöffnete Tür und wären fast mit den letzten Menschen, die Labyrinth ausgeharrt hatten, zusammen gestoßen. Peter blieb im letzten Augenblick stehen, als er mit Schrecken realisierte, dass sich hinter der Türöffnung sieben glatzköpfige Priester breitbeinig aufgebaut hatten. Offenbar erwartete man sie. Mit versteinerten Gesichtern starrten sie die Fremden feindselig an. Peter fragte sich, ob das Labyrinth in Wahrheit eine Art Tempel war oder ob der Lärm der einstürzenden Kammern die Priester des benachbarten Tempels herbeigelockt hatte.
„Wir haben uns nur verlaufen“, erklärte Johann in einem entschuldigenden Tonfall.
„Sie verstehen uns nicht“, erwiderte Peter, der sich über sich selbst ärgerte, dass ihm nichts einfiel, was sie retten könnte.
„Gewöhn dir doch endlich ab, mich wie ein Kind zu behandeln“, protestierte der Bruder, „du kannst dir doch denken, dass mir dies nur so herausgerutscht ist.“
Da ihm nicht Besseres einfiel stülpte Peter seine Taschen um, damit die Priester sehen konnten, dass sich nichts darin befand, was dem Labyrinth, dem Tempel, den Priestern oder irgendeinem toten Pharao gehörte.
„Jetzt siehst du, dass ich Recht hatte! Wenn du etwas mitgenommen hättest, bekämen wir jetzt einen riesigen Ärger“, meinte Johann und tat es ihm gleich.
Er hat mir das Leben gerettet, durchfuhr es Peter und er fragte sich, warum die Priester offenbar nicht von dem Erdbeben
 beunruhigt waren. Statt sich in Sicherheit zu bringen, durchbohrten sie die Brüder noch immer schweigend mit Blicken, was Peter noch bedrohlicher fand als ihren Zorn.
Ein griesgrämiger, hagerer Priester, der trotz seines fortgeschrittenen Alters kein Leopardenfell trug musterte die beiden Eindringlinge mit gerunzelter Stirn. Dann brach er endlich das Schweigen. Er hatte eine tiefe, wohlklingende Stimme, aber dies trug auch nichts dazu bei, dass die Brüder sie verstanden.
Wieder versuchten beide mit Gesten zu demonstrieren, dass sie nichts mitgenommen hatten, aber der Priester gab nicht zu erkennen, ob er sie verstand, sondern redete noch eine Weile mit ernster Miene auf sie ein. Dann endlich erkannte er, dass dies nichts fruchtete und er bedeutete den Brüdern, dass sie ihm folgen sollten. Sie durchquerten weitere Raumfluchten und Peter dachte, dass sie so wenigstens den schnellsten Weg aus dem Labyrinth gewiesen bekamen, bevor die Erde wieder zu beben begann.
Endlich verließen sie den riesigen Bau und gelangten auf einen kleinen, mit quadratischen Steinen gepflasterten Hof. Er wurde hinten von der Schmalseite des Tempels begrenzt, dessen Eingang von zwei kolossalen Steinskulpturen bewacht wurde, die einander die Hand gaben, als wollte sie einen Wettbewerb im Armdrücken veranstalten. In die riesigen, glatten Flächen der Pylone waren versenkte Reliefs eingemeißelt, auf denen eine überdimensionierte die Figur eines Pharaos zu sehen war, die mit einer Keule eine ganze Armee von Feinden bekämpfte. Winzige Figuren flüchteten in wilder Panik nach allen Seiten, aber sie konnten der Allmacht ihres Gegners nicht entkommen. Diese Fassade war geschaffen um zu beeindrucken und diesen Eindruck erreichte sie auch, wie Peter neidlos zugeben musste.
Eine junge Frau kam aus dem Portal, sicherlich angelockt von dem Aufstand vor dem Tempel. Erst auf den zweiten Blick erkannte Peter Takait, die Frauengewänder und eine Langhaarperücke mit Zöpfchenfrisur trug. Ihre großen, melancholischen Augen waren mit schwarzer Farbe umrahmt. Auch die Augenbrauen waren mit schwarzen Strichen nachgezogen. Reichgegliederter Hals- und Brustschmuck zeugte vom Reichtum des Tempels und unterstrich die Schönheit seiner Trägerin. Peter wäre ihr vor Erleichterung am liebsten um den Hals gefallen, denn wenn irgendjemand sie noch retten konnte, so war dies Takait. Trotzdem war Peter über ihre exotische Aufmachung befremdet. Warum hatte sie niemals gesagt, dass sie Priesterin war?
Takait ging lächelnd auf die Priester zu und richtete einige Worte an sie. Doch die Ägypter widersprachen ihr heftig und zeigten dabei anklagend sie auf die beiden Fremden. Takaits Gesicht wurde ganz plötzlich hart und ihr Blick musterte die Brüder kritisch.Â
„Habt ihr das Grab des verehrten Pharaos beraubt?“, fragte sie schließlich mit ernster Stimme.
Peter schrak zusammen, nicht weil er ein schlechtes Gewissen hatte, sondern weil er vor lauter Aufregung völlig vergessen hatte, dass Takait Deutsch sprach.
„Nein, natürlich nicht!“, beteuerten Peter und Johann wie aus einem Munde.
„Wir haben nichts gestohlen“, präzisierte Johann, „wir haben uns verlaufen und sind zufällig in der Grabkammer gelandet, weil jemand die Tür hat offen stehen lassen.“
Takait übersetzte und Peter wartete innerlich darauf, dass die Priester fragten, warum sie nicht draußen geblieben waren.
„Sie haben ihre gerechte Strafe erhalten“, fügte er daher hinzu, um die Priester von dieser Frage abzulenken. „Zuerst haben die beiden Träger ihren Auftraggeber erschlagen und dann ist die Grabkammer eingestürzt und hat die beiden anderen Räuber unter sich begraben.“
Takait nickte nachdenklich, während die Priester weiterhin mit zornigen Gesichtern auf sie einredeten. Mit sanftem Gesichtsausdruck antwortete das Mädchen und Peter bedauerte außerordentlich, dass er nicht verstand, was sie sagte, denn langsam begriff er, warum der Bruder ihr nicht über den Weg traute. Er hatte bisher angenommen, dass Johann eifersüchtig war, weil er nicht mehr Peters ungeteilte Aufmerksamkeit besaß. Â
„Hoffentlich schlägt sie nicht vor, dass man uns den altägyptischen Göttern opfert“, flüsterte Johann ihm zu und Peter vermochte nicht zu sagen, ob dies ein Scherz sein sollte.Â
Noch immer schimpften die Priester, die von gleichem Rang zu sein schienen, denn sie sprachen alle auf einmal. Wild gestikulierend argumentierten sie mit Takait und warfen dabei von Zeit zu Zeit den Brüdern vielsagende Blicke zu. Takait antwortete stets mit einer ruhigen, geradezu hypnotischen Stimme. Schließlich hatte sie die Priester überzeugt oder ihnen fiel zumindest nichts mehr ein. Jedenfalls verstummten sie ganz plötzlich, standen auf weiterhin in der Pose unverhohlender Ablehnung vor dem Portal.
Takait machte eine einladende Handbewegung in Richtung Tempel.
„Tretet ein!“, sagte sie mit einem etwas einstudiert wirkenden Lächeln. „Ich habe mich schon gefragt, warum ihr solange gebraucht habt und was das für ein Aufruhr im Labyrinth war.“
Dann drehte sich um und durchschritt mit langsamen, gemessenen Bewegungen das Tempelportal.
Die Priester starrten Takait zornig nach, aber sie schienen vor soviel Hartnäckigkeit resigniert zu haben, denn sie ließen die Brüder ungehindert eintreten. Peter hatte erwartet, dass sie ihnen folgen würden, aber die Priester blieben wie angewurzelt vor dem Eingang des Labyrinths stehen. Durften sie ihre Wirkungsstätte nicht verlassen oder lauerten im Tempel neue Gefahren auf sie?
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11. Durch die Wüste
Schon seit über einer Stunde schaute Johann angestrengt aus dem einzigen Fenster des Hauses, von dem aus man die Gasse überblicken konnte. Es beunruhigte ihn zutiefst, dass der Bruder und Priester Menas noch immer nicht aus diesem obskuren Schmugglernest zurückgekehrt waren, obwohl sie versprochen hatten bei Anbruch der Dämmerung wieder da zu sein. Johann malte es sich mittlerweile bereits In den schwärzesten Farben aus, wie man sie ermordet hatte oder als Geiseln in einer üblen Spelunke festhielt. Sicherlich verlangte bald irgendein Schurke ein astronomisch hohes Lösegeld für sie. Schon machte sich Johann mit dem Gedanken vertraut, dass er am Morgen das deutschen Konsulat einschalten würde, als der Schein von drei Fackeln ankündigte, dass jemand in die Gasse eingebogen war, aber leider kam im gleichen Augenblick ein Gruppe junger Männer aus dem Nachbarhaus, sodass Johann die Gesichter der drei Neuankömmlingen nicht erkennen konnte, zumal diese nahe an den Mauern entlanggingen. Â
Die Haustür wurde aufgeschlossen und einen Augenblick lang erwog Johann die Möglichkeit, dass man dem alten Priester seine Schlüssel geraubt hatte. Dann atmete er erleichtert auf, denn durch die Türöffnung schoben sich keine Piraten mit Augenbinde, Holzbein und Papagei auf der Schulter, sondern die massige Gestalt des Priesters, die schlankere des Bruders und ein Junge von etwa sechzehn Jahren. Er trug das helle Gewand der Beduinen, das sich von der farbigen Kleidung der Städter unterschied, aber nach seiner dunklen Hautfarbe zu schließen schien er kein Beduine, sondern Ägypter zu sein. Das Auffälligste an ihm war sein hübsches, fein geschnittenes Gesicht. Johann fragte sich, ob diese halbe Kind tatsächlich eine europäische Sprache beherrschte.
„Das ist Takait“, sagte Peter, auf den Jungen zeigend. „Er wird uns als Diener und Dolmetscher begleiten. Er spricht unsere Sprache, da sein Vater Deutscher ist.“
„Wie hat es denn seinen Vater hierher verschlagen?“, wollte Johann wissen und er vermutete, dass dieser wie der eigene Vater ein Abenteurer war, ein Rumtreiber, um ein Lieblingswort der Mutter aufzugreifen.
„Das Schiff, auf dem er gereist ist, wurde von Seeräubern überfallen und man hat ihn als Sklaven nach Ägypten verkauft“, erklärte der Bruder und Johann hatte für einen Augenblick Mitleid mit dem Jungen, gegen den er ansonsten eine Abneigung auf den ersten Blick empfand.
Es war seltsam, dass der Bruder statt seiner geantwortet hatte, aber vielleicht war es in Ägypten den Dienern verboten mit Fremden zu sprechen? Doch das war keine Entschuldigung, denn schließlich war Johann kein Fremder, sondern der Bruder seines Herrn. Johann ärgerte sich darüber, dass der Priester den Jungen bereits mitgebracht hatte. Sollten sie sich nun wochenlang anschweigen, bis endlich die Karawane aufbrach?
„Ich habe einen Hunger wie ein Löwe!“, erklärte der Priester, der gerade damit beschäftigt war, sich den Staub von der Kleidung zu bürsten und Johann dachte, dass dessen schwarze Gewänder bei diesem Klima extrem unpraktisch waren.
Als er damit fertig war, überreichte er Peter die Kleiderbürste und ging in die Küche. Takait folgte ihm unaufgefordert. Wahrscheinlich hatte man ihn darüber informiert, dass der Diener des Hausherrn diese Nacht bei seiner Familie schlief. Dies war eine Vorsichtsmaßnahme gewesen, damit dieser möglichst wenig von den seltsamen Geschehnissen im Haus mitbekam.
Johann sah den beiden nach und er fragte sich, was dieser Junge mit dem unaussprechlichen Namen wohl ausgefressen haben mochte, dass er in den abgelegensten Oasen Ägyptens Zuflucht suchte.
„Der ist bestimmt von zu Hause ausgerissen!“, sagte er daher schließlich zu seinem Bruder, als sich die Küchentür geschlossen hatte.
„Das glaube ich auch“, stimmte ihm Peter zu, „aber ich bin froh, dass ich ihn kennengelernt habe. Ich dachte schon, wir finden niemanden, der bereit ist, mit uns zu diesen Oasen zu reisen. Der Junge sagt, nach den Gesetzen des Landes sei er volljährig. Also habe ich ihm keine weiteren Fragen gestellt.“Â
„Trotzdem stimmt mit dem Jungen etwas nicht“, insistierte Johann. „Warum vermummt er sich sonst mit dieser Beduinenkleidung? Wir tragen sie, weil wir nicht als Fremde erkannt werden wollen, aber was hat der Junge zu verbergen?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Peter ungeduldig, „aber nun lass uns zu den anderen in die Küche gehen. Auch ich bin schrecklich hungrig.“ Â
„Nicht, dass wir seinetwegen Ärger bekommen“, gab Johann zu bedenken, da er lieber nicht gegen die Gesetze des Landes zu verstoßen wollte, dessen Gastfreundschaft sie in Anspruch nahmen.
Peter, der bereits die Küchentür geöffnet hatte blieb stehen und drehte sich um.
„Johann, wir haben vorhin mit Hehlern verhandelt. Die Kaufleute, denen wir uns anschließen sind Schmuggler und wir wollen eine Oase besuchen, die offiziell gar nicht existiert. Wenn wir uns dabei erwischen lassen, dann ist der Junge unser geringstes Problem!“ Er schüttelte mit einem freundlosen Lächeln den Kopf. „Und wir machen all das nur, um die Mumie zurückzubringen, damit du keine Alpträume mehr bekommst.“
„Und um uns dieses komische Kraut zu besorgen, das du Moritz mitbringen willst“, ergänzte Johann.
„Der Oasenkrokus ist kein Kraut, sondern eine Blume. Sie sieht so ähnlich aus wie ein normaler Krokus, hat aber fleischrote Wurzeln“, rief Priester Menas ihnen aus der Küche zu, „aber jetzt kommt endlich zu Tisch oder wir lassen euch nichts übrig.“Â
„Wir kommen gleich!“, rief Peter zurück und senkte dann seine Stimme. „Weißt du, was mir heute mitten in der Nacht eingefallen ist? Es gibt noch mindestens zwei Menschen, die mit der Mumie Kontakt gehabt haben, nämlich der Onkel und sein Lehrling.“
„Du hast völlig recht“, erwiderte Johann, „an die habe ich gar nicht gedacht.“
Während des Essens erfuhr Johann, dass er das zweifelhafte Glück hatte, schon wenige Tage später Alexandria verlassen zu dürfen, da bald eine Karawane zu den verborgenen Oasen aufbrach.
Das ist meine Henkersmalzeit, dachte er und schaufelte gierig alles in sich hinein, was man ihm vorsetzte. Am folgenden Morgen hätte er nicht mehr zu sagen vermocht, was er alles gegessen hatte, aber er erinnerte sich an den schweren Wein des Priesters, dem er allzu reichlich zugesprochen hatte, wobei er der Schmuggler im Nildelta gedacht hatte, bei denen der Hausherr den Rebensaft bezog.
So vergingen noch einige Tage mit trübsinnigem Warten, in denen Johann den schweigsamen Jungen nur zu den Malzeiten zu Gesicht bekam. Dann war der Zeitpunkt gekommen, um in aller Herrgottsfrühe Priester Menas Lebwohl zu sagen und sich zum Sammelplatz der Karawane zu begeben.
„Ich werde jeden Tag für euch beten“, versprach der alte Priester zum Abschied und sein Blick wanderte von Peter zu Johann in einer Art und Weise, die vermuten ließ, dass er befürchtete keinen der Brüder jemals wieder lebend zu sehen.
Johann fand, er hätte ihnen lieber Mut zusprechen sollen, aber ehe er sich beschweren konnte gab der Bruder ihm den Auftrag, Takait beim Transport der großen Versandkiste, die die Mumie enthielt zu helfen. Sie befestigten diese auf einem der Kamele, die Takait für sie gemietet hatte. Dann brachen sie unverzüglich auf, um mit ihren Dromedaren nicht zuviel Aufsehen in der schmalen Gasse zu erregen, in der sich das Haus des Priesters befand.
Nur einer von ihnen kannte den Weg, nämlich Takait und als die Brüder dem Jungen nachritten, fragte Johann sich, ob dieser nicht der Lockvogel von Wegelagerern war. Zu allem Überfluss wurde es ihm auf dem schwankenden Rücken des Dromedars augenblicklich schwindlig und er hoffte inständig, dass er sich im Laufe der Reise daran gewöhnen würde, dass Kamele stets Vorder- und Hinterbeine derselben Seite in einer schaukelnden Bewegung gemeinsam vorwärts setzten. Diese Fortbewegungsart wurde Passgang genannt und mochte für das Dromedar komfortabel sein, aber Johann hätte den gleichmäßigen Trab eines Pferdes vorgezogen.
„Wir sind am Ziel“, verkündete Peter einige Stunden später, auf eine Ortschaft deutend, deren Namen Johann sich gar nicht erst zu merken versuchte, da er ihn unaussprechlich fand.
Der Anblick des trostlosen Marktfleckens am Rand der Sahara genügte und er hatte genug von der Wüste. Ärmliche, weißgetünchte Häuser standen ohne erkennbare Ordnung so dich beieinander, dass sie ineinander übergingen. Wahrscheinlich hätten ihre Besitzer selbst nicht zu sagen vermocht, wem dieser mit Säcken vollgestellte Hühnerstall oder jener morsche Schuppen eigentlich gehörte. Ein Wanderer hätte kaum seinen Weg durch den Ort zubahnen vermocht, denn so gut wie jeder Zwischenraum war mit Schilfgeflecht, Tüchern oder Holzbrettern verstellt.
Von hier aus brach also die Karawane zu den Sobek-Oasen auf. Es war ein jämmerlicher Zug von fünfzehn abgerissenen Händlern mit doppelt so vielen Kamelen. Dazu kamen Peter, Johann, Takait und weitere vier Kamele, eines von ihnen trug das Gepäck und die große Kiste mit der Mumie.
Ein mürrischer, älterer Mann, der wohl für die Händler sprach gab ein Kommando und der Junge, den Peter als Dolmetscher angeheuert hatte hielt es nicht für nötig zu übersetzen, aber offensichtlich war dies der Befehl zum baldigen Aufbruch.
Die Fracht und ihre Begleiter standen unter dem Schutz von zwei bewaffneten Beduinen, die auch die Karawanenführer waren. Johann musterte die gefährlich aussehenden Nomaden mit ihren weiten Umhängen und ihren langen Messern, die in ihren Gürtel steckten. Bestimmt gehörten sie zu einem Stamm, der gewöhnlich die Händler ausraubte und nun ließen sie sich dafür bezahlen, dass sie diesmal davon Abstand nahmen.
Unter ihren weiten Umhängen aus naturfarbener Wolle sahen sie alle gleich aus: Händler, Beduinen und die beiden Fremden. Trotzdem starrten die Einheimischen sie mit unverhohlener Neugier an. Johann fragte sich, was man ihnen erzählt hatte, wer sie seien und was sie in den Sobek-Oasen zu suchen hatten.
„Stell dir nur vor, zwei Beduinen stünden bei uns auf dem Marktplatz“, sagte Peter, der offenbar bemerkt hatte, dass sein Bruder über die Aufmerksamkeit irritiert war, die man ihm entgegenbrachte. „Wir würden sie ebenfalls bestaunen.“
„Ich würde sie nicht so anglotzen!“, beharrte Johann. „Das gehört sich einfach nicht!“
„Du bist eben aus gutem Hause und dies sind nur einfache Kaufleute und Nomaden“, erwiderte der Bruder lachend.
Als Takait, der kurz abgesessen war an einem der Kaufleute vorbeikam, packte dieser ihn am Ärmel und sagte etwas, was den Jungen wütend machte. Der Kaufmann machte eine mokante Bemerkung und Takait riss sich wieder los. Ohne den Kaufmann eines Blickes zu würdigen bestieg er sein Dromedar und schaute demonstrativ in eine andere Richtung.
„Hast du das gesehen?“, entfuhr es Johann und er suchte Blickkontakt mit dem Bruder.
„Das geht uns nichts an!“ Dies sagte Peter immer, wenn ihm nichts mehr einfiel, aber Johann war über die Streitigkeit beunruhigt. Hatte der Kaufmann Takait beschuldigt, ein Handlanger von Wegelagerern zu sein?
Als alle Reisenden ihre Dromedare bestiegen hatten, setzte der Zug sich in Bewegung, angeführt von den beiden Bewaffneten. Vor Johann ritt ein Kaufmann, hinter ihm Peter, gefolgt von Takait. Johann wunderte sich darüber, dass zwei Kamele keine Last trugen. Wer weiß, was die Kaufleute aus von den Oasen zurückschleppen wollten, Geht mich diesmal wirklich nichts an, dachte er sich, solange es keine Mumien waren. Johann schaute sich – wie er hoffte – unauffällig nach der angeblichen Kiste mit Lebensmitteln um. Zu seiner Beruhigung fand er sie unversehrt auf dem Rücken ihres Lastkamels wieder.
Der Zug folgte einem schmalen Pfad durch die schier endlose Wüste, der streckenweise vom Sand verweht und kaum sichtbar war. Die Karawanenführer mussten sich am Sonnenstand, an den Strukturen des Sandes und an den Spuren früherer Karawanen orientieren, da Landmarken in der Wüste fast völlig fehlten.
Stoisch setzten die Kamele einen Fuß vor den anderen. Sie mussten nicht jeden Tag trinken, aber trotzdem bedeutete dies, dass die Karawane auf keinen Fall vom Weg abkommen durften, denn wenn die Kamele verdursteten, dann waren auch die Menschen verloren. Daher mussten in Gewaltmärschen die wenigen Brunnen erreicht werden, die den Weg säumten. Der Rückmarsch würde noch schlimmer werden, denn die vom Hinmarsch bereits geschwächten Kamele trugen dann als Schmuggelware schwere Säcke von Salz zurück.
Die Sonne brannte ihm gnadenlos auf den Kopf und Johann verstand nun, warum man sich hier in diese weiten Gewänder hüllte. Schon bald war seine Kleidung völlig verschwitzt. Der verdunstete Schweiß ließ Salz auf seiner Haut zurück, und brannte in den Augen. Johann wäre lieber nachts gereist, aber er wagte es nicht sich zu beschweren, zumal er dazu die Hilfe Takaits benötigt hätte, der offensichtlich ein Schweigegelübte abgelegt hatte. Und noch immer hasste er den schwankenden Gang seines Dromedare, das mit seinem kleinen Kopf auf dem langen Hals hochnäsig auf ihn herabsah, als ob es in seinen Gedanken lesen könnte, dass er es hasste. Er hatte sich daher noch nicht einmal nach seinem Namen erkundigt.
Johann hatte sich die Wüste als ebene Sandfläche vorgestellt, aber es gab auch ganze Landstriche, die von Geröll bedeckt waren. Glücklicherweise gaben die mit Schwielen gepolsterten Füße der Kamele sicheren Halt auf schwierigen Böden, die den schnelleren Pferden große Schwierigkeiten bereitet hätten.
Dann wieder passierten sie steile Felsen, die aus Schichten unterschiedlicher Farbe bestanden, die Johann an Marmorkuchen erinnerten. Tierisches und pflanzliches Leben schien hier nicht zu existieren. Immer noch ritt Peter hinter ihm und Johann hätte gern mit ihm gesprochen, egal worüber, aber die Zunge klebte ihm am Gaumen. Auch die anderen Reisenden sagten kein Wort und die Schweigsamkeit Takaits fiel so niemandem auf. In der grenzenlosen Stille schwollen die Geräusche in den eigenen Ohren zum störenden Rauschen an.
Manchmal durchquerten sie aber auch Dünenlandschaften auf verwehten Pfaden, die nur für die Beduinen wahrnehmbar waren. Wie das Meer schien sich der Sand in Wellen zu bewegen, aber dies war nur eine Illusion. Die Dünen bewegten sich nicht. Sie waren festgefroren wie ein im Eis erstarrter Seegang. Ab und zu durchstießen Steine die Oberfläche, wie Felsen eine gelbe Brandung. An den Abhängen mancher steiler Hügel wuchsen mickrige Palmen. Vertrocknete Büsche mit kleinen harten Blättern schienen im Sand zu ertrinken.
Endlich kam der Abend des anstrengenden Tages. Schon löste sich der Mond vom Horizont. Es dämmerte in Ägypten erschreckend schnell, viel schneller als zuhause. Bald herrschte dunkle Nacht. Auf dem tiefblauen Firmament leuchteten die Sterne mit einer Strahlkraft wie sie Johann niemals zuvor gekannt hatte. Bald war der Mond völlig aufgegangen und in seinem Licht hätte man den Pfad genauso gut oder schlecht finden können wie am Tag. Warum nur setzten sie sich den alles versengenden Strahlen der Sonne aus?
Nachts wurde es unangenehm frisch. Johann hatte auf Kühlung gehofft, aber auf diese schneidende Kälte war er nicht vorbereitet. Wieder erwiesen sich die dicken Wolltücher, in die er sich gewickelt hatte als äußerst praktisch. Mittlerweile war es ihm egal, dass sie durchschwitzt waren und stanken.
Endlich gab der Nomade, der den Zug anführte das Kommando zum Anhalten. Johann erkannte schnell, warum der Karawanenführer sich für diesen Platz entschieden hatte, denn es gab hier einen Brunnen, der zwischen vertrockneten Büschen versteckt war. Johann saß mit steifen Beinen von seinem Kamel herab und er hätte schwören können, dass der Boden schwankte. Er konnte jeden einzelnen Knochen in seinem Körper spüren und die Innenseiten seiner Schenkel brannten wie Feuer.
Peter stand neben ihm, doch keiner von beiden bekam ein Wort heraus, so erschöpft waren sie. Dann gestellte sich Takait zu ihnen und Johann fand, dass der Junge noch viel mitgenommener aussah als Peter. Zwar war Takait zwar relativ groß, doch selbst für einen Ägypter recht schmächtig. Er würde sicherlich keinen sehr brauchbaren Diener abgeben.
Die Kaufleute sprachen offenbar über die Fremden, die etwas abseits von ihnen rasteten, denn sie drehten sich immer wieder nach ihnen um, doch wenn sie die Blicke Johanns trafen schauten sie sofort wieder weg. Johann beschloss, sie zu ignorieren, sie mit Verachtung zu strafen, nicht mehr an sie zu denken, doch er war über ihr Verhalten verstimmt.
Peter löste den Knoten des Lederriemens, mit dem Decke auf dem Rücken seines Reittiers befestigt war, zumindest versuchte er dies, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Wortlos ging ihm Takait zur Hand. Johann ärgerte sich zunehmend über die Maulfaulheit des angeblichen Dolmetschers, aber Peter schien dies nicht zu stören. Auch war Takait offensichtlich nur der Diener des Bruders, während er Johann geflissentlich ignorierte.
Die Kaufleute setzen sich in den Windschatten ihrer rastenden Kamele und die beiden Brüder taten es ihnen gleich. Johann ließ sich in den Sand fallen, aber seine wundgescheuerten Beine schmerzten bei jeder Bewegung so stark, dass er das Gesicht verzog.
„Ich habe eine schmerzlindernde Salbe!“, verkündete eine Knabenstimme.
Johann traute seinen Ohren nicht. Hatte Takait ihn tatsächlich angesprochen? Der Junge kramte eine kleines Messinggefäß aus seinem Beutel und präsentierte es auf der ausgestreckten Hand. Johann massierte sich etwas von der darin enthaltenden wohlriechenden weißen Salbe auf die wundgeriebene Haut. Augenblicklich durchströmte ihn wohlige Wärme, gefolgt von einem Gefühl der Taubheit.
„Danke! Das ist ja das reinste Wundermittel!“, entfuhr es ihm spontan.
Takait errötete, nur ganz leicht, aber Johann entging es nicht. Sofort schaute der Junge in eine andere Richtung.
Einer der Nomaden vergrub neben dem Brunnen Futterreste für den Rückweg. Dann entzündeten die Kaufleute ein Lagerfeuer. Mit erstaunlicher Geschicklichkeit bauten sie einen Ofen aus Glut und Sand, um fladenförmige Brote zu backen. Der Wind trug den köstlichen Geruch des frischen Backwerkes durch das Lager. Erst jetzt bemerkte Johann, wie hungrig er war.
„Sie werden uns doch wohl etwas abgeben?“, sagte Peter zu Takait. Er war unüberhörbar, dass er verärgert war. „Schließlich haben wir für unsere Verpflegung gezahlt.“
Takait nickte und ginge zu den Händlern. Einer von ihnen redete heftig auf den Jungen ein. Dieser machte eine abwehrende Handbewegung. Was hatte dies zu bedeuten? Wollte man sie kaltblütig verhungern lassen?
Der ältere Beduine stand auf und sprach ein Machtwort. Mit sichtbaren Widerwillen ließen die Händler zu, dass Takait drei Teller mit Brot und Gemüse belud. Mit vorsichtigen Schritten und erstaunlich behenden Bewegungen trug der Junge die Teller zu den Reisegefährten.
„Die Kaufleute sagen, dass man ihnen nichts für unsere Verpflegung bezahlt hat“, erklärte Takait mit bedauerndem Gesichtsausdruck.
„Aber…“
„Der Wirt, der euch abkassiert hat, hat euch offensichtlich betrogen“, unterbrach Takait Peter, der empört aufgesprungen war, „der Karawanenführer hat den Kaufleuten befohlen, mit uns zu teilen, aber ihr müsst ihnen als Gegenleistung einige Denare geben.“
„Wir haben keine andere Wahl“, sagte Johann beschwichtigend zu dem sichtlich wütenden Peter, denn er befürchtete, der Brüder könnte ihn aus Prinzipienreiterei hungern lassen. „Wir müssen ihnen dafür dankbar sein, dass sie uns etwas abgeben. Schließlich waren wir nicht eingeplant und die Ration ist ohnehin schon knapp.“
„Wahrscheinlich hast du Recht, aber….“
Der Satz blieb unbeendet, da Peter herzhaft in ein Stück Brot biss, das Takait ihm in die Hand gedrückt hatte. Auch der Junge und Johann machten sich mit großem Appetit über das karge Essen her. Die drei verschlangen in kurzer Zeit alles, was man für sie abgezweigt hatte.
„Ich will mich nicht jeden Abend herumzanken müssen“, sagte Peter, während er sich den Mund am Ärmel seines Gewandes abwischte und er gab Takait eine Handvoll Münzen. „Das sollte für den Rest der Reise reichen!“
Takait ging zu den anderen zurück und überreichte dem Anführer der Kaufleute das Geld. Johann registrierte mit Missfallen, dass der Junge anschließend nicht zu ihnen zurückkehrte, sondern den Händlern Gesellschaft leistete. Wieder stritt er sich mit einem der Kaufleute – Johann vermochte nicht zu sagen, ob es wieder derselbe war, denn er konnte sie nicht unterscheiden - aber diesmal einigten sie sich. Jedenfalls herrschte nach kurzer Zeit wieder Ruhe.
Noch immer Johann traute Johann Takait nicht über den Weg. Er beobachtete den Jungen noch eine Weile aus dem Augenwinkel, konnte aber nichts Verdächtiges feststellen. Schließlich gab er auf und legte sich hin, in der Hoffnung etwas Schlaf zu finden. Vom anderen Ende des Lagers drang eine leise Unterhaltung mit gedämpfter Stimme zu ihm, aber Johann konnte zu seinem Bedauern nicht heraushören, ob Takait darin verwickelt war.
In der Nacht kam ein scharfer Wind auf, der die nächtliche Kälte noch unerträglicher machte. Die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht waren in der Sahara sehr groß, was daran lag, dass es keinerlei Vegetation oder Gebäude gab, die die Wärme speicherten. Zitternd erwartete Johann den Morgen, völlig erschöpft, doch zu aufgewühlt um zu schlafen. Er verfluchte die Kälte und wusste doch, dass er bald wieder unter der Hitze leiden würde. Rauch stieg in der Ferne auf. Offensichtlich befand sich dort ein Lager der Beduinen und Johann hoffte, dass sie keine Räuber waren.
Als endlich der Sonnenaufgang die erste Nacht in der Wüste beendete, war der Karawanenpfad völlig verweht, aber der Nomade, der den Zug anführte ritt ohne das geringste Zeichen von Unsicherheit voran. Von Zeit zu Weit erkannte Johann im Sand den Abdruck eines Hufs. Dies waren die einzigen Hinweise darauf, dass sie nicht ziellos durch das Sandmeer irrten.
Eine bleierne Müdigkeit überfiel ihn, die im Lauf des Tages immer stärker wurde. Die schlaflose Nacht forderte unerbittlich ihren Tribut. Langsam verschwommen der Sand und die gleißende Sonne am Himmel zu einem einzigen, blassen Licht.
Sein Dromedar stolperte über etwas halb vom Sand Bedecktes und Johann wäre vor Schreck fast aus dem Sattel gefallen, zumal er vor sich hingedämmert hatte und der Stoß ihn unsanft in die raue Realität zurücktransportiert hatte. Er saß ab, da er hoffte einen vergrabenen Schatz gefunden zu haben, aber er musste feststellen, dass es nur der von der Sonne gebleichte Schädel eines großen Tieres war, wohl eines Büffels oder eines Kamels.
Der Karawanenführer rief ihm aus der Ferne einige unfreundliche Worte zu und Johann musste sich nicht an Takait wenden, um zu verstehen, dass er dafür gerügt wurde, dass er abgesessen war. Mit einem leisen Fluch hievte er sich wieder auf sein Dromedar.
Das von hohen Felswänden begrenzte Tal, dem die Karawane schon seit einer Stunde folgte wurde immer enger. Hoffentlich besaß diese Schlucht einen Ausgang und, wenn ja: Hoffentlich lauerten dort nicht die Wegelagerer, denen die Karawanenführer zuarbeiteten! Johann jedenfalls erschien das zunehmend schmaler werdende Tal mittlerweile als tödliche Falle.
Einer der Kaufleute rief den anderen etwas zu. Seine Worte wurden verstärkt und verzerrt von den Felswänden als schauriges Echo zurückgeworfen. Dann hörte Johann aus dem Ende des Tals ein lautes Brummen. Die Töne waren so tief, dass sie das Zwerchfell vibrieren ließen. Wie auf Kommando zügelten die Kaufleute ihre Kamele und die ungeduldigen Beduinen mussten sich fügen. Johann schaute sich nach allen Richtungen um, konnte aber den Ursprung der ihn beunruhigenden Geräusche nicht ausmachen.
„Was um Gottes Willen ist das?“, rief er Takait zu.
Obwohl das Kamel des Jungen nicht weit von seinem eigenen Reittier entfernt hochmütig über die Köpfe der Kaufleute hinwegschaute, musste Johanns schreien um sich verständlich zu machen, da die Geräusche mittlerweile zu einem Brummen angeschwollen waren, das vage an ein Nebelhorn erinnerte. Ein Brausen, ein Stöhnen und Ächzen, ein unbeschreibliches Gemisch aus Lauten betäubte die Ohren.
Takait ritt zu Peter und flüstert ihm etwas ins Ohr. Trotz der flimmernden Luft war es unübersehbar, dass Peter ihn zuerst sorgenvoll anschaute. Dann hellte sich sein Gesicht auf und er schmunzelte und schüttelte schließlich lachend den Kopf.
„Das sind angeblich die Wüstendämonen. Ihretwegen wagt sich niemand allein in die Wüste“, rief er dem Bruder zu, „Es ist so selten, dass man sie hört, dass man ihrem Erscheinen eine besondere Bedeutung beimisst. Die Kaufleute fürchten jetzt, dass bald etwas Schreckliches passiert.“
„Warum bin ich nicht zu Hause geblieben!“, entfuhr es Johann, der diese Prophezeiung gar nicht gern hörte.
Peter verdrehte enerviert die Augen.
„Denk dran: Du hattest diese schrecklichen Alpträume! Anderenfalls säßen wir jetzt gemütlich zu Hause und würden darauf warten, dass Wilhelm aus Königsberg zurückkehrt!“
Das Brummen verwandelte sich in ein Stöhnen, das über sie hinwegfegte. Johann zog automatisch den Kopf ein, aber er verspürte nicht den geringsten Hauch. Ihm schauderte vor dem unerklärlichen Phänomen. Auch die Kaufleute wirkten aufgebracht und ängstlich. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelte leise miteinander. Einer von ihnen redete heftig gestikulierend auf die anderen ein. Dann drehten sie sich alle nach den Fremden um. Der ältere der beiden Beduinen, die bisher ungerührt etwas abseits gewartet hatten, gab das Zeichen zum Aufbruch und die Karawane machte sich etwas zögerlich wieder auf den Weg.Â
Wenige Minuten später sah Johann auf einer Steinwand die blassen Umrisse von schemenhaften Tieren mit langen Hälsen, die wie Giraffen aussahen und von Menschen, die in einem See schwammen. Was hatte das zu bedeuten? Auch die Ägypter wunderten sich über die Bilder. Jedenfalls blieben die Kaufleute vor den eingeritzten Zeichnungen erneut stehen und diskutierten laut untereinander. Die Beduinen hingegen straften diesmal sowohl die Zeichnungen als auch die aufgeregten Kaufleute mit Missachtung und ritten weiter durch die Schlucht.
Takait tuschelte schon wieder mit Peter.
„Diese Bilder haben die Dämonen hinterlassen“, sagte dieser dann mit einem amüsierten Lächeln zu seinem Bruder.
Auch Johann fand diese Erklärung ziemlich kurios. Offenbar machten die Einheimische die armen Dämonen für alles verantwortlich, für das man keine andere Erklärung fand.
„Kultivierte Dämonen gibt es hier“, rief er dem Bruder zu, „sie musizieren und malen, nur seltsam, dass sie sich nicht sehen lassen!“
Takait sah ihn erschrocken an und schüttelte dann missbilligend den Kopf.
„Wahrscheinlich solltest du mit deinen lästerlichen Kommentaren nicht das Schicksal herausforderst“, erklärte Peter, aber Johann bezweifelte, dass der Bruder dies ernst meinte.
Endlich setzte die Karawane ihren Weg fort und die Kamelreiter mussten sich beeilen, um die Beduinen wieder einzuholen, die einen großen Abstand von der restlichen Karawane gewonnen hatte.
Nach circa einer halben Stunde war der Spuk endlich vorbei. Die Dämonen haben sich heiser gebrüllt, dachte Johann als wieder Stille herrschte.
Langsam weitete sich das enge Tal: Die Felsen wurden niedriger und ihr Abstand voreinander größer, aber dies machte den Ritt auch nicht komfortabler, denn der Wind, der den Reisenden schon Beginn der Reise zugesetzt hatte, nahm kontinuierlich zu. Johann zog sich einen Zipfel seines Umhanges über das Gesicht, sodass nur noch die Augen herausschauten. Er bekämpfte den Impuls die Lider zu schließen, so quälend war der heiße Wind, der ihm Sand in die Augen wehte.
Dann waren vom Felsmassiv nur noch einzelne Gesteinsbrocken übrig geblieben. Den Pfad säumten riesige Sandsteinsäulen, -bogen und bizarre Formen aus Stein, manche erinnerten an Tiere, Johann bemerkte kaum noch, da seine nunmehr schon chronische Erschöpfung ihn apathisch gemacht hatte.
Abends erfuhr er von Peter, dass man am nächsten Tag eine kleine Oase erreichen würde, aber leider keine der Oasengruppe mit dem komischen Namen, die ihr Ziel war. Johann ärgerte sich, dass Takait diese Neuigkeiten nur an Peter weitergegeben hatte.
Nach einer eisigen Nacht machten am folgenden Morgen selbst die Kamele einen ziemlich abgekämpften Eindruck. Apathisch und mit gesenktem Kopf setzen sie einen Fuß vor den anderen. Nur mit letzter Kraft erreichten sie die rettenden Weiden.
Als die Karawane in Sichtweite der Oase gelangte, erklangen Rufe vom Rand der Ansiedlung her. Alle Torflügel wurden geöffnet. In Tücher gehüllte Jungen liefen ihnen entgegen, denn die Bewohner hatten bereits ungeduldig das Eintreffen der Kaufleute erwartet, da sie auf das mitgeführte Getreide lebensnotwendig angewiesen waren.
Den Kindern folgten der Dorfälteste und sein Sohn. Sie waren beide schwarzhaarig, der eine groß und schlank, der andere untersetzt und etwas kleiner. Der Vater stützte sich auf einen langen Stab, der aber eher Hoheitszeichen als Gehhilfe war.
Der Dorfälteste begrüßte die Karawanenführer und die Kaufleute folgten ihm in die Oase. Dabei warfen sie den beiden Brüdern von Zeit zu Zeit skeptische Seitenblicke zu. Einer der Nomaden blieb stehen und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Wüste. Johann versuchte zu erkennen, was sein Interesse erregt hatte, aber zuerst sah er nur Sand, der vom Wind aufgewirbelt wurde: Eine Staubwolke näherte sich rasch aus der Ferne. Umrisse schälten sich aus der flimmernden Luft, formten sich zu einem weißen Pferd, dessen Reiter in feinere Gewänder gehüllt war als sie die Dorfbewohner trugen. Er hatte eine Gazelle erbeutet, die quer über den Rücken seines Pferdes gelegt war. Der Reiter  steuerte das größte Anwesen des Dorfes an und würdigte Kaufleute, Beduinen und Fremde im Vorbeireiten keines Blickes. Mit einem lauten Knall schloss sich das messingbeschlagene Hoftor hinter ihnen.
Die restliche Siedlung bestand aus Lehmbauten, von denen kein anderes auch nur annähernd die Größe des Anwesens erreichte, in dem der Scheich – oder was auch immer der korrekte Titel des Jägers sein mochte - verschwunden war. Fast fensterlose Häuser säumten einen winzigen Platz, über den man, als Schutz gegen die Hitze Palmwedel gelegt hatte. Wieder gab es fast keine Freiflächen, da die Gebäude ineinander übergingen, wenn auch der Gesamteindruck nicht ganz so chaotisch war wie in dem Kaff, aus dem die Karawane aufgebrochen war. Dies lag aber auch daran, dass das Dorf noch kleiner war.
Wenigstens gab es einen kleinen Bau mit Innenhof, der als Karawanserei diente und Johann erschien die Aussicht unter einem Dach zu schlafen, als schierer Luxus. Nachdem die Kamele versorgt waren, tauschten die Bauern das Getreide, das die Händler hertransportiert hatten gegen Oliven, Datteln und Salz ein, das sie aus komplizierten Salinen gewonnen hatten. Auch im Ackerbau nutzten sie geschickt jede Elle des fruchtbaren Bodens, indem sie die Pflanzen in mehreren Stockwerken übereinander angebauten. In der untersten Ebene wuchs Gemüse, in der zweiten Feigen und in der dritten die alles überragenden Dattelpalmen, deren Früchte das Grundnahrungsmittel der Bauern waren.
Während Johann dem Tauschhandel zusah, ließ er Takait nicht aus den Augen, da er den Eindruck hatte, dass der Junge mit den Kaufleuten etwas ausheckte, doch da die Worte der fremden Sprache an ihm vorbeirauschten wie ein Sommerregen blieb es bei einem vagen Verdacht. Peter würde ihn auslachen, wenn er ihn darauf anspräche. Also verlor Johann kein Wort über den verdächtigen Dolmetscher.
Leider blieben sie nur eine Nacht in der Oase. Wahrscheinlich konnten deren Bewohner nicht länger neunzehn hungrige Männer bewirten und ihre Dromedare mit Wasser und Heu versorgen.
Die sechste Nacht der Reise war halb vorbei als Johann von leisen Stimmen und halb unterdrückten Gelächter erwachte. Er rollte sich zur Seite und zog die Decke über sich. Seine Augen taten ihm weh und er hatte Kopfschmerzen, seine Kehle fühlte sich trocken an. Er erinnerte sich, dass er schon wieder von der Unterwelt geträumt hatte, aber glücklicherweise erinnerte er sich nicht an mordlüsterne Schatten. In der Hoffnung, wieder einzuschlafen drehte er sich auf seinem harten Lager um.
Der Morgen tauchte die Wüste in eine ganze Palette von Rosatöne und die Karawane brach trotzt starken Windes in aller Herrgottsfrühe auf. Gegen Mittag wurde am Horizont eine hohe Sandsäule sichtbar. Sie drehte sich großer Geschwindigkeit um ihre eigene Achse und Johann meinte ein finsteres Gesicht mit einer Kapuze im wirbelnden Sand zu sehen, dann eine Hand, die ein riesiges Schwert schwang. Unerbittlich kam der Sand immer näher. Es gab keine Möglichkeit, dem Sturm auszuweichen ohne vom Pfad abzukommen. Tatenlos mussten die Männer zusehen wie die Sandsäule mit rasender Geschwindigkeit herankam. Der aufgewirbelte Sand verdunkelte bald die Sonne und die Zeit schien stillzustehen. Peter rief Johann etwas zu, doch es ging im Brausen des Sturmes unter. Takait schwieg wie immer, aber es war ein sehr beredtes Schweigen, denn seine Augen verrieten seine Angst.
Alle, Kaufleute und Nomaden sprangen von ihren Reittieren und warfen sich auf den Boden. Ein Dromedar legte seinen Kopf in den Nacken und stieß einen klagenden Schrei aus. Ein anderes Tier antwortete vom anderen Ende des provisorischen Lagers über die kleine Reisegruppe hinweg und Johann hoffte inständig, dass die Kamele nicht von der Panik ergriffen wurden und in die Wüste davonliefen.
Wie eine Feuerwalze zog der wirbelnde Sand bald über die am Boden Liegenden hinweg. Die Sandkörner drangen durch die Begrenzungen ihrer Kleidung, sie legten sich auf ihre Kopfhaut und Johann hoffte, dass er nicht lebendig begraben würde. Niemand würde jemals hier nach ihnen suchen und die Sahara wäre ihr Grab.
Glücklicherweise war der ganze Spuk aber schon nach wenigen Minuten wieder vorbei. Die Männer waren von einer zentimeterdicken Sandschicht bedeckt, aber sie konnten sich - wenn auch mühsam - wieder aus dem Sand befreien. Die Wüste lag vor ihnen in zeitloser Majestät, als ob es niemals gestürmt hätte. Über ihnen wölbte sich der azurblaue Himmel, vor ihnen durchbrachen einzelne Steine die Sandfläche, wie Felder einer Küste ohne Meer.
Johann schüttelte den Sand von seinem Gewand, aber er fühlte sich noch immer, als befände sich die halbe Sahara in seiner Wäsche und seinen Schuhen. Dann schaute er sich nach seinen Reisegefährten um. Erleichtert sah er seinen Bruder, der sich die Augen rieb und da war auch Takait, dessen Gewand der Sturm zerrissen hatte, aber der Junge schien wohlauf zu sein. Johann stutzte einen Augenblick, so erstaunt war er darüber, was er sah. Zuerst traute er seinen Augen nicht. Dann war ihm alles klar.
„Du bist ein Mädchen!“, entfuhr es ihm völlig verblüfft.
Takait stieß einen nur mühsam unterdrücken Schrei aus und drehte sich augenblicklich um, wie ein Kind, das glaubt, dass es unsichtbar ist, wenn es die Augen schließt.Â
„Sprich nicht so laut“, tadelte ihn Peter. „Selbstverständlich ist Takait ein Mädchen. Mich hat ziemlich gewundert, dass du dies nicht gleich auf den ersten Blick bemerkt hast.“
„Warum …?“
 „Ich hielt es für sicherer, sie während der Reise in Männerkleider zu stecken.“
Johann ärgerte sich über die Geheimniskrämerei des Bruders.
„Aber mich hättest du doch wenigstens einweihen können!“, protestierte er.
„Je weniger ein Geheimnis kennen, desto besser ist es gehütet“, erwiderte der Bruder in einem entschuldigenden Tonfall. „Ich hatte Angst, du könntest dich verplaudern!“
Johann verstand gar nichts mehr. Sein Bruder konnte doch nicht allen Ernstes vermuten, dass einer dieser zwielichtigen Händler oder gar einer der Beduinen deutsch sprach?
„Niemand spricht hier unsere Sprache!“, fuhr er den Bruder an, „Wem, um Gottes Willen sollte ich etwas Falsches erzählen können?“
Peter sah ihn skeptisch von der Seite an.
Johann spürte, wie Ärger in ihm aufstieg. Hatte Peter befürchtet, er würde versuchen mit dem Mädchen anzubandeln? Wohl kaum, denn er behandelte ihn immer als ob er ein Kind sei. Das traute er ihm bestimmt nicht zu. Johann schob diesen unangenehmen Gedanken beiseite und rappelte sich auf, da die Kaufleute bereits damit beschäftigt waren, ihre Ware auf Schäden zu überprüfen.
Auch Takait hatte sich wieder gesammelt und vor allem hatte sie sich wieder verhüllt. Offensichtlich hatte sie mehrere Gewänder in ihrem Gepäck. Johann ging zu ihr und als er sie aus der Nähe sah ärgerte er sich über sich selbst, dass er ein so schlechter Beobachter gewesen war. Wie konnte er Takait nur die ganze Zeit für einen Jungen gehalten haben? Es war doch ganz offensichtlich, dass ein Mädchen vor ihm stand, ein ziemlich hübsches obendrein. Die einzige Entschuldigung für dieses ansonsten unverzeihliche Malheur war, dass Takait ihr Haar kurz geschoren trug.
„Warum du dich uns angeschlossen?“, fragte er sie, „du bist doch bestimmt von zu Hause ausgerissen!“
Takait schaute ihn mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck an und Johann stellte fest, dass sie älter war als er sie - in der Annahm, dass sie ein Jungen sei - eingeschätzt hatte. Sie musste mindestens achtzehn Jahre alt sein.
„Meine Familie wollte mich wider meinen Willen verheiraten.“
„Habe ich es nicht gesagt!“, sagte Johann triumphierend und drehte sich zu Peter um.
„Ich glaube, das geht uns nicht an“, erwiderte der Bruder, aber sein Gesichtsausdruck strafte seine Worte Lügen, „außerdem sind wir selbst doch in gewisser Weise von zu Hause ausgerissen.“
Bestimmt reist sie unter einem falschen Namen!, durchfuhr es Johann einen Augenblick später.
„Wie heißt du eigentlich wirklich?“, fragte er Takait daher.  Am liebsten hätte er sie nach ihren Papieren gefragt.
„Takait“, antwortete das Mädchen mit einem unwiderstehlichen Lächeln, „das ist ein Frauenname.“Â
„Und was bedeutet er?“, wollte Johann wissen, dem spontan das lateinische Zitat nomen es omen in den Sinn kam, aber einer der Nomaden fuhr das Mädchen im gleichen Augenblick unfreundlich an.
„Er sagt, wir sollen uns gefälligst etwas beeilen. Der Marsch geht gleich weiter“, übersetzte Takait.
„Das habe ich auch so verstanden“, brummte Johann und mühsam, wie ein alter Mann erklomm erhob er sich vom Boden.
„Mein Name bedeutet übrigens die Hochgewachsene. Ich trage ihn, weil ich größer als die meisten Ägypterinnen bin“, erklärte Takait, bevor sie ihre Aufmerksamkeit ihrem Kamel zuwandte.
Ein dicker Kaufmann beobachtete sie von hinten mit einem hämischen Gesicht. Ob auch er hinter ihr Geheimnis gekommen war? Er machte eine abfällige Bemerkung und sie reagierte ziemlich unfreundlich, aber dies war nichts gegen den Tonfall des Nomaden, als er beide nochmals zum Aufbruch aufforderte.
Die Karawane setzte sich also wieder in Bewegung und noch zwei Tage vergingen wie gewohnt: Gewaltmärsche in der brennenden Sonne wechselten sich ab mit bitterkalten Nächten. Immer wieder suchte Johanns Blick Takait, die sich offenbar hinter Peter zu verstecken suchte. Jedenfalls folgte sie ihm stets wie ein Schatten, während sie Johann konsequent ignorierte und jeden Blickkontakt mit ihm vermied.
Wieder sah Johann nachts in der Ferne Lagerfeuer brennen und noch immer gab jemand Signale. Von Nacht zu Nacht wurden es mehr Rauchzeichen. Johann war mittlerweile zu erschöpft, um sich große Gedanken zu machen, doch tief im Inneren arbeitete es in ihm: Was waren dies für Nomaden, die jeden ihrer Schritte überwachten? Ob sie die Späher der Oasenbewohner waren? Was mochte sie wohl an ihrem Ziel, der merkwürdigen ersten Sobek-Oase erwarten? Und dieses seltsame Mädchen, auf wessen Seite mochte es stehen? Auf seiner jedenfalls nicht, soviel stand fest.
Dann kam endlich der letzte Tag der Reise. Seit dem späten Vormittag waren sie auf ihren Kamelen über eine Art Hochplateau geritten. Das monotone Schaukeln und Schwanken hatte Johann träge gemacht und die Augen waren ihm vor Müdigkeit zugefallen. Er schreckte mit einem unterdrückten Fluch aus seinem Halbschlaf auf, als sein Kamel so abrupt stehen blieb, dass er aufwachte. Er öffnete die schweren Lider und war überwältigt über den unerwarteten Anblick, der sich ihm bot: Sein Reittier stand nämlich am Rand einer mehrere hundert Fuß tief abfallenden Felsstufe. Im Tal sah er – in schärfstem Kontrast zum Ockergelb der umgebenen Sandwüste - das saftige Grün von Palmhainen unter glasklarem Himmel.
In der Mitte der Oase befand sich eine Ansiedlung, dahinter eine niedrige Pyramide, ein breitgelagertes Gebäude und ein altägyptischer Tempel. Seine hohen Umfassungsmauern und seine zwei turmartigen Pylonen, die den Haupteingang flankierten, waren weithin sichtbar. Sie waren ein Hinweis darauf, dass die erste Sobek-Oase in der Antike nicht nur ein Handelsplatz der Nomaden gewesen war, die schon damals hier einen regen Tauschhandel praktizierten, sondern auch ein religiöses Zentrum. Die Gebäude, die aus der Pharaonenzeit stammen mochten waren verblüffend gut erhalten.
Dann sah Johann etwas, das ihn einen Augenblick lang an seinem Verstand zweifeln ließ, denn er erkannte in der Tiefe eine Prozession die sich den Tempel zubewegte. Es mochten etwa fünfzig Männer und Frauen sein und sie trugen in ihrer Mitte eine große, bunt bemalte Statue. Wurde dieser ägyptische Tempel am Ende noch von den Heiden benutzt? Gab es hier tatsächlich noch Anhänger der ägyptischen Religion? Johann war davon ausgegangen, dass die Einwohner des Landes alle Mohammedaner waren, natürlich abgesehen von den Kopten, die nur eine Minderheit waren.
„Wusstest du, dass es hier noch wie in der Antike hergeht?“, rief er völlig verblüfft dem Bruder zu.
„Priester Menas und Takait haben mir davon berichtet“, antwortete Peter, auch er wirkte wie vom Donner gerührt, „aber ich habe immer geglaubt, dass sie maßlos übertreiben.“
„Wenn wir das zuhause erzählen, dann glaubt uns das kein Mensch“, entfuhr es Johann.
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10. Menas
Als Johann die Hoteltür öffnete, schlug ihm die Hitze wie ein warmes Brett entgegen. Kein vernünftiger Mensch läuft freiwillig bei diesem Wetter draußen herum, dachte er, aber immer noch besser als allein im Hotelzimmer zu sitzen um die Mumie zu bewachen. Er verspürte einen scharfen Schmerz auf der linken Hand, den der Stich einer Mücke verursacht hatte und schlug mit einem leisen Fluch nach dem Insekt, aber er war zu langsam um den Plagegeist zu erschlagen.
Vor dem Hotel kam ihm auf der Straße ein junges englisches Paar entgegen, das er vom Sehen her kannte: Ein hagerer Kaufmann und das dunkelhaarige Mädchen, das der Bruder auf dem Schiff immer angestarrt hatte, wenn er sich unbeobachtet wähnte. Ihnen folgte eine resolute Dame, nach der Familienähnlichkeit zu schließen die Mutter des Mädchens. War es wirklich ein Zufall, dass sie offenbar im gleichen Hotel abgestiegen waren wie er? Vielleicht hatte Peter doch Recht mit seiner Befürchtung gehabt, dass der Geheimdienst sich für sie interessieren könnte.
Als ihre Wege sich kreuzten, erwiderte die drei ehemaligen Reisegefährten höflich Johanns Gruß und er rief sich ins Gedächtnis, dass es - laut Major Wallace - nicht viele Hotels in Alexandria gab, die für Ausländer geeignet waren. Wahrscheinlich befanden sich im Alexander the Great noch mehr bekannte Gesichte und dies machte die Frage noch dringlicher, wer während ihrer Abwesenheit die Kiste mit der Mumie im Hotelzimmer verschoben hatte. Das Personal konnte man sicherlich aus dem Kreis der Verdächtigten ausschließen, denn es war – bei dieser Hitze –viel zu träge dazu.
Denk lieber nicht darüber nach, sagte sich Johann, sondern versuche den lästigen Weg zur Kirche so schnell wie möglich hinter dich zu bringen, zumal es mittlerweile noch unerträglicher stinkt als zwei Stunden zuvor. Dies lag bestimmt an den vielen Kamelen, Maultieren und Eseln, die Straßen, Gassen und Plätze bevölkerten, aber gegen diese Tiere hatte Johann eigentlich nichts, im Gegensatz zu der Schwadron von Fliegen und Mücken, die ihn mittlerweile umkreisten wie die Planeten die Sonne.
Johann schlug im Gehen nach ihnen, bis seine Kleidung völlig verschwitzte war. Jetzt weiß ich, warum man den Teufel hier „Herr der Fliegen“ nennt, murmelte er vor sich, dann gab er resigniert die Gegenwehr auf. Er überquerte er die Straße und begab sich in das Gewirr der Altstadt. Aus einem Haus drang eine exotische Musik, die filigran, aber seltsam dissonant war. Ein Saiteninstrument gab den Takt an und eine weibliche Stimme sang dazu mit klagender Stimme und obwohl Johann kein Wort verstand meinte er zu begreifen, wovon das Lied handelte. Bestimmt lamentierte die Frau darüber, dass ihr Geliebter fern von ihr als Kaufmann fremde Länder bereiste.Â
Johann bedauerte die Stimme bald nicht mehr zu hören, da er sich zu weit von dem Haus entfernt hatte, in dem musiziert wurde, aber wenigstens wurde er diesmal nur ab und zu von Bettlern belästigt, wahrscheinlich, weil er zielstrebig und ohne nach rechts oder links zu sehen voranschritt. Ihre zögerliche Gangart hatte die Brüder wohl bei ihrer letzten Exkursion zur Zielscheibe für sämtliche Bettler Alexandrias gemacht.
Schon hatte Johann das Portal, das von dem kriegerischen Neger bewacht wurde passiert und vor ihm lag die Kreuzung, hinter der sich die koptische Kirche befand, als er einem kleinen Hof vorbeikam, auf dem sich zahlreiche Männer versammelt hatten und er fragte sich, was da wohl los sein mochte. Beim Näherkommen sah Johann, dass die Menge um einen Geschichtenerzähler versammelt war. Er thronte auf einem reich verzierten Stuhl im Schatten eines Hauses. Neben ihm saß auf einem einfacheren Stuhl ein Musiker, der seinen Vortrag auf einem Saiteninstrument begleitete, das Johann nicht kannte. Der Erzähler war ein alter, magerer Mann mit dürrem Bart, goldenen Ohrringen und großem Turban. Seine Stimme war sonor, aber er sprach so schnell, dass es Johann ganz schwindlig wurde. Auch waren die vielen Kehllaute der arabischen Sprache für seine europäischen Ohren äußerst gewöhnungsbedürftig. Was mochte der alte Mann wohl erzählen? Vielleicht ein Märchen, wie die Geschichte von Sindbad dem Seefahrer oder die Geschichte einer unglücklichen Liebe?  Â
Johann unternahm einen halbherzigen Versuch, den Anblick der pittoresk gewandeten Menschen zu genießen, denn er hatte sich in der Warteschlange vor dem Zoll geschworen, den Aufenthalt in Ägypten als Urlaubsreise zu betrachten, falls es ihnen nur gelingen sollte, die Mumie ins Land zuschmuggeln, aber es wollte ihm nicht gelingen. Zwar hatte die Szenerie unbestreitbar etwas von Tausendundeiner Nacht, aber in Johanns Augen sahen die dunkelhäutigen, vermummten Gestalten mit ihren Krummdolchen in den Gürteln wie Straßenräuber oder Raubmörder aus. Wie mochte er selbst in seiner europäischen Kleidung ihnen erscheinen?
Johann sagte sich, dass mit etwas Glück einer der Zuhörer Menas kannte oder vielleicht sogar wusste, wo er sich gerade aufhielt. Schließlich befanden sie sich fast in Sichtweite der Himmelfahrtskirche. Einige Augenblicke lang blieb Johann zögernd stehen, denn selbst zu Hause sprach er nur ungern Fremde an. Außerdem bezweifelte er, dass einer der Ägypter Englisch sprach. Dann gab er sich innerlich einen Ruck, da er wusste, dass dies wahrscheinlich die einzige Möglichkeit war, den Priester doch noch zu finden.
„Entschuldigen Sie Sir, kennen Sie zufällig den Priester Menas?“, fragte er einen vornehm gekleideten Mann mittleren Alters, da dieser etwas abseits von der Menschenmenge stand.
Der Mann blickte Johann einen Augenblick lang so perplex an, als ob er noch nie einen Europäer gesehen hätte. Dann überschüttete er ihn mit einem von ausdrucksvollen Gesten begleiteten Redeschwall, den Johann nicht verstand, da der Mann arabisch sprach, aber er hatte nicht den Eindruck, dass das Wort „Menas“ darin vorkam. Johann zuckte mit den Schultern und schüttelte dann ganz langsam den Kopf. Immer noch starrte ihn der Ägypter an, und Johann fragte sich warum. Da ihm nichts Besseres einfiel hielt er dem Einheimischen seinen Stadtplan vor die Nase und deutete auf die koptische Kirche, aber sein Gegenüber verstand nicht, was er damit bezweckte. Wahrscheinlich konnte er die lateinischen Buchstaben nicht lesen.
„Menas?“, fragte Johann nochmals, so deutlich artikulierend wie er nur konnte.
Mehrere Zuhörer des Geschichtenerzählers drehten sich zischend um und bedeuteten ihm mit auf die Lippen gelegtem Zeigefinger, nicht zu stören.
„Wer möchte mit ihm sprechen?“, fragte ein kräftiger Mann zurück, den dies nicht zu kümmern schien.
Tiefe Falten durchfurchten die Haut seines von der Sonne geröteten Gesichts. Oder hatte auch der Alkohol seinen Beitrag dazu geleistet? Sein Haar war schütter, der Bart dürr und struppig, aber beide waren aber noch glänzend schwarz. Schwarz war auch sein Gewand, das sich von der farbigen Kleidung der Umstehenden abhob. Ansonsten sah er aus wie die anderen Ägypter. Johann fand den Fremden wenig vertrauenserweckend, aber wenigstens sprach er Englisch.
„Mein Name ist Johann Berggruen und ich suche den Priester Menas, weil ...“, begann er vorsichtig.
„Der Sohn von Bernhard Berggruen?“, unterbrach der Fremde erstaunt und musterte Johann von Kopf bis Fuß.
Johann dämmerte es, dass er Menas gefunden hatte, aber dieser entsprach nicht gerade der Vorstellung, die er sich von einem Geistlichen gemacht hatte. Ein blasses, vergeistigtes Männlein hatte er erwartet, keinen korpulenten Trunkenbold.
„Ja, der bin ich“, bestätigte er seinem Gegenüber, „Mein Bruder Peter ist auch hier. Er wartet im Hotelzimmer, aber auch er würde gern mit Ihnen sprechen.“
„Die Söhne von Bernhard in Alexandria?“, rief der Priester so laut aus, dass die Umstehenden sich missbilligend nach ihm umblickten, aber diesmal zischte niemand. „Ich kann es gar nicht fassen!“
Wider musterte er Johann, der sich langsam in seiner Haut unwohl fühlte. Stimmte etwas mit ihm nicht?
„Genauso sah dein Vater aus, als ich ihn erstmals sah“, verkündete er schließlich und Johann war verblüfft über diesen Kommentar, denn er selbst hatte keinerlei Familienähnlichkeit dem Mann erkennen können, der behauptet hatte, sein Vater zu sein. „Wie geht es ihm? Ich habe lange nichts mehr von ihm gehört?“
Johann zog sich bei dieser Frage der Magen zusammen. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber wie konnte er nur so dumm sein, nicht zu bedenken, dass der Priester seit Vaters Abfahrt keine Nachrichten mehr von ihm erhalten hatte und daher nicht wusste, dass er tot war! Krampfhaft suchte Johann nach den richtigen Worten, aber er fand keine Formulierung, die die schrecklichen Vorkommnisse beschönigt hätten.
„Er ist tot“, erklärte er schließlich nüchtern und ohne Umschweife. „Einen Tag nachdem er zu Hause zurückgekehrt ist wurde er krank und wenige Tage später ist er gestorben.“
Menas wurde blass, seine Augen weiteten sich und Johann fragte sich, wovor der Priester sich fürchtete.
„Das ist ja schrecklich! Ich habe ihm doch gesagt, dass er hätte in Ägypten bleiben sollen!“, entfuhr es ihm. Einen Augenblick lang starrte er fassungslos auf den Boden und keiner von beiden sagte etwas. Die melodische Stimme des Märchenerzählers und das ihn begleitende Seiteninstrument waren die einzigen Geräusche im Hof. „Aber, was stehen wir hier herum? Lass uns in meine Wohnung gehen! Dort können wir uns ungestört unterhalten!“
Johann nickte zustimmend, obwohl ihn die Vorsicht des Priesters erstaunte, denn es hatte sich doch eben noch gezeigt, dass hier keiner Englisch verstand. Aber Menas war hier zuhause und er wusste, sicher was er sagte. Sie verließen also die Menschenansammlung. Der Priester, den der Vaters in seinen Briefen erwähnt hatte ging in Richtung der kleinen koptischen Kirche und es zeigte sich, dass für sein fortgeschrittenes Alter und seinen feisten Körper sehr behände war.
„Warum hat Vater nur all die Jahre nichts von sich hören lassen?“, fragte Johann unterwegs etwas kleinlaut.Â
Der Priester warf ihm einen schuldbewussten Blick über die Schulter zu und Johann sah einen Schatten der Angst über sein Gesicht kriechen.
„Vielleicht ein andermal! Dafür bist du noch zu jung!“
„Ich bin bereits einundzwanzig und“, protestierte Johann lautstark, der diesen Spruch er schon immer gehasst hatte. Wer sich dahinter verschanzte hatte entweder etwas zu verbergen oder er hatte selbst keine Ahnung. „Ich habe außerdem ein Recht darauf, zu erfahren, was in Ägypten geschehen ist“, fügte er nach einer Weile hinzu, aber der Priester blieb ihm weiterhin eine Erklärung schuldig. Den restlichen Weg zu seinem Haus legte er schweigend zurück.
Es stellte sich heraus, dass Menas keinesfalls in einem der an die Kirche angrenzenden Häuser wohnte, wovon die Brüder ganz selbstverständlich ausgegangene waren, sondern am Ende der Gasse. Das würfelförmige, weißgetünchte Haus unterschied sich in nichts von den Nachbargebäuden und Johann fand seine Meinung bestätigt, dass ihr Unterfangen ohne Vorankündigung die Kirche aufzusuchen aberwitzig gewesen war.
Warum hat Peter ihm keine Nachricht unter dem Kirchenportal hindurch geschoben? fragte er sich und ihm wurde bewusst, dass er dies hätte auch selbst tun können, aber er hatte die Organisation der Reise völlig dem Bruder überlassen. Das muss sich dringend ändern, nahm er sich vor.
Menas schloss die Haustür auf und ein junger Diener eilte herbei. Der Hausherr sagte - auf Johann deutend – zu ihm einige Worte in einer Sprache, die Johann für koptisch hielt, aber er war sich nicht ganz sicher. Er stand leicht verunsichert daneben und bewunderte den farbigen Kelimläufer, der den Boden der schmalen Diele bedeckte. Der Diener erwiderte etwas und stieg dann die Treppe hinauf. Ohne ein Wort an seinen Gast zu richten, verschwand der Priester in der angrenzenden Küche, wo er ein Feuer auf dem Herd entzündete. Die Küche war bis in vier Fuß Höhe mit Keramikplatten gekachelt, auf deren blauen Grund weiße Arabesken ausgespart waren.
„In welchem Hotel seid ihr eigentlich abgestiegen?“, fragte der Priester unvermittelt.
„Im Alexander the Great“, erwiderte Johann, der sich auf einen Stuhl hatte fallen lassen alarmiert. „Stimmt etwas nicht mit dem Hotel? Es ist uns von einem englischen Major empfohlen worden.“Â Â
„Nein, es ist so gut oder schlecht wie jedes andere“, beruhigte Priester Menas ihn, „aber wollt ihr nicht lieber bei mir wohnen? In meinem Haus ist genug Platz für drei.“
Johann hätte gern spontan zugesagt, aber er wollte diese Entscheidung nicht ohne den Bruder treffen. „Da ist sehr nett von Ihnen, dies anzubieten“, erwiderte er daher ausweichend, „aber ich würde gern Peter fragen, was er davon hält.“
„In Alexandria ist schon mancher deiner Landsleute unter die Räder gekommen. So sind viele der hier eingeströmten Europäer als Hafenarbeiter geendet und es wuchs in Alexandria eine deutsche Gemeinde heran. Damit wenigstens die Kinder eine Schulausbildung erhalten hat die Generaloberin der Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Karl Borromäus 1884 einige Schwestern nach Alexandria gesendet, die eine deutsche Schule gegründet haben.“
Menas hatte wegen der Hitze den obersten Knopf seines Gewandes geöffnet. Nun schloss er ihn wieder und dann wanderte sein Blick über die Kleidung seines Gasts, „Ich hole für dich und deinen Bruder Kleidungsstücke, mit denen ihr nicht mehr auffallt wie bunte Hunde. Außerdem schicke ich einen Boten ins Hotel zu deinem Bruder.“
Ohne eine Antwort abzuwarten verließ er den Raum und Johann hörte durch die offenstehnde Tür, wie Menas mit dem jungen Diener sprach, der daraufhin das Haus verließ. Kurze Zeit später kam der Hausherr mit zwei langen Umhängen aus naturfarbener Wolle zurück, von der Art, wie sie die Beduinen trugen und er übereichte sie Johann.
„Du kannst dich umziehen, während ich etwas zu Essen hole“, sagte er in einem befehlsgewohnten Ton und betrat die benachbarte Speisekammer, die bis zur Decke Lebensmittel angefüllt war.
Johann folgte ihm aus Neugier, das Gewand über den Arm gelegt. Manches kannte er, anderes war ihm fremd. Von der Decke hingen geräuchertes, in Streifen geschnittenes Fleisch, Speck und Schinken. Salamiwürste lagen neben Fladenbroten und einem Honigtopf auf dem Regal. Ein großer Mehlsack stand neben kleinen Säcken mit Linsen und Bohnen in den Ecken und vor dem winzigen Fenster standen Körbe mit Äpfeln, Aprikosen und Datteln. Hinter der Tür, in der kühlsten Ecke fanden sich Käse, Butter, Milch, Eier und ein Kasten mit Weinflaschen.
Bevor ihn der Priester tadeln konnte, kehrte Johann in die Küche zurück und zog sich den Umhang über. Im gleichen Augenblick kam Menas mit einem Tablett voller Lebensmittel zurück, das er auf der Anrichte abstellte. Dann legte er zwei Gedecke, Teller und Becher auf den Tisch, mischte Salat mit Oliven, Rosinen und Tomaten und schnitt einige Scheiben von einem großen Schafskäse ab, legte flache, trockene Weißbrotfladen neben die Teller und goss aus einem Tonkrug roten Wein in beide Becher.
„Wohl bekomm’s“, sagte der Priester und nahm auf dem Stuhl gegenüber Johann Platz.
Johann hatte zwar bereits im Hotel gegessen, aber das halbrohe Fleisch war ihm so zuwider gewesen, dass er die Hälfte hatte zurückgehen lassen. Daher machte er sich nun mit großem Appetit über den Imbiss her. Als er einen Schluck Wein trank, goss ihm Menas sofort nach. Es was offensichtlich, dass dieser keine Gäste mochte, die seinen Wein verschmähten.
„Und warum seid ihr nach Ägypten gefahren?“, fragte er nach einer Weile und warf dabei Johann einen skeptischen Seitenblick zu. „War euch das Schicksal eures Vaters keine Mahnung?“Â
Johann begann kauend und mit vollem Mund von der Rückkehr des Vaters und den darauf folgenden Ereignissen zu berichten, denn er hatte die Hoffnung, dass ihn das Mahl von den schrecklichen Erinnerungen ablenken könnte. Als er aber beim Besuch des Schattens angelangt war, verging ihm der Appetit. Mühsam würgte er den Bissen herunter, den er gerade im Mund hatte und schüttete ihm dann den restlichen Wein nach.
„Früher hätte ich gesagt, dass dies alles finsterster Aberglauben, ja gottloses Geschwätz sei“, erwiderte Menas, der Johann mit großer Aufmerksamkeit zugehört hatte, „aber inzwischen habe ich Dinge gesehen …“ Der Priester stockte einen Augenblick und es war unübersehbar, dass es ihn bei der bloßen Erinnerung an das, was er gesehen hat schauderte. Johann hoffte inständig, dass er nicht zu sehr ins Detail gehen würde, denn er befürchtete dies könnte ihm weitere Alpträume verursachen.
„Wo ist diese Mumie eigentlich momentan, noch immer im Keller eures Hauses?“, fragte Menas nach einer Weile und er blickte Johann ernst an.
„Nein, sie ist im Hotelzimmer“, antwortete er. „Peter ist dort geblieben, damit sie niemand stielt.“
„Ihr habt sie nach Ägypten zurückgebracht? Wenn jemand das bei der Einreise bemerkt hätte, wärt ihr in Teufels Küche gekommen!“ Der Priester sprang mit verärgertem Gesicht von seinem Stuhl auf. „Was habt ihr eigentlich damit vor? Ihr wollt sie wohl nicht allen ernstes in die Gruft zurückbringen?“
„Doch! Ich möchte nicht riskieren, nochmals von dem Schatten heimgesucht zu werden“, insistierte Johann, „Wissen Sie woher die Mumie stammt?“
„Nein“, erwiderte der Priester etwas zu schnell für Johanns Geschmack. „Ich habe deinen Vater seit Monaten nicht gesehen. Ich wusste noch nicht einmal, dass er vorhatte, nach Hause zurückzukehren.“
Johann wurde bewusst, dass er sich niemals gefragt hatte, ob der Vater in Alexandria oder sonst wo in Ägypten einen Hausstand besessen hatte.
„Hat er denn nicht in Alexandria gelebt?“, fragte er vorsichtig nach.
Menas fuhr sich mit den kräftigen Fingern durch die dunklen Haare. Dann erhob er sich von seinem Stuhl, ging zum Herd und blies in die Glut, die er darauf entfacht hatte und stellte einen Wasserkessel darauf.
„Er ist ab und zu bei mir vorbeigekommen, hat mir aber niemals erzählt, wo er in der Zwischenzeit gewesen ist. Vielleicht war es auch besser so“, erklärte er nach einer Weile in einem entschuldigenden Tonfall, aber Johann konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass der alte Priester etwas vor ihm verheimlichte. Â
Dieser füllte in aller Seelenruhe Tee in ein metallenes Teeei, hängte es in eine alte Kanne, goss kochendes Wasser darüber und nahm dann endlich wieder am Küchentisch Platz.
“Aber die Mumie muss bis heute Abend aus dem Hotelzimmer verschwunden sein, wegen der Diebe und weil ich nicht mit ihr in einem Raum …“, begann Johann und im gleichen Augenblick fiel ihm ein, dass der Bruder wahrscheinlich mit der Mumie auf den Weg zu dem Haus war, in dem er sich gerade befand und er beendete seinen angefangenen Satz nicht.
„Die Mumie könnt ihr in die Krypta meiner ehemaligen Kirche bringen. Das ist geweihter Boden, dort seid ihr in Sicherheit vor ihr“, sagte er nach einer Weile, aber er wirkte noch immer verärgert.
„Das ist eine gute Idee“, erwiderte Johann und ein Stein fiel ihm vom Herzen, als ihm plötzlich ins Bewusstsein kam, dass der Priester etwas von „ehemaliger“ Kirche gesagt hatte.
„Wieso ehemalige Kirche?“, fragte er dann erstaunt, „ich dachte, Sie sind der Priester der Himmelfahrtskirche?“
Der Freund des Vaters schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin im Ruhestand, schon seit mehreren Monaten. Aber wir können uns auf den jungen Priester verlassen, der meine Stelle übernommen hat.
„Da ist noch etwas, was ich Ihnen sagen wollte“, sagte Johann einen Augenblick später mit leiser Stimme und überreichte Menas das Notizheft des Vaters, denn er war mittlerweile zur Ãœberzeugung gelangt, dass er dem Priester vertrauen konnte. „Das habe ich in Vaters Tasche gefunden, aber ich kann den Text nicht lesen.“
Menas riss ihm das Heft förmlich aus der Hand. Er öffnete es und seine Augen wanderten schnell über die erste Seite.
„Kein Wunder, dass du den Text nicht lesen konntest. Das liegt daran, dass er auf Koptisch verfasst ist“, bemerkte er dann mit dieser Mischung aus salbungsvollen Wohlwollen und herablassender Ãœberheblichkeit, in der Johann nun endlich den Priester wiedererkannte.
„Dann ist der Inhalt sicher sehr persönlich, wenn Vater nicht wollte, dass jeder es lesen kann“, entfuhr es Johann und er streckte die Hand nach dem Heft aus, denn er war nicht gewillt, sich die Aufzeichnungen des Vaters wegnehmen zu lassen, aber der Priester machte keine Anstalten, ihm diese zurückzugeben.
„Ich werde den Text für euch ins Englische übersetzen“, versprach er in einem väterlichen Tonfall. „So könnt ihr sowieso nichts damit anfangen.“
Johann ärgerte sich, dass er nicht auf die Ankunft des Bruders gewartet hatte, denn er wusste, dass dieser ihm später Vorwürfe machen würde. Aber es war geschehen. Was sollte er nun tun? Dem Freund des Vaters das Heft mit Gewalt entreißen? Eigentlich konnte er nur hoffen, dass der Priester das Heft freiwillig wieder herausrückte. Argwöhnisch beobachtete er den Hausherrn, der seinerseits mit gerunzelter Stirn das Heft studierte. Seine Lippen bewegten sich, aber er sprach kein Wort. Johann wagte kaum zu atmen, so gespannt war er darauf, endlich zu erfahren, was Vater in das Heft notiert hatte. Vielleicht half es ihm zu verstehen, warum er solange in Ägypten geblieben war, aber noch immer schwieg Menas sich aus.
„Spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter!“, beschwerte sich Johann daher nach einer Weile, „und verraten Sie mir endlich, was da drin steht!“
„Es ist leider noch zu früh, um etwas Genaueres sagen zu können“, vertröstete ihn Menas, „es fällt mir schwer den Text zu verstehen, denn das Koptisch deines Vaters ist sehr schlecht und von der Handschrift will ich gar nicht reden.“ Â
„Aber Sie haben doch sicher das eine oder andere Wort verstanden“, meinte Johann verärgert.
Der Priester zuckte mit den Schultern und blätterte weiter in dem Heft herum, während Johann trübsinnig und mit seinem Schicksal hadernd aus dem Fenster schaute. Er schreckte ganz plötzlich aus seiner melancholischen Lethargie auf, als er hörte wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Aus der Diele drangen mehrere männliche Stimmen in die Küche und einen davon gehörte Peter. Johann sprang von seinem Stuhl auf und eilte ihm entgegen. Menas folgte ihm bedächtig. Zwei Lastträger waren gerade im Begriff, die Koffer und die große Transportkiste durch die Wohnungstür zu transportieren.
„Wie siehst du denn aus?“, fragte Peter lachend und musterte Johann von Kopf bis Fuß.
„Priester Menas“, Johann deutete auf den Hausherrn und fragte sich im gleichen Augenblick, ob der Freund des Vaters diesen Titel noch trug, obwohl er sein hohes Amt nicht mehr innehatte, „hat mir das Gewand gegeben, damit ich auf der Straße nicht so auffalle. Für dich liegt noch so ein Beduinen-Gewand in der Küche.“
„Lass mich sehen!“ Das Gesicht des Bruders strahlte vor einer fast kindlichen Begeisterung. „So ein Gewand wollte ich schon immer besitzen.“
Peter schnappte sich das Gewand und hielt es sich vor den Körper. Seine Augen suchten vergebens einen Spiegel.
„Wir dürfen die Mumie in die Krypta der Kirche bringen“, unterbrach Johann seine Bemühungen, da es ihm gar nicht behagte, dass er sich schon wieder unter einem Dach mit der Versandkiste mit ihrem schrecklichen Inhalt befand. „Mir wäre es lieb, wenn wir sie dorthin transportieren lassen, bevor er es sich anders überlegt.“
Peter warf ihm einen dieser „womit habe ich das verdient“-Blicke zu, die Johann so hasste, aber dann öffnete er die Hautür und rief die beiden Lastträger zurück.
„Mein Bruder sagt, dass Sie die Mumie verstecken können?“, fragte der Bruder den Priester und Johann zog sich in der Küche zurück. Er machte keinerlei Anstalten, beim Transport zu helfen, denn er wollte weiterhin so wenig wie möglich mit der Mumie zu tun haben. Durch die Küchentür hörte er, dass die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Dann war Johann allein im Haus.   Â
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„Du bist also Peter!“, sagte der Priester, als er den älteren Sohn seines verstorbenen Freundes im Sonnenlicht sah und musterte ihn dabei verstohlen von der Seite, „du siehst deinem Bruder nicht sehr ähnlich.“
„Ich bin eher nach der Mutter geraten“, erwiderte Peter, der sich über den Kommentar ärgerte. Wenigstens hatte er nicht auf die geringe Familienähnlichkeit zum Vater hingewiesen. „Genauso wie unsere kleine Schwester, die in dem selben Jahr geboren wurde, in dem Vater nach Ägypten aufgebrochen ist.“
Hoffentlich bekam dieser vierschrötige Kerl wenigstens ein schlechtes Gewissen bei der Erwähnung der armen Sophie, die vaterlos aufwachsen musste, dass er sich zehn Jahre lang mit dem Vater in Ägypten herumgetrieben hatte, dachte Peter schlecht gelaunt, während er zusah, wie die Träger die Versandkiste die Straße entlangtrugen.
„Dein Bruder hat sich die Sache mit der Mumie offenbar sehr zu Herzen genommen?“, fragte der Priester vorsichtig nach.
Peter nickte.
„Ich habe gehofft, dass es ihm hilft, wenn wir die Mumie in ihre Gruft zurückbringen. Wissen Sie vielleicht woher…“
„Das ist nicht unbedingt nötig“, unterbrach Menas ihn, „vielleicht kann ich euch auch so helfen.“ Er machte eine einladende Handbewegung in Richtung der orthodoxen Kirche. „Dazu muss ich mir aber die Mumie etwas genauer ansehen.“
„Aber ich möchte nicht, dass sie ausgewickelte wird!“, protestierte Peter, der sich unangenehm an Moritz erinnert fühlte, mit dem er nach dem Diebstahl der Mumie im Streit auseinander gegangen war, da dieser geradezu besessen von der Mumie gewesen war.
Peter hatte die ganze restliche Nacht in seiner Heimatstadt neben der Mumie wachen müssen, weil Moritz sich sonst an ihr vergriffen hätte. Wenn er nur daran dachte, wie er damals im wahrsten Sinne des Wortes zwischen dem geradezu hysterischen Bruder und dem krankhaft neugierigen Freund gestanden, hatte wurde Peter von ohnmächtiger Wut ergriffen.Â
„Ich mache nichts ohne Rücksprache mit dir“, versprach der Priester, „aber ich habe noch eine Frage an dich.“ Peter sah den alten Mann an und ihm schwante nichts Gutes. „Wenn ich Johann richtig verstanden habe, dann bist du ihm in der Nacht als er den Schatten gesehen haben will zu Hilfe gekommen?“ Peter nickte atemlos. „Hast auch du diese Erscheinung gesehen, die deinen Bruder so geängstigt hat?“Â
„Das nicht“, gab Peter zu, „aber das Phantom - oder was auch immer es war – hat Johanns Mantel mitgenommen. Ich nehme an, er hat Ihnen davon erzählt?“
„Er hat dies erwähnt“, sagte Menas lapidar, „aber der Fall wäre klarer gewesen, wenn auch du den Schatten gesehen hättest.“
Während dieses Wortwechsels hatten die Männer die koptische Kirche erreicht und Menas holte aus seiner Tasche einen riesigen Schlüssel. Erst im dritten Anlauf gelang es ihm, das Schlüsselloch zu treffen und Peter fragte sich ob dies an der offensichtlichen Trunksucht des alten Mannes oder an seinen schlechten Augen lag. Â
Als die Tür schließlich den Blick auf das Kircheinnere freigab, staunte Peter über die unerwartet prächtigen Mosaiken, die den Obergaden des Langhauses und die Apsis zierten. Das durch die Seitenschiffsfenster einbrechende Licht entfachte ein wahres Feuer auf den goldenen Steinchen des Mosaikgrundes. Die Luft roch nach Weihrauch, Russ und Staub. Dieser charakteristische Kirchengeruch erinnerte Peter an die Mutter und er nahm sich vor, ihr endlich zu schreiben, dass sie wohlbehalten in Ägypten angekommen waren.Â
Die Träger hoben die Versandkiste, die sie auf der Straße abgestellt hatten wieder hoch und schleppten sie durch das Kirchenportal. Der Priester wies ihnen den Weg durch das Kirchenschiff, hinter die Ikonostasis, eine steile Treppe hinunter, bis in die Krypta hinab. Dann bezahlte er die Männer und gab ihnen offenbar ein reichliches Trinkgeld, denn sie bedankten sich überschwänglich. Peter lächelte ihnen zu, da er noch nicht einmal wusste, was „danke“ auf Arabisch hieß und sie winkten würdevoll zurück.
Dunkel war es in der Krypta, nur drei kleine Fenster kurz unter der Decke spendeten spärliches Licht. Der unterirdische Raum mit seinen steinernen Tonnengewölben erinnerte Peter an eine Gruft aus einem Schauerroman.
„Jetzt wollten wir uns doch erst einmal den Sarg betrachten“, meinte Menas und er sah Peter fragend an.
Alles in Peter sträubte sich gegen diesen Vorschlag. Aber konnte er dem Priester tatsächlich seine Bitte abschlagen? Wohl kaum, denn dies verstieß gegen die elementarsten Regeln der Höflichkeit. Also nickte er fatalistisch, um sich nicht die Blöße zu geben, ein Verbot auszusprechen über das Menas sich hinwegsetzen würde.
Aber Peter befürchtete, dass dieser sich nicht damit begnügen würde, die Versandkiste bei sich aufzubewahren. Bestimmt würde er heimlich zurückkommen und die Mumie auspacken! Warum war Johann nicht mitgekommen? Immer, wenn er die Hilfe des Bruders brauchte, ließ er ihn im Stich!
Zu Peters Erstaunen holte der Priester ein Stemmeisen aus seiner Tasche. Wenn es noch eines Beweises beduft hätte, dass er von Anfang an vorgehabt hatte, die Mumie auszuwickeln so besaß Peter ihn nun. Er schalt sich selbst einen Narren, dass er dem neugierigen Priester seine Mumie ausgeliefert hatte. Dieser machte sich sogleich mit der Professionalität und Geschicklichkeit eines Steinmetzen an der Kiste zu schaffen. Bald war der Deckel der Kiste aufgehebelt und der Priester stellte sich auf die Zehenspitzen, um über deren Rand zu schauen. In seinem Gesicht spiegelte sich die Enttäuschung über die alten Kleidungsstücke wieder, die er im Inneren der Kiste erblickte. Mit einem verächtlichen Schnauben riss er sie aus der Kiste und warf sie auf den Boden. Dann beugte er sich erneut nach vorn und diesmal huschte ein Lächeln über seine feisten Züge. Seine Augen glitten über die Reihen von Hieroglyphen auf dem Bauch des menschengestaltigen Sarkophags. Dabei bewegten sich seine Lippen im stummen Gespräch, aber zu Peters Erstaunen berührte er den Sarkophag nicht einmal.
„Das erklärt wirklich alles“, meinte Menas schließlich gedehnt, Peter anblickend. „Auf dem Deckel steht ein Fluch! Ich lese ihn dir vor: Der Tod wird auf schnellen Schwingen zu demjenigen kommen, der die Ruhe meiner Mumie stört. Verweist ihn des Tempels, ihn und seine Söhne. Er sei ausgestoßen. Seine Nahrung sei ihm genommen. Ausgelöscht sei sein Name.“
„Das ist ja schrecklich!“, entfuhr es Peter lauter als er beabsichtigt hatte und seine Stimme hallte schaurig wieder in der steinernen Gruft. Eine schleichende Kälte stieg seine Arme hinab bis in die Finger. „Warum um Gottes Willen hat Vater diese Warnung nicht ernst genommen? Wie konnte er nur diese verfluchte Mumie in unser Haus bringen? Ist er nur zurückgekehrt um uns zu verderben?“
Der Priester seufzte leise. Dann sah er einen Augenblick lang nachdenklich auf die staubigen Terracottaplatten, die den Boden der Krypta bedeckten.
„Verfluch deinen Vater nicht. Er wusste nicht, was er tat, denn er konnte keine Hieroglyphen lesen. Nur sehr mühsam hat er etwas koptisch gelernt, aber die heilige Ãœberlieferung der alten Ägypter verstand er nicht.“
„Warum hat er eigentlich Koptisch gelernt, wo Sie doch fließend englisch sprechen?“, wollte Peter wissen, dem dies seltsam vorkam.
War der Vater nicht nach Ägypten gereist, um die Kultur der Pharaonen zu erforschen? Wozu verwandte er dann soviel Mühe darauf die Sprache einer modernen Minderheit zu erlernen?
„Vielleicht, weil er in mir einen guten Lehrer gefunden hatte“, behauptete der Priester. Dann sah er Peter ernst in die Augen. „Jede Mumie trägt mehrere Amulette. Das wichtigste von ihnen ist der Herzskarabäus. Wenn wir ihn entfernen, dann sollte der Fluch auf dem Sargdeckel wirkungslos sein.“
„Haben Sie dies schon einmal getan?“, fragte Peter skeptisch und ein Blick in das versteinerte Gesicht seines Gegenübers überzeugte ihm vom Gegenteil. „Nicht, dass dies die Mumie noch rachsüchtiger macht. Außerdem würde Johann nicht daran glauben. In seinem Interesse müssen wir die Mumie in ihr Grab zurückbringen!“
Zum ersten Mal in seinem Leben schob Peter die Alpträume seines Bruders als Vorwand vor, denn mittlerweile war auch ihm die Mumie nicht mehr geheuer. Je schneller sie sich ihrer entledigten desto besser!Â
„Genau das wollte ich eigentlich vermeiden.“ Der Priester stieß einen laut vernehmlichen Seufzer aus. „Dein Bruder hat mir ein Heft mit Notizen eures Vaters überlassen. Leider sind sie in fehlerhaftem Koptisch verfasst und ich kann seine Handschrift nur schwer entziffern, aber ich habe dem Text entnommen, dass er die Mumie in einer der Sobek-Oasen gefunden hat.“
„Dann sollten wir uns am besten so schnell wie möglich dorthin auf den Weg machen“, erklärte Peter spontan, der am liebsten sogar auf die Ãœbernachtung im Haus des Priesters verzichtet hätte.
Die Miene seines Gegenübers verfinsterte sich, falls dies überhaupt noch möglich war.
„Das sagst du so leichthin! Um zur Nordoase zu gelangen, muss man sich weitab der üblichen Handelswege in das Meer ohne Wasser wagen, in die gewaltige Sahara, die kaum je ein Mensch durchquert hat. Mich jedenfalls bekommen keine zehn Pferde dorthin. Außerdem hat die Karawanensaison noch nicht begonnen. Erst am Ende des Sommers sind die Kamele gestärkt und die Nomaden, denen sie gehören haben Futtervorräte angelegt. Die alten Ägypter sprachen von der Jahreszeit der Ãœberschwemmung und seitdem hat sich nicht viel geändert, zumindest was die Sobek-Oasen betriff.“
Das wäre auch zu schön gewesen, dachte Peter und er musste sich eingestehen, dass der Freund des Vaters, auf den er so große Erwartungen gesetzt hatte eine Enttäuschung für ihn war. Zwar konnte dieser wunderbare Sätze formulieren, aber offenbar war er noch weniger unternehmungslustig als der Bruder.
„Trotzdem werden wir dorthinfahren!“, erklärte Peter trotzig.
„Vielleicht solltest du zuerst mit deinem Bruder Johann reden, bevor du eine voreilige Entscheidung triffst, die du später bereust.“ Der Priester warf Peter einen Seitenblick zu. „Aber vorher habe ich noch eine wichtige Frage an dich: „Wer hat die Mumienhülle angefasst?“
Peters Magen zog sich zusammen. Diese Frage hatte er bisher verdrängt. Ob auch er vom Fluch getroffen war? Aber dann hätte er sich längst geäußert und außerdem weigerte er sich immer noch an diesen heidnischen Unfug zu glauben.
„Johann und ich, Vater natürlich und ein Kommilitone von mir“, Peter verschwieg, dass dies geschehen war als sie die Mumie aus der Apotheke entwendet hatten. „Meinen Sie, der Fluch wird uns alle treffen?“
„Johann ist ein Träumer, ich weiß nicht, ob er sich all dies nur einbildet, aber den Tod deines Vaters hat der Fluch bewirkt“, antwortete Menas und Peter fragte sich, warum der Priester versuchte, ihm Angst zu machen, wo er sich gerade wieder etwas beruhigt hatte. Â
„Solltet ihr tatsächlich den Leichtsinn besitzen, zu dieser Oase aufzubrechen, wovon ich eigentlich nur abraten kann, dann besorgt euch eine Zwiebel des Oasenkrokus, der dort wächst. Die alten Ägypter sagen, dass nur ein Aufguss von dieser Zwiebel gegen Schadenszauber zu helfen vermag“, der Priester holte den Schlüssel der Kirche aus der Tasche, „aber dies ist möglicherweise nur ein finsterer Aberglaube.“
Peter musste dies alles erst einmal verdauen. Die alten Ägypter sagen hörte sich fast so an, als ob Priester Menas welche kannte oder bildete Peter sich dies nur ein?
„Ich bin sicher, auch Johann möchte zu dieser Oase reisen“, behauptete er, obwohl er vom Gegenteil überzeugt war, „wir werden uns also schon bald auf den Weg dortin machen.“
„Wie du willst“, meinte Menas, während er Peter zum Ausgang der Kirche begleitete.
Als er die Tür mit seinem großen Schlüssel von außen abschloss, kam ein junger, hagerer Mann in schwarzer Kleidung auf ihn zu und Menas redete – ohne Peter den Fremden vorzustellen - eindringlich auf diesen ein. Dieser machte sich am Schloss der Kirche zu schaffen. Peter gefiel dies gar nicht. In dieser Kirche ging es ja zu wie in einem Taubenschlag. War die Mumie dort wirklich sicher?
„Das ist mein Nachfolger. Ich bin nämlich im Ruhestand“, erklärte Menas lächeln als er die beunruhigte Miene seines Gastes sah. „Ich habe ihn angewiesen, gut auf die Mumie aufzupassen.“
Schon wieder ein Mitwisser mehr, dachte Peter verärgert. Ob auch er neugierig auf die Mumie war?
Vor sich hingrübelnd folgte er dem alten Priester zurück zu seinem Haus, wo Johann gerade damit beschäftigt war im Gästezimmer die Koffer auszupacken. Peter setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke des karg, aber zweckdienlich eingerichteten Raums und berichtete, was der Priester ihm über diese Zwiebel erzählt hatte, wobei er aber den Fluch auf dem Sarkophagdeckel herunterzuspielen versuchte.
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„Und du meint, dass ich keine Alpträume mehr bekomme, wenn ich diesen Zwiebelsaft trinke?“, fragte Johann als der Bruder geendet hatte skeptisch nach.
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„Schaden kann es sicher nicht“, erwiderte Peter, „und wir sollten auch Moritz etwas davon geben. Schließlich ist es meine Schuld, dass er den Sarkophag der Mumie angefasst hat.“
„Das würde ich nicht sagen! Er hat darauf bestanden, dass wir ihn mitnehmen. Er ist selbst dran schuld“, protestierte Johann und Peter sah ihn missbilligend an.
„Trotzdem willst du doch hoffentlich nicht, dass er durch den Fluch zu Schaden kommt?“Â
Johann musste ihm innerlich Recht geben. Seine Reaktion war unbedacht und herzlos gewesen, aber er war momentan zu beunruhigt, um an andere zu denken: Irgendetwas stimmte nicht. Warum schwieg der Bruder darüber aus, wie diese weitere Reise, die er so nebenbei erwähnt hatte aussehen würde?Â
„Haben Sie mittlerweile herausbekommen, woher die Mumie stammt?“, fragte er daher den Hausherrn, der mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt ihm Raum stand. „Doch sicher aus dem Tal der Könige bei Theben?“
„Priester Menas hat in Vaters Heft gelesen, dass Vater die Mumie in einer abgelegenen Oase gefunden hat, deren Name ich noch nie gehört habe“, antwortete Peter statt seiner.
„Kein Wunder, denn die Sobek-Oasen sind auf keiner Karte verzeichnet!“, erklärte der Freund des Vaters mit düsterer Miene. „Macht euch nicht leichtsinnig dorthin auf dem Weg, denn ihr reist in eine andere Welt.“
„Vater hat es geschafft“, wandte erstaunlich heftig Peter ein, „Jetzt sagen Sie uns doch endlich, wie man zu dieser Oase gelangt? Ich nehme an, dass wir uns einer Karawane anschließen müssen? Schließlich sprachen Sie vorhin von der Karawanensaison.“
Johann erschrak, denn er war innerlich auf eine Schifffahrt auf dem Nil gefasst gewesen, nicht auf eine Karawanentour durch die Wüste.
„Im Nildelta liegt ein einsames Fischerdorf. Ich kenne es natürlich nur vom Hörensagen, aber man sagt, dass dort Schmuggler ihre Ware verkaufen…“
„Warum sollten wir uns mit Schmugglern einlassen?“, unterbrach ihn Johann und er dachte sich, dass dieser so genannte Freund seines Vaters keine große Hilfe war.
„Genau, schließlich haben wir nichts zu verbergen!“, stimmte ihm Peter zu, der dem Wortwechsel mit gerunzelter Stirn gefolgt war. „Wir haben gültige Pässe. Außerdem wollten wir nichts Illegales tun. Was also soll diese Heimlichtuerei!“
Der Priester wirkte, als ob er lieber nicht antworten würde, aber da seine beiden Gäste ihn insistierend anblickend, gab er schließlich nach.
„Wie ich schon sagte: Das Grab befindet sich in der dritten Sobek-Oase“, erklärte er schließlich, „aber man kann nicht einfach so zu diesen Oasen reisen. Sie sind auf keiner Karte verzeichnet. Die Schmuggler sind ihre einzige Verbindung mit der Außenwelt.“
Johann fand, dass der Priester auffällig gut informiert war. Ein finsterer Verdacht stieg in ihm auf.
„Woher wissen Sie das alles, wenn es angeblich so geheim ist?“, fragte er daher argwöhnisch nach.
„Ich bin ein alter Priester und habe schon viele Beichten abgenommen…“
Johann fragte sich, ob ihn der Priester für dumm verkaufen wollte. Er suchte nach einer höflichen Formulierung für seinen Verdacht, fand aber dann, dass es nichts zu beschönigen gab.
„Das erklärt nicht, dass Sie soviel über Schmuggler und Karawanen wissen! Schließlich sind sie Priester in Alexandria und nicht im Nildelta!“, entfuhr es ihm. „Ich habe eher den Eindruck, dass Sie diese Oasen aus eigener Anschauung kennen!“
Der Priester sah aus, als ob er schlechten Wein probiert hätte.
„Ja, so ein oder zweimal bin ich schon dort gewesen, aber…“
Johann ärgerte sich, dass der Priester noch immer nicht mit der Wahrheit herausrückte.
„Was haben Sie bei den Schmugglern gekauft?“, unterbrach Peter.
Der Priester sah ihn an, als ob dies eine ziemlich dumme Frage wäre.
„Wein natürlich, es ist teuer und schwierig sich in Ägypten Messwein zu besorgen.“
Peter lachte.
„Und weshalb wollen Sie uns dann auf keinen Fall zu der Oase begleiten?“, wollte Peter wissen und Johann ärgerte sich, dass der Bruder offenbar über seinen Kopf hinweg bereits beschlossen hatte, zu dieser gottverdammten Oase aufzubrechen.
Der Priester schnappte hörbar nach Luft.
„Einmal ist es mir gelungen, lebend von den Sobek-Oasen zurückzukehren und ich möchte mein Schicksal nicht herausfordern. Auch euch kann ich nur raten: überlegt euch, was ihr tut!“
„Vielleicht sollten wir auf ihn hören“, wandte Johann ein, „schließlich kennt er sich hier aus.
Peter wirkte als ob er kurz davorstand, Johann anzubrüllen.
„Hast du mich denn nicht verstanden?“, fragte er dann mit gefährlich ruhiger Stimme, „Auf einer dieser Oasen wächst ein Kraut, das dich von deinen Altträumen befreit. Außerdem sind wir nicht soweit gefahren, um im letzten Augenblick wieder umzukehren. Die Mumie wird in ihr Grab zurückgebracht!“
Johann blickte hilfesuchend zu dem Priester, doch dieser wich seinem Blick aus.
„Jetzt stell dich nicht so an“, fügte Peter etwas umgänglicher hinzu und Johann nickte wider eigenen Willen.
„Ich habe euch gewarnt!“, rief der Priester mit geradezu komischem Pathos aus und Johann fragte sich, ob er in seinem gewohnten Predigerton verfallen war.
„Es gibt aber noch ein Problem. Wir können doch nicht mit Beduinen durch die Wüste ziehen, deren Sprache wir nicht verstehen. Und wie sollen wir in dieser Oase verständlich machen?“, wandte Johann ein, den es mittlerweile geradezu vor dem seltsamen, fremden Land graute. Er war fest davon ausgegangen, dass der Freund seines Vaters ihnen als Ãœbersetzer zur Verfügung stehen würde.
„Du hast Recht. Wir müssen einen Dolmetscher suchen, der uns auf der Reise begleitet“, wandte Peter ein, offenbar etwas in seinem Optimismus gebremst. Dann schaute er den alten Priester an. „Es wäre schön, wenn wir, Ihre“, Peter stockte, offenbar nach einem Wort suchend, „Geschäftsbeziehungen zu den Schmugglern ausnützen könnten.“
Noch immer stand der Hausherr mit dem Rücken an die Wand gelehnt und vermied jeden Blickkontakt mit seinen Gästen.Â
„Wir wäres Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie uns wenigstens zu diesem Schmugglernest begleiten würden“, präzisierte Johann nach einigen Augenblicken qualvoller Stille. „Wir haben ja eigentlich gehofft, dass S i e – Johann dehnte das Wort – für uns übersetzen könnten!“
Noch lieber hätte Johann den Priester gebeten allein diesen berüchtigten Ort aufzusuchen, aber er wusste, dass dieser sich weigern würde. Außerdem war zu befürchtete, dass Priester Menas dort versumpfte, denn Johann bezweifelte, dass er bei den Schmugglern wirklich nur Wein für die Messe erwarb.
Der alte Mann stieß einen leisen Seufzer aus.
„Wenn es denn sein muss, aber nur unter einer Bedingung“, stellte er dann mit vor der Brust verschränkten Armen ultimativ fest, „Nur einer von euch kommt mit. Es ist mir wohler bei der Vorstellung, dass jemand nach uns Erkundigungen einziehen kann, falls wir nicht zurückkommen sollten!“
Ich bleibe hier!“, verkündete Johann, bevor sich sein Bruder zu dieser Bedingung äußern konnte.
9. Alexandria
Johann schlenderte die Erlenstraße entlang und war im Begriff den Theaterplatz zu überqueren, als sein Blick eher zufällig eine Litfasssäule streifte. Er blieb wie angewurzelt stehen, denn er sah unvermittelt in sein eigenes Konterfei. „Johann Berggruen wird gesucht, tot oder lebendig“, stand darunter, „Auf seinen Kopf ist eine Belohung von 1000 Reichsmark ausgesetzt. Er wird gesucht wegen Einbruchs in die Schwanen-Apotheke und Diebstahls von Medikamenten. Sachdienliche Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen, werden von jeder Polizeistation angenommen“.
Johann spürte, wie sich sein Magen zusammenzog und ein Beben durch seinen Körper lief. Er las den Text nochmals und ohnmächtige Wut stieg in ihm auf: Wie konnte der Onkel ihm dies nur antun! Dabei gehörte ihm die Mumie doch gar nicht, denn die Mutter hatte sie ohne die Erlaubnis der Söhne weggegeben!
Oder hatte Wachtmeister Dimpflhuber dieses Kopfgeld auf ihn ausgesetzt? Panisch überlegte Johann, wo er sich vor der Polizei verstecken könnte, aber ihm fiel nichts außer Moritzens Bude ein.
Dann gehe ich doch lieber ins Gefängnis, dachte er sich, aber im gleichen Augenblick verspürte er einen heftigen Ruck unter den Füßen und er wurde von einem Sog erfasst. Draußen heulte der Wind und ein Nebelhorn produzierte einen schrillen Pfeifton, der an einen alten Teekessel gemahnte. Schritte schienen sich zu nähern und wieder zu entfernen. Dann verebbte der Wind ganz plötzlich und die Geräusche verstummten. Johann riss die Augen auf und realisierte, dass er in einem schwankenden Bett lag. Während er sich gähnend räkelte, fragte er sich einen Augenblick lang, ob er wieder von der Galeere des Odysseus träumte, die zum Hades unterwegs war. Aber was hatte der Steckbrief zu bedeuten? Der Traum war so real gewesen oder war das Schiff ein Traum in einem Traum?
Schlagartig kam die Erinnerung zurück: Johann und Peter hatten in Genua eine Passage nach Alexandria auf einem englischen Dampfboot gebucht. Im Frachtraum befand sich ihre Mumie. Sie war in der Transportkiste verstaut, in der Vater sie nach Hause gebracht hatte und Johann fragte sich, ob wohl jemals zuvor eine Mumie nach Ägypten zurücktransportiert worden war.
Wie konnte er nur die zurückliegende Schifffahrt vergessen, die eine einzige Tortur für ihn gewesen war? Das konnte nur an der Erschöpfung durch chronischen Schlafmangel liegen. Johann war niemals zuvor zur See gereist, und er wusste auch warum: Die modernen Schiffe mochten als unsinkbar gelten, aber trotzdem war ihm die Seefahrerei nicht geheuer. Er würde sieben Kreuze schlagen, wenn er endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben würde.
Die Monotonie, das ewige Schwanken des Bodens, der Lärm, der enge Raum, auf den er mit dem Bruder zusammengepfercht war, der sich ständig beschwerte, dass Johann schnarchte. Wie hatte all dies ihn gequält! Zwar verfügte das Dampfschiff über eine – wenn auch mäßig ausgestattete - Bibliothek und einen Salon erste Klasse, aber Johann hatte den Gesprächen mit den anderen Passagieren nicht viel abgewinnen können. Es handelte sich größtenteils um englische Kaufleute, Beamte und Offiziere auf dem Weg zu ihrem Einsatzort, die abends mit einem Glas Sherry auf Königin Victoria anstießen und sich dabei über Pferde und Hunde unterhielten. Wenigsten hatten die Brüder durch die Konversation mit den Mitreisenden ihre brachliegenden Englischkenntnisse auffrischen können.
Ansonsten war seine einzige Abwechslung auf der Fahrt die vergeblichen Bemühungen gewesen, dem Notizbuch des Vaters seine Geheimnisse zu entlocken. Als er nach zwei Tagen noch immer nicht den geringsten Ansatzpunkt gefunden hatte, hatte Johann endlich den Bruder eingeweiht, der ihn wegen seiner Heimlichtuerei gescholten hatte. Mit einem Blick hatte Peter festgestellt, dass der Text in keiner Geheimschrift abgefasst war wie Johann bisher geglaubt hatte, sondern in einer Fremdsprache, die sie beide nicht beherrschten und Johann hatte ihm schließlich widerwillig zugestimmt. Â
Er setzte sich auf die Bettkante und ließ im flackernden Licht der Öllampe, die am Fuß des Bettes festgebunden war, seinen Blick durch die Kabine schweifen. Seit der ägyptische Schatten ihn heimgesucht hatte, bekam Johann im Dunkeln Panikattacken und daher ließ er stets eine Lampe brennen, denn er klammerte sich verzweifelt an die Überzeugung, dass der Schatten dies nicht ertrug. Diese Gewohnheit war ein ständiger Zankapfel zwischen ihm und dem Bruder, den das Licht störte.
Die Kabine war luxuriös eingerichtet, mit Mahagonischrank und Sesseln, die mit rotem Leder überzogen waren, aber Johann war alarmiert, als er bemerkte, dass das Bett des Bruders leer war. Wo mochte nur Peter sein? Johann rappelte sich auf, schlüpfte in seine Pantoffel und öffnete die Kajütentür einen Spalt weit. Draußen graute bereits der Morgen. Hastig kleidete Johann sich an, eilte dann die Treppe hoch, die zum Touristendeck führte und schaute sich oben angelangt nach seinem Bruder um. Er fand ihn über die Reling gelehnt, in die Ferne blickend. Um sich zu ihm zu gesellen, musste Johann die ganze Breite des Schiffes durchqueren.
„Alexandria“, sagte Peter mit der Hand nach vorn deutend, als er den Bruder bemerkte.
„Endlich!“, entfuhr es Johann, denn er hatte die Schifffahrt gründlich satt.
Im fahlen Licht der Morgendämmerung begann sich in der Ferne die Küste abzuzeichnen, aber Johann bemühte sich vergebens, eine Stadt auszumachen. Alles, was er erkennen konnte, war ein winziger weißer Fleck.
*
Peter war von der Vorstellung überwältigt, dass er bald in Ägyptens sein würde, so lange hatte er von diesem Anblick geträumt und so unmöglich war es ihm oft erschienen, dass dieser Traum eines Tages in Erfüllung gehen würde. Ägypten! Der Klang dieses Wortes öffnete eine wahre Schleuse von Gefühlen in ihm. Es war für Peter immer Chiffre eines anderen Lebens gewesen, von dem er ausgeschlossen war, da er zu jung gewesen war, um seinen Vater auf seiner Reise zu begleiten. Am liebsten hätte er das Bild der Küste in sich aufgesaugt, aber er konnte leider nicht viel erkennen, denn das diffuse Licht der Dämmerung verwischte die Konturen.
Ungeduldig und voller Tatendrang ging er auf dem Passagierdeck auf und ab, bis das Linienschiff sich endlich dem Land soweit genähert hatte, dass man Einzelheiten erkennen konnte. Peter starrte auf die Küste, aber er musste sich nach einer Weile eingestehen, dass er maßlos enttäuscht war. Sollte dieses erbärmliche Fischernest tatsächlich Alexandria sein? Die Stadt, die stolz den Namen Alexanders des Großen trug? Die Hauptstadt der Ptolemäer? Peter hatte zwar im Reiseführer gelesen, dass der Hafen von Alexandria weitgehend seine Bedeutung eingebüßt hatte und der Ort daher nur noch sechstausend Seelen beherbergte, aber so trostlos hatte er sich die erste Etappe der Reise nicht vorgestellt.
Der Hafen, den das Schiff schließlich anfuhr, wäre für Peter eine herbe Enttäuschung gewesen, wenn das Stadtpanorama nicht seine Erwartungen erheblich heruntergeschraubt hätte. Das Hafengelände mochte klein sein, aber trotzdem waren die Einreiseformalitäten zeitraubender als vermutet, denn die Warteschlange vor dem Beamten der Einwanderungsbehörde bewegte sich nur sehr langsam von der Stelle vorwärts.
„Was um Gottes Willen möchte der alles wissen?“, fragte Johann mit einem panischen Unterton in der Stimme.
„Keine Ahnung, aber der kann uns nichts tun. Wir haben schließlich gültige Pässe“, erwiderte Peter, obwohl auch ihm die Gründlichkeit des Beamten missfiel.
Er war ein kleines, dünnes Männlein mit brauner Haut und europäischer Kleidung, der genausogut hätte ein braungebrannter Engländer sein können.
Heiß und stickig war es in der Baracke und die Pfeifen der Wartenden verpesteten die Luft. Die meisten kannte Peter vom Sehen, denn schließlich handelte es sich um die Passagiere seines Schiffs. Sein Blick blieb an einer Frau um die zwanzig hängen, die ein weißes Kleid trug und ihr brünettes Haar zu einer eleganten Frisur hochgesteckt hatte. Sie erinnerte ihn an Anneliese und er bedauerte, dass die Fremde in Begleitung ihres Verlobten reiste. Â
„Das klappt doch nie im Leben!“, jammerte Johann und riss Peter damit aus seinen Gedanken. „Selbst wenn dieser Wichtigtuer sich herablässt uns den verdammten Stempel zu geben, bekommen wir wegen der Mumie Ärger mit dem Zoll.“
„Ihm ist es bestimmt viel zu viel Arbeit, die Nägel herauszuziehen und die Kiste aufzuhebeln“, behauptete Peter, aber er war sich mittlerweile seiner Sache nicht mehr so sicher.
„Das hat früher noch viel länger gedauert, ich meine bevor Ägypten britisches Protektorat geworden ist“, erklärte Major Wallace, der offenbar erraten hatte, dass sich die Brüder über den peniblen Beamten beschwerten.
„Englisches was?“, fragte Johann, der sich offenbar nicht besonders gut auf die Reise vorbereitet hatte.
„Protektorat! Offiziell untersteht Ägypten zwar der Hohen Pforte und ist damit Teil des Osmanischen Reichs. Man zahlt weiterhin Tribut an den Sultan, aber wir Briten sind hier die wahren Herrscher. Seitdem ist hier alles viel effizienter geworden“, erklärte Major Wallace mit hörbarem Stolz. Der untersetzte Offizier, dessen Tropenhelm eine Nummer zu klein für seinen Kopf zu sein schien, musterte die beiden Zivilisten mit abschätzigen Blicken. „Wissen Sie eigentlich schon, in welchem Hotel Sie zu abzusteigen gedenken?“
„Nein, wir sind so überstürzt aufgebrochen, dass wir keine Zeit gehabt haben ein Zimmer zu in Alexandria reservieren“, erwiderte Peter und er fragte sich sogleich, ob er zuviel gesagt hatte. „Da wir nur wenige Tage hier bleiben werden, sind wir aber nicht besonders wählerisch“, fügte er daher hinzu, um seine Worte abzumildern. Â
„Das sollten Sie aber, mein Lieber!“, widersprach der Major und zwirbelte seinen blonden Schnurbart. Peter vermutete, dass er dies immer tat, bevor er eine längere Erklärung abgab. „Für einen Europäer ist ein Hotel mit weniger als drei Sternen natürlich nicht zumutbar. In diesem Land sind die Standards beklagenswert niedrig. Wenn ich nur an die Kampagne von 1882 denke! Der Sommer war selbst für Ägypten ungewöhnlich heiß und wir kampierten in der Wüste …“
Wie Peter befürchtet hatte, schwadronierte der Offizier unerbittlich los, denn er wusste, dass seine Zuhörer den Einreisestempel in ihrem Pass benötigen. Major Wallace rühmte also in epischer Breite die Verdienste der britischen Armee im Allgemeinen und seine eigenen im Besonderen. Ein Blick auf das geistesabwesende Gesicht des Bruders zeigte Peter, dass dieser - wie so oft - nicht zuhörte. In diesem Augenblick beneidete er Johann darum, dass er in der Lage war, lästige Zeitgenossen einfach zu ignorieren.
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, kennen Sie sich in Alexandria gut aus“, unterbrach Peter den Redefluss des Majors nach einer Weile, da er den Eindruck hatte, dass ihm bald der Schädel platzte. „Könnten Sie uns vielleicht ein Hotel in Hafennähe empfehlen? Sie wissen schon, wir wollen nicht lang in Alexandria bleiben.“Â
Einen Augenblick lang erstarrte der Offizier mitten in der Bewegung, wie ein Blechspielzeug, dessen Sprungfeder zurückgeschnellt war.
„In diesem Fall kommt für Sie nur das „Alexander the Great“ in Frage“, erklärte er dann, ohne nachzudenken.
„Bestimmt kassiert er Provision für das Vermitteln von Gästen“, flüsterte Johann, der offenbar doch mit halbem Ohr zugehört hatte, dem Bruder zu.
„Dort versteht man wenigstens ein richtiges englisches Frühstück zu bereiten und die Zimmer sind auch akzeptabel.“
„Siehst du, dass ich Recht habe“, kommentierte Johann und um Peters Selbstkontrolle war es geschehen. Bei der Vorstellung, wie der würdige Major an der Rezeption die Hand ausstreckt musste er laut lachen und der Offizier schaute ihn pikiert an.
Im gleichen Augenblick bedeutete der Beamte der Einwanderungsbehörde den Brüdern mit einer Geste, näher zu treten und Peter war darüber erstaunt, denn der Offizier stand vor ihm.
„Sind Sie nicht an der Reihe?“, fragte er Major Wallace. „Wir wollen uns nicht vordrängeln.“
„Wo denken Sie hin, mein Lieber?“, erwiderte der Angesprochene kopfschüttelnd. „Ich muss hier doch nicht Schlange stehen! Ich wollte Ihnen nur etwas Gesellschaft leisten.“Â
Peter war einen Augenblick lang sprachlos, was bei ihm nicht oft vorkam.
„Das ist sehr nett von Ihnen“, stammelte er dann und gesellte sich zu Johann, der bereits zum Schalter gegangene war.
Der Beamte magere nahm die beiden Pässe mit spitzen Fingern in Empfang und betrachtete sie mindestens eine Minute lang mit gerunzelter Stirn. Offenbar waren deutsche Papiere hier kein alltäglicher Anblick.
„Was ist der Zweck Ihrer Reise?“, fragte er schließlich in einem Tonfall, der erkennen ließ, dass er alle Ausländer für potentielle Spione hielt.
Peter erklärte, dass sie Altertumswissenschaftler seien, die die Pyramiden besichtigen wollten und der Beamte wiegte den Kopf in einer Art und Weise bedächtig hin und her, dass Peter sich an eine alte Schildkröte erinnert fühlte. Wahrscheinlich wunderte er sich über das jugendlicher Alter der Touristen.
„Unser Vater hat uns soviel von Ägypten erzählt“, behauptete Peter, „Das wollten wir gern mit eigenen Augen sehen.“
Der Beamte nickte und endlich knallte er seinen Stempel auf die beiden Pässe.
„Ich wünsche Ihnen eine schöne Reise“, sagte er und klappte die Pässe zu. „Auf Wiedersehen.“
Peter atmete erleichtert auf, als er die Dokumente wieder in Empfang nahm.
„Freu dich nicht zu früh, denn das Schlimmste steht uns noch bevor“, warnte ihn Johann leise. „Wir müssen noch mit der Mumie den Zoll passieren.“
„Ich glaube nicht, dass man uns Ärger macht“, versicherte Peter zum mindestens fünften Mal an diesem Vormittag. „Du weißt, doch dass die Mitreisende gesagt haben, dass die Kontrolle bei der Einreise nach Ägypten eher lax ist.“
„Ich glaube das erst, wenn wir den Zoll hinter uns haben.“
Während dieses Wortwechsels hatten die Brüder ihre Koffer zum Schalter des Zollbeamten geschleppt, wo bereits die große Kiste stand, die zwei Gepäckträger aus dem Rumpf des Schiffs hierher transportiert hatten.
„Haben Sie etwas zu verzollen?“, fragte ein Mann mittleren Alters, dessen verkniffene Gesichtszüge nichts Gutes verhießen.
Die Brüder beteuerten, dass sie weder Alkohol noch Tabak mit sich führten.
„Und was ist in dieser Kiste?“, fragte der Beamte mit strenger Miene auf das corpus delicti deutend.
„Geschenke für den Freund unseres Vaters.“ Dies war die Erklärung, die die Brüder sich zusammengebastelt hatten. „Er wird uns bewirten und wir wollen uns daher erkenntlich zeigen.“
Die Augen des Beamten wanderten über die Kiste und zu den jungen Männern zurück.
„Was genau ist da drinnen?“
„Kleidungsstücke, Bücher, Lebensmittel“, behauptete Peter und langsam wurde ihm mulmig zumute. Warum hatte er nur den Major abgewimmelt? Dieser hätte ihm vielleicht aus der Patsche helfen können.
„Da könnten genauso gut Waffen für die Aufständischen drin sein!“, sagte ein anderer Beamter im Vorbeigehen.
Die Brüder verneinten vehement und Peter fühlte, wie Panik in ihm hochstieg. Das Gespräch verlief völlig anders, als er erwartet hatte.
„Aufmachen!“, befahl der Beamte, die Arme vor der Brust gekreuzt.
Peters Herz klopfte ihm im Hals und schien einen Augenblick lang still zu stehen. Bisher hatte er die Vorstellung systematisch verdrängt, dass der Zöllner tatsächlich die Kiste öffnen könnte. Zwar hatten sie den Sarkophag mit Kleidungsstücken bedeckt, aber dies würde die Katastrophe nur verzögern.
„Das ist Diplomatengepäck!“, behauptete Johann mit triumphaler Stimme und überreichte zur Bestätigung seiner Worte dem Beamten seinen Pass.
Peter fragte sich, was der Bruder im Schilde führte. Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie der Beamte missmutig den Pass öffnete. Peter erschrak als er sah, dass zwischen den Seiten ein Geldschein lag. Würden sie nun wegen versuchter Beamtenbestechung verhaftet?
Aber seine Befürchtungen erfüllten sich nicht: Ohne mit der Wimper zu zucken fischte der Beamte den Geldschein heraus und ließ ihn unauffällig in seiner Tasche verschwinden.
„Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“, fragte er und gab Johann den Pass zurück. „Willkommen in Ägypten! Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“
Peter sagte sich, dass dies ein teueres Vergnügen war, falls man es ein Vergnügen nennen konnte, in der tabakgeschwängerten Luft eine Baracke herumzustehen, bis man an der Reihe war. Wahrscheinlich mussten sie noch dafür dankbar sein, dass der Beamten sich soweit den Landesgepflogenheiten angepasst hatte, dass er sich hatte bestechen lassen. In England hätte er uns ohne großes Federlesen in den Tower werfen lassen, dachte Peter schlecht gelaunt und noch immer wunderte er sich über Johann.
„Warum hast du mich nicht in deinen Plan eingeweiht? Ich dachte, ich bekomme einen Herzanfall als ich den Geldschein gesehen habe“, protestierte er, als die Brüder außer Hörweite des Beamten waren. Hier spricht niemand Deutsch. Langsam färbt Johanns Verfolgungswahn auf mich ab, dachte er im gleichen Augenblick.
„Das war eine spontane Eingebung!“ Johann zuckte mit der Schulter. „Sei froh, dass sie mir gekommen ist.“
Peter wusste, dass Johann Recht hatte und daher erwiderte er nichts. Als die Brüder endlich die Baracke verließen, die als Zollstation diente hatte die Sonne bereits ihren höchsten Stand erreicht. Von überall erklangen die Rufe der Muezzins, die zum Mittaggebet aufforderten. Alles war hier anders als zuhause: die Farben, die Gewänder, die weiß getünchten Gebäude und die filigranen Schriftzeichen, die eher Zierbändern ähnelten als lateinischen Buchstaben.
„Was für eine unerträgliche Hitze!“, fluchte Johann vor sich hin und wischte sich mit dem Ärmel die Schweißtropfen von der Stirn.
Am Pier warteten bereits Scharen von Gepäckträgern, selbsternannten Cicerones und Schleppern von Restaurants und Hotels auf die Passagiere des Dampfschiffs aus Genua. Bald waren die Brüder von einer wild gestikulierenden Menge mehr oder weniger junger Männer umgeben, die in schlechtem Englisch auf sie einredeten.
„Unser Gepäck ist zu schwer für uns“, gab Johann zu bedenken, als Peter sie abwimmeln wollte. „Wir müssen uns für einen von ihnen entscheiden.“
Peter pickte sich den erstenbesten Lastträger heraus, da er nicht wusste, nach welchen Kriterien er sich entscheiden sollte und die Männer auf den ersten Blick in ihren langen, weißen Gewändern alle gleich aussahen. Der Ägypter stutze einen Augenblick beim Anblick der großen Kiste, die der Gepäckträger des Schiffes vor der Baracke abgestellt hatte. Dann rief er einen Kollegen herbei, der eine Art Schubkarre besaß. Mit vereinten Kräften schleppten sie das Gepäck zum Hotel „Alexander the Great“, das sich tatsächlich nur zwei Häuserblocks vom Hafen entfernt befand. Unterwegs bestaunt Peter das bunte Völkergemisch auf der Straße. Er sah nicht nur Ägypter, sondern auch Griechen, Juden und Armenier. Ab und zu schnappte er einige französischen Sprachfetzen auf, aber englisch drang sehr viel häufiger an sein Ohr. Â
Plötzlich wurde Peter bewusst, dass er den Trägern keine Adresse genannte hatte, aber er wollte darüber lieber nicht nachdenken.
Was mochte die Gepäckträger wohl über uns denken?, fragte sich Peter. Bestimmt halten sie uns für Kunstdiebe oder für reiche Händler. Langsam konnte er die Bedenken des Bruders verstehen. Die Reise war ein aberwitziges Unterfangen, aber nun gab es kein Zurück mehr.
Es zeigte sich, dass das Hotel neu errichtet war und daher zumindest von außen einen guten Eindruck machte. Peter steuerte den Hoteleingang an, um nach einem freien Zimmer zu fragen und Johann wollte ihm folgen.
„Ich glaube, es ist besser, wenn du draußen bleibst und das Gepäck bewachst“, meinte Peter mit einem skeptischen Blick auf die Gepäckträger, „ich traue den Burschen zu, dass sie sich sonst damit aus dem Staub machen.“
Johann zog ein enttäuschtest Gesicht, aber er widersprach nicht.
Als Peter die sauber gefegte Hall betrat, verstummten die Gespräche im Raum und er fragte sich, ob dies an der großen Kiste lag, die draußen auf dem Bürgersteig stand. Der Eingangsbereich des Hotels war großzügiger als Peter erwartet hatte, aber hinter der Rezeption ließ sich niemand blicken. Peter drückte mit Handballen auf Tischklingel und kurze Zeit später kam ein Gepäckträger in Hoteluniform durch eine Tür geschossen, gefolgt von einem gravitätischen fetten Orientalen in traditioneller Kleidung, der akzeptabel englisch sprach, wenn auch mit einem schwer verständlichen Akzent.
Bevor ihn Peter nach etwas fragen könnte, erklärte dieser, dass er sich glücklich preisen könnte, dass noch ein Doppelzimmer frei wäre, denn wenn ein Schiff aus Genua anlegt, sei das Hotel meist völlig ausgebucht. Obwohl ihm der Preis des Zimmers unverhältnismäßig hoch erschien, erklärte Peter nach kurzem Zögern, dass er es nehmen würde.
„Nummer zwölf, im ersten Stock, unser bestes Zimmer“, behauptete der Rezeptionist als er Peter den Schlüssel überreichte.
Peter nahm ihn in Empfang und eilte zur Kutsche zurück, während ihm der Gepäckträger des Hotels mit einigem Abstand folgte.
„Hast du ein Zimmer bekommen“, fragte Johann ganz aufgeregt und Peter nickte. „Wie groß ist es? Hat es Blick auf das Meer?“
„Keine Ahnung! Wir haben andere Probleme“, fuhr Peter den Bruder an. „Sei froh, dass wir überhaupt etwas gefunden haben und damit zu es gleich weißt: Das Zimmer ist recht teuer.“
Hotelangestellte transportierten das Gepäck auf das Zimmer, und Peter hoffte, dass sie sich nicht allzu viel Gedanken über den Inhalt der großen Kiste machte. Die Mumie musste so schnell wie möglich das dem Hotelzimmer verschwinden, und, wenn sie diese zwischenzeitig bei Menas abstellten.
Peter fragte den Gepäckträger, den er zuerst angeheuert hatte nach dem Preis seiner Dienstleistung. Die Summe, die dieser ihm nannte war dreimal so hoch, wie der Betrag, der auf dem Hinweisschild am Hafen verzeichnet war. Peter sah, dass Johann protestieren wollte, aber er hielt ihn zurück.
„Wie können uns das leisten“, meinte er beschwichtigend und händigte dem Mann die geforderte Summe aus, aber er gab ihm kein Trinkgeld.
Zum Abschied drückte der ältere der beiden Gepäckträger Peter die Karte eines Lokals „mit täglichen Bauchtanzvorführungen“ in die Hand und Peter dachte sich, dass Mutter wahrscheinlich genau diese Vorstellung von Ägypten hatte.
Die Brüder stiegen eine geschwungene Steintreppe hoch, auf deren Stufen ein roter Läufer lag, der das Geräusch der Schritte dämpfte. Am Treppenabsatz befand sich die Tür mit der Nummer zwölf, die glücklicherweise mit lateinischen Buchstaben angebracht war Peter drückte die Türklinke herunter. Als er hineinsah, blieb er erstaunt im Türrahmen stehen. Zwar schienen die Möbel älter zu sein als das Hotelgebäude, aber das Zimmer besaß eine hohe Decke und einen Balkon mit einem atemberaubenden Blick auf den Hafen. Überall lagen Teppiche und bunt bestickte Kissen herum.
Johann ließ sich augenblicklich wie ein Stein auf das Bett fallen, während Peter misstrauisch die Kiste mit der Mumie begutachtete, die man in der Raumecke abgestellt hatte. Erleichtert stellte er fest, dass sich niemand an ihr zu schaffen gemacht hatte.
„Ich bin ja auch ziemlich fertig“, sagte er dann zu dem Bruder, der noch immer auf dem Bett lag, die Arme unter dem Nacken verschränkt, „Aber wir sollten uns auf die Suche nach diesem Menas machen. Ich habe auf dem Stadtplan notiert, wo sich die koptische Kirche befindet, in der er Priester ist.“
„Müssen wir wirklich bei dieser Hitze rausgehen? Bestimmt halten die Einheimischen alle Mittagsschlaf!“
Johann sah so blass aus, dass Peter ein schlechtes Gewissen bekam, aber er ließ sich nicht erweichen.
„Wir sollten uns also beeilen. Je früher wir Alexandria wieder verlassen können, desto besser! Mir hat auch die Art und Weise nicht gefallen, in der die Hotelangestellten die Kiste mit der Mumie angestarrt haben.“
Johann fuhr hoch und ganz plötzlich war alle Schläfrigkeit von ihm abgefallen.
„Erwartest du eigentlich von mir, dass ich in einem Raum mit der Mumie schlafe?“, rief er entsetzt aus.
Peter atmete tief durch und er sagte sich, dass er den Bruder nicht anbrüllen durfte, denn dann würde die Situation eskalieren.
„Wie ich vorhin schon gesagt habe: Wir suchen diesen Priester Menas. So schwer kann das in diesem verdammten Kaff doch nicht sein. Ich werde ihn bitten, dass er die Mumie in seine Obhut nimmt, denn mir ist es nicht geheuer sie unbeaufsichtigt im Hotel zu lassen.“Â
Mühsam rappelte Johann sich auf und die Brüder kehrten in die Hall zurück, gingen an der Rezeption vorbei, ohne den Zimmerschlüssel abzugeben und durchschritten die Tür, während die Blicke der Hotelangestellten und – Gäste ihnen folgten.
„Wir müssen dieser Straße folgend“, sagte Peter, als er vor dem Hoteleingang seine Karte konsultiert hatte und deutete in eine schmale, aber sehr betriebsame Seitenstraße, aus der ihnen ein Wasserverkäufer entgegenkam, der lautstark seine Ware anpries. „Offenbar halten doch nicht alle Siesta, wie du vermutet hast.“Â
„Vielleicht wohnt dieser Menas gar nicht mehr in Alexandria oder er ist inzwischen gestorben“, sagte Johann vorwurfsvoll. Er zog Luft durch die Nase ein und verzog dann sein Gesicht, da ihm offenbar die Gerüche missfielen, die hier allgegenwärtig waren.
Peter hingegen war zunehmend fasziniert von der fremden Welt, die ihm umgab. Er musste sich selbst eingestehen, dass er bisher keinen Gedanken daran verschwendet hatte, wie es im zeitgenössischen Ägypten aussehen mochte, denn er hatte sich ausschließlich für das Reich der Pharaonen interessiert. Umso überwältigender waren nun die mannigfaltigen Geräusche und Düfte Alexandrias für ihn. Stoßweise schlugen ihm Geruchswolken entgegen. Der Duft von Gewürzen mischte sich mit Rauch und dem Gestank des Strohs in den Ställen. Maultiere zogen Karren, deren Räder über das Pflaster polterten. In den Innenhöfen der Häuser standen Dattelpalmen, deren zerzauste Blätter sich im Sommerwind bewegten. Händler saßen phlegmatisch hinter ihrer Ware und zogen bedächtig an ihren langen Wasserpfeifen. In ihren farbigen Gewändern und den weißen Turbanen oder den roten türkischen Fes erinnerten sie Peter an die Prinzen in den Märchen seiner Kindheit. Nur schade, dass man gar keine Frauen auf den Straßen sah, dachte er, zumindest ein paar verschleierte Damen hatte er anzutreffen erwartet.
„Wir hätten diesem Menas schriftlich unseren Besuch ankündigen sollen“, gab Johann nach einer Weile zu bedenken.
„Das habe ich dir doch schon mindestens zehnmal während der Ãœberfahrt erklärt!“, erwiderte Peter enerviert, „Der Brief wäre nicht vor uns angekommen, aber wir hätten riskiert, den englischen Geheimdienst auf uns aufmerksam zu machten!“
„Also, so interessant sind wir nicht!“ Johann lachte. „Wir hätten ja die Mumie in dem Brief nicht erwähnen müssen.“
Mittlerweile waren die Brüder von einer Schar zerlumpter, barfüßiger Knaben umringt, die lautstark ihre Dienste als Stadtführer anpriesen.
„Are you english?“, riefen sie von allen Seiten, aber dies war offenbar der einzige ausländische Satz, den sie beherrschten, denn wenn einer der Brüder dies bejahte, wiederholten sie monomanisch ihre Frage. Es mangelte auch nicht an Erwachsenen, die ganz begierig darauf waren, ihre Stadt zu zeigen, aber Peter traute ihnen nicht über den Weg. Sie hatten es nur auf das Bakschisch abgesehen und würden sie – der höheren Einnahmen wegen – mutwillig im Kreise herumführen.
Die Plagegeister ignorierend, ging Peter voran. In der Hand hielt er den Stadtplan, auf dem er die Kirche mit einem Kreuz gekennzeichnet hatte. Johann folgte und schimpfte ohne Unterlass vor sich hin. Peter ließ sich nicht hetzten, denn er wusste, dass sie nur mit Mühe wieder zurückfinden würden, sollten sie vom Weg abkommen. Sie sprachen kein arabisch und konnten daher auch keine Hinweisschilder lesen.
„Vater hat in einem seiner Briefe berichtet, dass die Leute hier erschreckend geschäftstüchtig sind“, bemerkte Johann und er klang ziemlich enerviert.
Peter blieb vor einem Stand mit frischen Datteln und Feigen stehen, deren Anblick ihm ins Bewusstsein rief, dass längst Zeit für das Mittagessen war. Der dazugehörige Händler schien ein Nickerchen zu machen. Neben ihm saß ein Teppichhändler im Schneidersitz auf einem Podest und zog an seiner langen Pfeife. Hinter ihm war an der Hauswand ein besonders feiner Teppich an der Hauswand aufgehängt und Peter musste an die Mumie denken, die in einen ähnlichen Teppich eingewickelt war. Der Teppichhändler berührte den Gemüsehändler mit dem Ende seiner Pfeife, dieser schreckte aus seinem Halbschlaf auf und pries lautstark seine Ware an. Als Peter nicht sofort reagiert, reichte er ihm mit einem geflissentlichen Lächeln eine Dattel. Schon wollte Peter danach greifen, als Johann ihm in den Arm fiel.
„Du darfst sie nichts anfassen!“, ermahnte ihn den Bruder und er klang alarmiert. „Hast du denn nicht gehört, was für Seuchen hier grassieren? Wir dürfen nur abgekochte Nahrung essen!“
Musste der ängstliche Bruder immer so ein Spielverderber sein?
„Die ganze Reise lang? Wie stellst du dir das eigentlich vor“, gab Peter zu bedenken.
„Denk an Vater! Wer weiß, was er sich hier eingefangen hat“, erwiderte Johann und zog ihn am Arm mit sich fort. „Ich bin ja auch schrecklich hungrig. Vielleicht haben wir Glück und dieser Priester lädt uns zum Essen ein.“
„Dazu müssen wir ihn erst finden“, erklärte Peter und warf einen sehnsuchtsvollen Blick zurück auf die Früchte.
Der Händler hatte ihn bereits als hoffnungslosen Fall aufgegeben, denn er plauderte mit einem jungen Wasserverkäufer.
Peter blieb stehen, um die Karte zu studieren und Johann schaute ihm von hinten über die Schulter. Die Straßenjungen wurden immer lästiger. Offenbar interpretierten sie die Tatsache, dass die Fremden stehen geblieben waren als Zeichen von Hilflosigkeit. Nun boten sie nicht mehr ihre Dienste als wasauchimmer an, sondern gaben sich unverhohlen als Bettler zu erkennen. Von allen Seiten wurden die Brüder von kleinen Händen berührt, die sofort wieder verschwanden, wenn man nach ihrem Besitzer Ausschau hielt.
Peter griff intuitiv nach der Brieftasche, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war.
„Gib Ihnen bloß nichts“, ermahnte ihn Johann, der die Geste falsch interpretiert hatte, „Sonst verzehnfacht sich ihre Anzahl!“
„Hatte ich auch nicht vor“, erwiderte Peter und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Karte zu.
Die Bettler redeten mit enttäuschten Gesichtern auf die Brüder ein und begleiteten ihre Worte mit ausdrucksvollen Handbewegungen. Peter ärgerte sich, dass er kein Wort der Landessprache beherrschte, denn er hätte die aufdringlichen Gesellen gern zum Teufel geschickt.
Vor dem Portal eines herrschaftlichen Hauses zur linken stand schwarzer Wächter mit einer langen Lanze, der ohne mit der Wimper zu zucken das Schauspiel betrachtete.
„Das war eine blödsinnige Idee, hier einfach allein auf der Straße herumzulaufen. Offenbar braucht man einen einheimischen Begleiter“, fluchte Johann vor sich hin, „Hoffentlich können wir bald wieder nach Hause fahren.“
„Wir sind fast am Ziel“, meinte Peter, den Kommentar des Bruders ignorierend und deute auf die vor ihnen liegende Kreuzung. „Da vorne müsste die Kirche stehen, komisch, dass man sie nicht sieht.“
„Und was ist mit diesem freistehenden Turm, der die Dächer überragt?“, fragte Johann.
Auch Peter hatte den Turm schon bemerkt, aber er hätte einen seltsamen Kirchturm abgegeben, weiß getüncht wie er war und mit seinem kuppelförmigem Abschluss.
„Der wird wohl zu einer Moschee gehören. Er sieht für mich nach einem Minarett aus“, vermutete Peter, aber ihm fiel im gleichen Augenblick ein, dass auf dem Stadtplan in dieser Gegend keine Moschee verzeichnet war. Also schöpfte er neue Hoffnung und beschleunigte seine Schritte.
Als die Brüder die Weggablung erreichten, zeigte sich, dass tatsächlich ein kleines weißes Kirchlein vom prächtigen Nachbarhaus verdeckt worden war. Sie gingen zur hohen, der Straße zugewandtem Schmalseite, die oben einen halbkreisförmigen Abschluss besaß. Peter drehte am Türknauf des hölzernen Türflügels, doch die Tür ließ sich nicht öffnen.
„Hallo, ist da jemand drin“, rief er so laut er konnte, aber es kam keine Antwort aus dem Inneren der Kirche.
Frustriert schlug er mit der Faust gegen die Tür mit ihren altertümlichen Schnitzereien, aber wieder reagierte niemand.
„Er macht bestimmt Mittagsschlaf“, meinte Johann, „Wie jeder vernünftige Mensch bei dieser gottverdammten Hitze.“
„Ob es hier so etwas wie ein Pfarrhaus gibt?“, fragte Peter eher sich selbst als den Bruder. „Selbst wenn Menas nicht zuhause ist, könnten wir ihm eine Nachricht hinterlassen.“
Die Brüder studierten die Nachbarhäuser, aber eins sah aus wie das andere: weiß getüncht, schmucklos und mit flachem Dach. Auch ließ sich leider niemand auf der Gasse blicken, den sie hätten nach dem Priester fragen können.
„Das ist nicht gerade unser Glückstag“, bemerkte Peter, dem es langsam reichte, resigniert. „Was um Gottes Willen machen wir jetzt?“
„Wir gehen in ein Lokal, falls es hier so etwas geben sollte. Ich sterbe nämlich mittlerweile vor Hunger“, schlug Johann vor, „Vielleicht ist diese Kirche heute Nachmittag wieder geöffnet.“
Peter war erstaunte darüber, wie der Bruder oft zwischen Ängstlichkeit und Leichtsinn schwankte.
„Vorhin hast du doch selbst gesagt, dass wir vorsichtig sein sollten mit dem, was wir essen“, erwiderte er, „Wir sollten daher lieber ins Hotel zurückkehren. Es ist ja nicht weit und man bietet dort einen Mittagstisch an.“
Die Brüder trotteten also durch sonnendurchglühten Gassen zum Alexander the Great zurück, wo sie im Speisesaal zwei große Stücke halbrohem Rindfleischs herunterschlangen, das ihnen als englische Spezialität angepriesen worden war. Danach tranken sie einen Mokka, der wunderbar aromatisch war.
Überall huschten Dienstboten und Kellner herum und Peter hatte während des gesamten Mahls den Eindruck, dass diese ständig die Köpfe zusammenstecken, um über ihn und seinen Bruder zu tuscheln. Er beschloss, vor dem Aufbruch lieber nochmals im Zimmer nach dem Rechten zu sehen, nicht dass jemand die Mumie gestohlen hatte.
„Ich würde mich gern noch etwas frisch machen, bevor wir wieder aufbrechen“, schob er vor, da er Johann nicht beunruhigen wollte.
Als Peter die Tür des Hotelzimmers aufgeschlossen hatte und sich misstrauisch im Raum umsah, spürte er geradezu, dass etwas nicht stimmte. Er durchmaß das Zimmer mit langsamen Schritten. Dann bemerkte er, was seinen Argwohn erregt hatte.
„Jemand hat unsere Kiste verrückt!“, rief er so laut aus, dass Johann, der auf dem Balkon stand zusammenfuhr. „Nur wenige Zentimeter, aber man sieht Schleifspuren auf dem Boden.“
Anklagen deutete er auf die farbigen Keramikfliesen. Johann gesellte sich zu ihm, auch er wirkte alarmiert. Beide begutachteten die Kiste, konnten aber keine Spuren von Gewaltanwendung erkennen.
„Trotzdem sollten wir hineinschauen, ob alles in Ordnung ist“, meinte Peter.
„Ich will die Mumie aber nicht sehen“, protestiere Johann augenblicklich.
„Dann schaust du eben weg“, erwiderte er und fragte sich, womit er das alles verdient hatte.
Eigentlich brauchte er zum Öffnen der Transportkiste eine Zange und ein Stemmeisen, aber er würde sich wohl anderweitig behelfen müssen. Peter schaute sich im Badezimmer und dann im Schlafraum um. Allenfalls die Gardinenstange war vielleicht brauchbar. Als Peter einen Stuhl zum Fenster schleppte hörte er den Bruder leise schnauben.
„Mach doch bei der Hitze nicht so einen Aufwand!“, meinte er. Peter drehte sich um und sah, dass Johann die Kiste begutachtete. „Ich finde, man sieht mit einem Blick, dass das Ding nicht geöffnet worden ist. Wir waren auch nur höchstens eine halbe Stunde weg.“
„Und dieser Kratzer?“. Peter zeigte anklagend auf den die Vorderseite des Abdeckbrettes.
„Der war schon drin, als Vater die Kiste mitgebracht hat. Ich erinnere mich genau daran.“
Peter war kurz davor, den Bruder dafür zur Rechenschaft zu ziehen, dass er dies nicht gleich gesagt hatte, aber ihm wurde bewusst, dass er ihn nicht danach gefragt hatte. Das ist bestimmt die Hitze, sagte er sich. Er ließ sich auf das Bett fallen und starrte die frisch gekalkte Decke des Hotelzimmers an.
„Einer von uns beiden muss hier bleiben, während der andere den Priester sucht“, meinte er nach einer Weile, „Wir können die Kiste nicht unbeaufsichtigt lassen.“
„Ich bleibe nicht allein in einem Raum mit der Mumie!“, rief Johann entsetzt aus, der zusammengesunken auf einem bombastischen Sessel in der Ecke des Raums saß. „Das kann keiner von mir erwarten.“
„Dann wirst du wohl zu dieser Kirche zurückgehen müssen“, erwiderte Peter, noch immer die Decke anstarrend.
„Von mir aus“, meinte Johann fatalistisch und zu Peters großer Ãœberraschung stützte er sich nur Sekunden später mit beiden Händen von der Sitzfläche des Sessels ab und erhob sich langsam wie ein alter Mann.Â
„Sei vorsichtig!“, ermahnte ihn Peter, aber Johann erwiderte nichts, sondern verließ schweigend den Raum.
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8. Die Apotheke
Kurz nach Mitternacht verließen die Brüder leise ihre Zimmer. Auf leisen Sohlen durchquerten sie den vom Mond nur schwach erleuchteten Flur. Im Treppenhaus war es mucksmäuschenstill und die Haustür bereits verriegelt. Auch auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Der Himmel war von Wolken verhangen, nur die Gaslaternen spendeten etwas mattes Licht.Â
Johann biss sich nervös auf die Unterlippe. Es graute ihm vor dem Einbruch fast so sehr wie vor der bevorstehenden Reise und er fragte sich, ob er sein Elternhaus wohl jemals wieder sehen würde. Er drehte sich um und warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Villa und den großen Garten, der sie umgab. In diesem Augenblick hätte er liebend gern die Gartenarbeit erledigt, vor der er sich sonst möglichst drückte. Was mochte wohl die Mutter sagen, wenn sie ihre Betten verwaist vorfinden würde? Hoffentlich kam sie nicht auf die Idee Wilhelm zurückrufen! Johann zwang sich, an etwas anderes zu denken, bevor er in finsterster Schwermut versank.
„Warum kommt Moritz mit?“, fragte er nach einer Weile, da ihm ganz plötzlich ins Bewusstsein kam, dass Peter vorhin beiläufig erwähnt hatte, sein Freund würde sie vor der Apotheke erwarten. „Irgendwie traue ich ihm nicht mehr über den Weg.“
Peter zuckte fatalistisch mit den Schultern.
„Wie oft soll ich dir denn das noch sagen! Wir mussten das Gepäck und die Versandkiste mit dem Sarkophag in seiner Bude verstecken. Anderenfalls wäre er der letzte gewesen, den ich eingeweiht hätte.“
„Aber musstest du ihm deshalb gleich sagen, dass wir in die Apotheke einbrechen werden?“, protestierte Johann.
„Wie hätte ich ihm sonst erklären sollen, dass wir mitten in der Nacht mit Mumie bei ihm aufkreuzen?“, fragte Peter hörbar enerviert zurück. „Außerdem bringt er uns den Teppich mit.“
„Trotzdem gefällt mir nicht, dass Moritz heute Nacht mit dabei ist!“
„Er war ganz Feuer und Flamme als er vom dem Einbruch hörte und ich dachte, wenn wir ihn mitnehmen, kann er uns später nicht verpfeifen. Dann hängt er in der Sache mit drin.“
„Das hört sich eher nach taktischer Kriegsführung als nach Freundschaft an“, gab Johann zu bedenken. „Außerdem, wie sagt man so schön: viele Köche verderben den Brei.“
„Es wird schon klappen!“, behauptete Peter, aber sein Bruder merkte, dass er dies tat um ihn aufzumuntern, denn sein angespannter Gesichtsausdruck verriet, dass auch er sich Sorgen machte.
Die Wolkendecke riss auf und zwischen den Wolken leuchteten die Sterne und die Sichel des Monds.
„Auch das noch“, fluchte Peter leise vor sich hin. „Wir hätten die Finsternis gut als Deckmantel gebrauchen können. Â
„Solange die Straßenlaternen brennen sind ist das auch egal“, meinte Johann, dem dieses Argument nicht recht einleuchten wollte.
Sie hatten das Ende der Straße erreicht und Johann drehte sich ein letztes Mal nach seinem Zuhause um. Die verwaiste Straße wurde vom Mond beschienen und in seinem sanften Licht sah die Villa aus wie ein Puppenhaus.
Plötzlich sah Johann auf der anderen Straßenseite einen Passanten, der ihnen entgegen kam. Obwohl er sofort demonstrativ in nach rechts schaute erkannte er ihn sofort: es war der Hausarzt, der wohl wegen eines ärztlichen Notfalls um diese späte Stunde unterwegs war und Johann hoffte, dass dieser ihn und seinen Bruder nicht erkannt hatte.
„Achtung, der Doktor Winter, auf der anderen Seite“, flüsterte er Peter zu und er hoffte inständig, dass dieser seine Frau betrog und auch nicht gesehen werden wollte. War er überhaupt verheiratet? Johann konnte es sich nicht vorstellen, so besserwisserisch wie der Arzt war.
„Hab ihn schon gesehen!“, wisperte Peter zurück und auch er studierte nun die Häuser am Straßenrand als ob er ein großer Architekturliebhaber wäre. Johann sagte sich zur Beruhigung, dass sie in einem Stadtviertel lebten, dessen distinguierte Bewohner sich für gewöhnlich nicht in die Angelegenheiten ihrer Nachbarn einmischten, aber er war nicht ganz sicher, ob dies auch für den Arzt zutraf. Dabei waren sie beide alt genug um niemandem für ihren nächtlichen Spaziergang Rechenschaft zu schulden. Johann lauschte mit angehaltenem Atem, ob der Arzt ihnen etwas zurief, aber nichts dergleichen geschah. Den restlichen Weg zur Apotheke legten die Brüder wortlos zurück.
Als Johann das schmucke Eckhaus sah, dessen helle Steinquader ihm in der Nacht entgegenleuchteten, hoffte er einen Augenblick lang, dass Moritz sie versetzt hatte. Dann sah er den massigen jungen Mann vor dem benachbarten Fachwerkhaus den geradezu rührenden Versuch unternehmen, sich unauffällig im Verborgenen zu halten. Er war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, trug aber seine Burschenschaftsschärpe und über die Schulter hatte er den Orientteppich gelegt, in den sie die Mumie einwickeln wollten.  Â
Als die beiden Freunde sich begrüßten, fand Johann, dass sein Bruder ein miserabler Schauspieler war, da dieser seine Ressentiments gegenüber Moritz nicht zu verbergen vermochte.
Peter fragte Moritz, ob er sich an Johann erinnerte und dieser nickte, bedachte ihn aber dabei mit einem Blick, der vermuten ließ, dass er nicht viel von ihm hielt. Was für eine seltsame Frage, dachte Johann, schließlich hatte Peter seinen Freund früher oft mit nach Hause gebracht. Offenbar war auch der Bruder mittlerweile ziemlich nervös.
„Dann wollen wir mal!“, sagte er unvermittelt zu Moritz. „Du wartest hier draußen. Wenn du irgendetwas Verdächtiges hörst, dann pfeifst du laut.“
„Ich dachte, ich komme mit!“, rief Moritz enttäuscht aus.
„Die Schwanen-Apotheke gehört unserem Onkel. Wenn er uns erwischt, dann wird er sicher ziemlich böse, aber ich glaube nicht, dass er gleich die Polizei ruft“, sagte er schließlich. „Wenn ein Fremder dabei ist, könnte er vielleicht anders reagieren.“
Johann fand, dass sich dies vernünftig anhörte, auch wenn sich der Bruder dies wohl nur aus den Fingern gesaugt hatte. Trotzdem wünschte er, Peter würde dem Wunsch seines Freundes entsprechen. Er selbst würde sich gern damit begnügen, draußen Schmiere zu stehen.
Moritz fügte sich – wenn auch missmutig etwas von „Gemeinheit“ und „Spielverderber“ in sich hineinbrummend - in sein Schicksal und Peter löste einen riesigen Schlüsselbund den er am Gürtel getragen hatte. Er machte einen hochprofessionellen Eindruck, als habe ihn ein Einbrecher ausgeliehen.
„Wo hast du den denn her?“, wollte Johann wissen.
Der Bruder blickte ihn in sich hineinlächelnd an.
„Frag mich lieber nicht!“Â Â Â
Dann machte er sich am Schloss der Apotheke zu schaffen. Die beiden anderen beobachteten je eine Straße. Leise klickende Geräusche drangen an ihr Ohr und Johann fragte sich erneut, woher der Bruder die Schlüssel hatte. Sein Blick streifte das Fenster, in dem Keramikgefäße standen. Wenigstens machte der Onkel noch nicht Reklame für frisch eingetroffenes erstklassisches Mumia.
Johann hörte ein scharfes, metallisches Klicken, dann ein Knirschen und er drehte sich zu seinem Bruder um.
„Ich habe es geschafft!“
Mit triumphaler Miene öffnete Peter die Tür, aber nur einen Spalt breit, sodass er selbst und sein Bruder hindurchschlüpfen konnten. Dann verriegelte er sie von innen.
Johann hatte noch nie gern die Apotheke betreten, denn sie erinnerte ihn an Siechtum und Tod, doch niemals zuvor war sie ihm so unheimlich erschienen wie in dieser Nacht. Vom bleichen Licht des Mondes beschienen wirkten die Regale voller Keramik- und Glasgefäßen, die sich nur durch ihre Beschriftung unterschieden wie das Arsenal eines Giftmischers. Hinter den Milchglastüren eines bis zur Decke reichenden Schrankes erkannt Johann die verschwommenen Umrisse weiterer Behältnisse, bestimmt enthielten sie in Alkohol eingelegte Frösche oder dergleichen grässliche Dinge. Von der Decke hing ein Krokodil herab, das noch im getrockneten Zustand bedrohlich seine Zähne bleckte. Wo aber mochte der Onkel die Mumie versteckt haben?
„Wollen wir nicht eine Lampe anzünden?“, fragte er leise seinen Bruder, der sich wie er selbst im Raum umblickte.
„Zu auffällig!“, flüsterte Peter zurück. „Die Mumie ist groß genug. Wir sollten sie auch so finden. Es ist doch gut, dass der Mond scheint.“
Peter ging hinter die Theke, wo eine Tür in das Lager führte und Johann folgte ihm. Ihre Schritte hallten durch die Dunkelheit und Johann fluchte innerlich über den protzigen Steinboden der Apotheke.
Peter drückte vorsichtig die Klinke herunter und öffnete die Tür. Im gleichen Augenblick sprang ein Ungeheuer fauchend aus dem Lagerraum direkt auf Johann zu. Seine scharfen Krallen bohrten sich in den Ärmel seiner Jacke und Johann schrie laut auf. Er wollte ausweichen, machte einen Schritt nach hinten, stolperte dabei und landete auf seinem Hosenboden.
Peter fuhr herum, seinem Bruder wütende Blicke zuwerfend und Johann erkannte, dass es nur die Katze des Apothekers war, die ihn so erschreckt hatte. Sie hatte sich an seiner Jacke festgekrallt und das grüne Feuer Ihrer schrägstehenden Augen funkelte ihn wild an.
Johann packte das Tier mit der freien Hand im Nacken. Die Katze schlug nach ihm mit der Tatze, aber Johann hielt sie sich mit ausgestrecktem Arm vom Leib bis sie kapitulierte und die Beine schlaff herunterhängen ließ. Dann rappelte er sich wieder auf, die Katze durch die geöffnete Tür in die Apotheke, hörte sie gerade noch fauchend landen, drückte aber augenblicklich die Klinke im Schloss herunter und sperrte die Katze damit aus.
„Was für eine Bestie“, murmelte er vor sich hin und wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab.
Der Bruder klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken und Johann grinste ihn an. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik.
„Schau!“, sagte Peter, mit dem Zeigefinger in den Raum deutend.
Nun erkannte auch Johann, dass die Mumie auf dem Tisch in der Mitte der Kammer lag und es schauderte ihn. Es war das erste Mal, dass er die Mumie sah, denn an dem schrecklichen Tag, als der Vater zurückgekehrt war, war er schon beim Anblick des Sarkophags in der Versandkiste umgekippt.
Der einbandagierte Körper war von den Knöcheln bis zu den Schultern mit einem Netz aus blauen Perlen bedeckt, das unter dem auf Leinen gemalten Bildnis einer jungen Frau endete. Als er näher getreten war, sah Johann, dass das Netz aus blauen Röhrenperlen aus Fayence zusammengesetzt war, die diagonal in Rautenform gelegt waren. Diese größeren Perlen waren mithilfe von kleineren zusammengefügt. Auf Brusthöhe war zwischen den Perlen ein Skarabäus aus dunkelblauer Fayence eingefügt, dessen Flügel Lotosblüten ähnelten. Die Umhüllung sollte der Mumie offenbar größtmöglichen Schutz bieten, aber hin- und hergerissen zwischen Anziehung und Abstoßung fand Johann sie zu seinem eigenen Erstaunen schön.
Aber die Mumie mit bloßen Händen anfassen? Johann wurde bei der bloßen Vorstellung vom Grauen ergriffen.
„Komm, du Traumtänzer!“, tadelte ihn der Bruder. „Biet keine Maulaffen feil. Wir sollten schleunigst von hier verschwinden!“
Johanns Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aber er beherrschte sich, denn er wusste, dass der Bruder Recht hatte. Nur hätte er ihn auch etwas netter zum Gehen auffordern können.
Peter packte die Mumie an der Schulter und Johann streckte die Hände nach ihren Füßen aus, hielt aber in der Bewegung inne, bevor seine Finger die Bandagen berührten, so sehr widerstrebte es ihm, diese anzufassen.
„Johann!“
In der Stimme des Bruders lag ein zorniger Unterton und Johann gab sich einen inneren Ruck. Mit einer schier übermenschlichen Anstrengung legte er seine Finger auf die Füße der Mumie. Er verspürte augenblicklich in seinen Fingerspitzen ein leichtes Kribbeln und sein Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Es bedurfte seiner gesamten Willenskraft um die Finger um die Füße zu schließen. Johann brach der Schweiß aus und er hätte die Mumie fast wieder fallen lassen, denn er erwartete einen Augenblick lang, dass er zu einer Statue versteinerte oder dass ihn die Rache der Wanderseele traf.
Peter warf ihm einen tadelnden Blick zu. Johann seufzte, denn er fragte sich, ob er nun von der tödlichen Krankheit befallen war, die den Vater binnen Tagen hinweggerafft hatte.
„Jetzt stell dich nicht so an!“
Johann kapitulierte. Widerstrebend hob er zusammen mit seinem Bruder die Mumie vom Tisch hoch. Vorsichtig und mit tastenden Schritten trugen die Brüder ihre Last durch den dunklen Hinterraum zur Tür.
„Hoffentlich lauert die gemeingefährliche Katze nicht in der Apotheke auf uns!“, bemerkte Johann als Peter die Tür mit dem Ellbogen öffnete. „Weißt du eigentlich, wie sie heißt.“
„Lotte“, erklärte der Bruder.
Johann traute seinen Ohren nicht. Wie konnte man eine Katze schwarze Lotte nennen?
„Was für ein unpassender Name!“, bemerkte er mit gedämpfter Stimme.
„Wie hättest du sie denn genannt?“, wisperte der Bruder zurück.
„Lady Macbeth vielleicht“, überlegte er, „oder Lucrezia Borgia!“
Johann hörte seinen Bruder leise lachen.
„Die beiden kennt Tante Henriette bestimmt nicht.“
Johann spähte durch den Türspalte, aber Lotte hatte sich offenbar verkrochen. Dann sah er unter der Theke zwei grüne Augen im Dunkeln glühen. Jedoch machte die Katze keinerlei Anstalten ihr Versteck zu verlassen.
Die beiden bewegten sich mit der Mumie ganz langsam auf die Ladentür zu, denn inzwischen hatten offenbar sich wieder Wolken vor den Himmel geschoben. Jedenfalls war es stockfinster in der Apotheke.
„Verdammt!“, fluchte Peter leise und so blieb abrupt stehen, dass Johann beinahe gestolpert wäre.
Er erschrak. Was mochte nun schon wieder los sein? Ob der Onkel in seine Apotheke zurückgekehrt war?
„Was hast du?“, fragte er leise den Bruder, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Knie mit der linken Hand massierte.
„Nichts, ich habe mich nur an diesem blöden Tisch gestoßen.“ Peter nickte in Richtung des kleinen Möbels, das auch Johann übersehen hätte. „Lass uns weitergehen!“.
Als er auf die Tür zuging hinkte Peter leicht, aber sie erreichten ihr Ziel ohne weitere Kontakte mit Tieren oder Möbeln. Peter öffnete die Ladentür und sie transportierten die Mumie auf den Bürgersteig, wo Moritz sie bereits sehnsüchtig erwartete.
„Wo wart ihr nur solange?“, fragte er, kaum dass er die Brüder sah. „Es sind schon drei Männer vorbeigekommen und haben mich seltsam angestarrt!“
„Höchste Zeit zu gehen!“, stimmte Peter zu. „Ihr wickelt die Mumie ein und ich schließe die Tür ab.“
Warum?, wollte Johann fragen, aber im selben Augenblick verstand er, dass anderenfalls echte Einbrecher hätten in die Apotheke eindringen können.
Johann genoss einen Augenblick lang die kühle Luft, die ein leichter Wind durch die Straße trieb. Er atmete sie mit geschlossenen Augen ein und wurde dabei von einer Welle der Erleichterung durchflutet: bisher hatte alles gut geklappt! Erst jetzt fiel ihm auf, dass er völlig durchgeschwitzt war und, dass sein Puls raste. Trotzdem wusste er, dass es nun kein Zurück mehr gab.
„Sie ist viel schöner als ich gedacht habe“, stammelte Moritz, der die Mumie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. „Darf ich sie anfassen?“
„Später“, erwiderte Peter, der noch immer im Schloss herumstocherte mit hörbar angespannter Stimme, „jetzt wickelt sie doch endlich ein!“
„Wir drehen besser die Innenseite nach außen. Dann fällt der Teppich nicht so auf“, schlug Johann vor, um den Bann zu brechen, denn noch immer blickte Moritz wie hypnotisiert auf die Mumie, doch er sagte sich im gleichen Augenblick, dass man den Teppich auch so als solchen erkannte.
Moritz schrak zusammen, wie jemand, dem man von hinten auf die Schulter klopft. Dann nickte er - noch immer etwas gedankenverloren - und drehte den Teppich um. Bevor die beiden die Mumie eingewickelt hatten, gesellte sich Peter zu ihnen, der in der Zwischenzeit den richtigen Schlüssel gefunden und die Tür abgeschlossen hatte. Sein strenger Blick irritierte Johann.
„Wir sind schon fertig“, meinte er in einem entschuldigenden Tonfall und ärgerte sich im gleichen Augenblick über sich selbst. Warum brachte er es nicht fertig dem Bruder Paroli zu bieten?
Johann war froh, dass er die eingepackte Mumie nun nicht mehr ansehen musste. Zusammen mit Moritz schulterten er die Mumie, während Peter mit einigem Abstand voranging um die Lage zu sondieren. Johann hatte es derart vor dem Einbruch gegraut, dass er bisher keinen Gedanken an den Transport der Mumie in Moritzens Bude verschwendet hatte. Nun wurde ihm schlagartig bewusst, dass die Strecke dorthin viel länger war als der Heimweg, denn der Freund seines Bruders wohnte am Stadtrand. Und wenn sie jemandem begegnen sollten, der sie kannte? Wie sollten sie ihr nächtliches Treiben erklären? Innerlich vor sich hinfluchend schleppte Johann seinem Bruder nach. Die Straßen waren leer, die Fenster der Häuser dunkel, die einzigen Lichtquellen waren die Gaslaternen und der gestirnte Himmel. Außer ihnen schlief offenbar die ganze Stadt. Wie Johann die Glücklichen beneidete!
Aus der Ferne verkündeten die Glocken des Doms die erste Stunde. Schon so spät! Und immer noch trugen Johann und Moritz die Mumie durch die leeren Straßen, während Peter voraneilte und sich umsah. Es war so ruhig, dass ihre Schritte auf dem Kopfsteinpflaster des Bürgersteigs ihnen so laut wie trabende Pferde erschienen.
Einige Häuserblocks weiter drang aus einem Eckhaus Stimmengewirr und Gelächter. Im Näherkommen erkannte Johann, dass es sich um eine sicherlich übel beleumundete Gastwirtschaft handelte, deren Gäste wohl regelmäßig die Ãœberhockersteuer zahlten. Sie begannen „gaudeamus igitur“ zu singen und Johann realisierte nicht ohne Neid, dass die Wirtshausbesucher Studenten waren.
Es folgten einige Wohnblocks mit Mietshäusern, dann zeichnete sich gegen den schwarzen Himmel die Silhouette einer gotischen Kirche mit großen Maßwerkfenstern ab. Es war eine ehemalige Bettelordenskirche mit einem - von einer niedrigen Mauer umgebenen - Kirchhof, an den sich ein Friedhof anschloss. Nun war es nicht mehr weit! Johann fragte sich, warum er noch immer die Mumie schleppte. Höchste Zeit um sich mit der Arbeit abzuwechseln.
„Versteckt Euch sofort im Friedhof!“, rief Peter seinen Kameraden zu, bevor Johann sein Anliegen äußern konnte.
Einen Augenblick lang standen Johann und Moriz unschlüssig vor der Mauer, die etwas mehr als vier Fuß hoch war. Dann legten sie die Mumie vorsichtig auf den Mauerabschluss. Moritz machte eine Diebesleiter und Johann stieg hinauf. Oben angelangt half er Moritz, der wesentlich kräftiger war als er selbst die Mauer zu erklimmen und beide sprangen in den Hof.
Johann lauschte. Gesprächsfetzen drangen von der Straße. Peter sprach mit einem fremden Mannen.
„Verdammt!“, entfuhr es Moritz. „Wachtmeister Dimpflhuber! Er will unbedingt Karriere machen und patrouilliert daher manchmal sogar nachts die Straßen dieses Viertels.“
„Dann sollten wir uns besser auf dem Friedhof verstecken!“, dränge Johann. „Nicht, dass er uns hat über die Mauer klettern sehen!“
„Ja, wir dürfen auf keinen Fall riskieren, dass Wachtmeister Dimpflhuber uns die Mumie wegnimmt“, stammelte Moritz panisch und Johann verspürte den starken Wunsch, ihn zu erschlagen und auf dem einsamen Friedhof zu verscharren. Im gleichen Augenblick war er entsetzt über seine eigenen Gedanken. Was war nur in ihn gefahren? Das konnte nur der verderbliche Einfluss der Mumie sein!
Als er das in den Teppich gewickelte Bündel von der Mauer hob, versuchte Johann den Gedanken zu verdrängen, dass sich darin die Mumie befand. Moritz warnte ihn, dass er vorsichtig sein musste, um nicht im Dunkeln zu stolpern, damit der Mumie nichts passierte und Johann erwiderte, dass ihm auch seine eigenen Knochen einiges wert seien. Dann hoben sie die Mumie von der Mauer und durchquerten mit schnellen Schritten den kleinen Kirchhof mit seinem Kopfsteinpflaster. Glücklicherweise war die Friedhofpforte nicht abgeschlossen. Sie huschten hindurch und vor ihnen lag der leicht verwahrloste Friedhof mit seinen moosbewachsenen Grabsteinen, von denen viele schon halb in den Boden versunken oder sogar umgefallen waren. Vorsichtig tappten die beiden den baumbestandenen Hauptpfad entlang, bis sie ein Mausoleum erreichten, das auch schon bessere Zeiten gesehen hatte, denn der ehemals weiße Marmor war schon morsch und fleckig. Trotzdem wirkte der herrschaftliche Bau in dieser eher ländlichen Umgebung etwas deplaziert. Aber hinter seinen von Efeu überwucherten Mauern konnten sich die beiden Flüchtlinge endlich verstecken.
Johann lauschte angestrengt in die Dunkelheit, ob der Bruder noch immer mit dem Wachtmeister sprach, aber alles was er hörte war das Rauschen der Blätter und sein eigener Herzschlag, der in den Ohren pochte. Er realisierte, dass er beim Lauschen vergessen hatte zu atmen und schnappte nach Luft. Dann ließ er seinen Blick über den Friedhof schweifen. Dies war ein unheimlicher Ort, den Johann normalerweise noch nicht einmal am hellen Tag betreten hätte und nun wartete er hier mit einer Mumie!
Fasrige Wolken trieben über die Mondscheibe hinweg, deren mattes Licht die Gräber beleuchtete. Obwohl die Hitze des Tages noch immer anhielt, fröstelte es Johann und er musterte Moritz aus den Augenwinkeln, aber es war zu dunkel um den Ausdruck seines Gesichtes zu deuten.
Johann fragte sich, wie es wohl dem Bruder in der Zwischenzeit ergangen war. Eigentlich konnte der Wachtmeister ihm nichts anhaben, zumindest falls er nicht bemerkt haben sollte, dass ihm nicht nur ein junger Mann, sondern deren drei entgegen gekommen waren. Johann rieb seine klammen Hände aneinander, aber sie wollten nicht warm werden und noch immer zitterte er.
Der Ruf einer Eule hallt schaurig durch die Nacht. Er war aus der unmittelbaren Nähe gekommen. Johann schrak instinktiv zusammen. Dann schaute er sich vorsichtig um, aber er konnte den Vogel nicht sehen. Wieder dachte er an diese seltsame ägyptische Freiseele, wie hieß sie nochmal? Bar? Konnte die Eule …. Johann verdrängte den Gedanken, den er nicht einmal innerlich zu formulieren wagte. Schließlich erschien den alten Griechen Athene in Eulengestalt. Trotzdem war es komisch, dass die Ägypter sich die Seele als Vogel vorstellten.
„Ich sehe mal nach, wo Peter bleibt“, flüsterte Moritz, Johann aus seinen finsteren Gedanken reißend.
„Du kannst mich doch nicht allein auf diesem Friedhof zurücklassen!“, erwiderte Johann panisch, im letzten Augenblick das Wort „unheimlich“ weglassend.
„Sei doch nicht immer so ein Angsthase!“, kommentierte Moritz etwas herablassend.
Johann ärgerte sich über den Freund seines Bruders, vor allem, weil er „immer“ gesagt hatte. Was mochte Peter alles über ihn verbreitet haben?
„Du willst doch nur gehen, weil du dich selbst fürchtest!“, konterte er und hätte fast hinzugefügt, dass Moritz diese blöden Burschenschaftsinsignien brauchte, um sich stark zu fühlen, aber es war sicher keine gute Idee, sich auf dem Friedhof herumzustreiten, „entweder wir schauen beide nach Peter oder du bleibst auch hier.“
„Wie du willst“, sagte Moritz etwas gedehnt und bückte sich nach der Mumie.Â
Johann tat es ihm gleich und sie verließen ihr Versteck. Bei jedem Zweig, der unter seinen Füßen knackte fuhr Johann innerlich zusammen und er hoffte, dass hier niemand war, der dies gehört haben könnte.
Trotz aller Bedenken erreichten sie das Friedhofportal, ohne dass jemand über eine Wurzel stolperte oder mit einem Baumstamm kollidierte. Sie durchquerten den Kirchhof und lauschten an der Mauer, aber sie hörte weder Peter noch den Schutzmann. Sie stiegen mit der Mumie über die Mauer und schauten sich um. Keine Spur von Peter.
„Wir müssen Ihn suchen“, meinte Johann.
Moritz schüttelte den Kopf.
„Lass uns lieber zuerst die Mumie in Sicherheit bringen.“
Dieser Kommentar war wieder einmal typisch für Moritz! Aber trotzdem hatte er recht, denn wo sollten sie den Bruder suchen? Sie hatten nicht den geringsten Anhaltspunkt, wohin er gegangen sein sollte.
Hoffentlich hat man ihn nicht verhaftet, durchfuhr es Johann.
„Komm schon“, ermahnte ihn Moritz.
Mit einem leisen Seufzer griff Johann auf dem Teppich auf der Kirchhofmauer. Dann machten sie sich auf dem Weg zu dem Haus, in dem Moritz eine Mansarde gemietet hatte.
Schon sahen sie das Haus am Ende der Straße, als eine finstere Gestalt ihnen entgegenkam.
„Nicht schon wieder dieser idiotische Wachtmeister!“, entfuhr es Johann, aber dann sah er, dass es der Bruder war.
Am liebsten wäre er ihm vor Freude um den Hals gefallen, aber dies war ihm im Beisein von Moritz peinlich.
„Wo hast du nur gesteckt?“, fragte er.
Peter lächelte über die aufgeregte Miene des Bruders.
„Ich habe behauptet, dass ich mich verlaufen hätte und nach dem Weg zum Marktplatz gefragt. Leider hat der übereifrige Wachtmeister darauf bestanden, mich dorthin zu begleiten, da er selbst in der Gegend wohnt. Anschließend konnte ich dann den ganzen Weg wieder zurücklaufen.
Johann lachte.
„Und dann sagt man, dass Lügen kurze Beine haben.“
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7. Sonntag
Als Peter von einem geradezu schmerzhaft lauten Brummgeräusch geweckt wurde war er etwas verwirrt und es dauerte einen Augenblick lang, bis er realisierte, dass der Lärm aus dem Inneren seines Schädels kam. Die Sonnenstrahlen, die durch die schmalen Lücken zwischen den geschlossenen Vorhängen schienen schmerzten ihm in den Augen und er lege sich das Kissen auf den Kopf, aber jede noch so flüchtige Berührung am Kopf war ihm unangenehm.
Kein Wunder, nach diesem nächtlichen Besäufnis in der Küche! Hoffentlich erinnerte sich Johann überhaupt noch daran, dass er endlich eingewilligt hatte mit ihm nach Ägypten zu fahren! Aber eigentlich blieb ihm keine andere Wahl nach diesem schrecklichen Alptraum. Oder war es vielleicht doch kein Traum? Unmöglich!, dachte Peter, ich glaube nicht an Gespenster! Aber er wollte lieber nicht darüber nachdenken, denn das Grübeln verstärkte seinen ohnehin schon bohrenden Kopfschmerz.
Peter drehte sich um und griff nach seiner Taschenuhr, die auf dem Nachttisch lag. Er hielt sie in Richtung des Lichtkegels. Schon zehn Uhr morgens! Höchste Zeit um aufzustehen. Aber eine neue Welle der Müdigkeit überkam ihn und er gähnte herzhaft. Noch immer etwas träge rieb er sich die Augen, räkelte und streckte sich. Dann setzte er sich auf und schlüpfte in seine Pantoffeln. Wenigstens würde er in der Küche nicht mit vorwurfsvollen Blicken empfangen werden, denn es war Sonntag. Mutter, Hausmädchen und Gouvernante besuchten gerade die Messe.
„Nur durch den allzu weltlich eingestellten Wilhelm haben sich diese laschen Sitten eingeschlichen“, pflegte die Mutter – mit einem pikierten Seitenblick auf ihre Söhne - zu sagen, bevor sie sich an den Kopf der kleinen Truppe setzte und das Haus in Richtung Kirche verließ.
Schon hatte Peter die Türklinke heruntergedrückt, aber er besann sich eines Besseren, denn hatte vor, den Kasten der Mumie zu vermessen. Da es sicher nicht empfehlenswert war, im Nachthemd im Keller herumzuschlurfen, wechselte Peter schnell die Kleider.
Wieder konsultierte er seine Taschenuhr. Schon Viertel nach zehn! Höchste Zeit ans Werk zu gehen! Im Vorbeigehen öffnete er vorsichtig die Tür von Johanns Zimmer. Peter war beruhigt, dass sein Bruder noch immer leise schnarchend im Bett lag, denn er wollte ihn lieber nicht auf seine Exkursion in den Keller mitnehmen. Genauso geräuschlos wie er sie geöffnet hatte schloss Peter die Tür.
Er tappte die Treppe hinunter, steckte die Nase in die Küche und bemerkte erleichtert, dass eine Kaffeekanne auf dem Tisch stand. Anderenfalls hätte er auf sein Frühstück verzichten müssen, denn er wollte seine Arbeit im Keller erledigt haben, bevor der Bruder erwachte oder gar die Frauen aus der Kirche zurückkehrten. Er legte die Hand auf das Porzellan der Kanne. Erwartungsgemäß war es war eiskalt, aber dies dürfte der Wirkung des Koffeins keinen Abbruch tun. Peter schnitt sich nur eine Brotkante ab, die er hastig verschlang. Dann kippte er einen halben Becher des kalten Kaffees herunter und erklärte damit das Frühstück für beendet.
In der Diele lauschte er einen Augenblick, aber er hörte keine Schritte im Haus. Dann holte er aus der Vorratskammer eine Petroleumlampe und einen Zollstock in kehrte in die Diele zurück.
Die Kellertür ging schwerer auf als Peter vermutet hatte und sie quietschte markerschütternd. Warum hatte er dies niemals zuvor registriert? Peter fluchte innerlich vor sich hin, denn er hatte vorgehabt die Mumie nachts heimlich aus dem Keller zu transportieren, aber dies war unter diesen Umständen zu riskant. Notgedrungen musste, er warten bis er allein im Haus war, also bis nächsten Sonntag. Eine ganze Woche verplempert bis zum Aufbruch!
Mit der Lampe in der Hand stieg Peter die Treppe herunter. Unten angelangt bemerkte er sofort mit Schrecken, dass jemand in der Zwischenzeit im Keller herumgestöbert hatte. Das Regal zur Rechten stand leicht schief und auf dem Boden lagen kleine Häufchen von Sägemehl. Was hatte das zu bedeuten? Außer ihm selbst hatte sich bisher nur der Hauslehrer für die ägyptischen Altertümer interessiert und dieser weilte inzwischen im fernen Königsberg. Wer sonst war im Keller gewesen und vor allen Dingen: warum? Peter wurde von einer unangenehmen Vorahnung ergriffen.
Wenigstens stand die große Kiste, in der sich die Mumie befand noch an ihrem Platz. Um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war hob Peter den Deckel der Versandkiste einen Spalt hoch und ließ ihn sofort wieder mit einem halbunterdrücktem Schmerzenschrei fallen, denn er hatte sich einen Splitter in die Handfläche getrieben. Der Aufprall auf die Kiste verursachte einen dumpfen Schlag, der im Keller widerhallte. Hoffentlich hatte er Johann nicht geweckt! Mit den Zähnen knabberte Peter solange an der Hornhaut seiner Handfläche herum bis er den Splitter endlich herausgezogen hatte.
Ein zweites Mal hob er, den Zollstock unter den Arm geklemmt, den Deckel der Kiste hoch und stellte ihn gegen die Wand auf den Boden. Mit der Lampe leuchtete er in die Kiste hinein und seine Augen wanderten staunend über den farbigen hölzernen Sarkophag, den er enthielt. Er hatte die vereinfachte Form eines Menschen mit realistisch gestalteten Gesichtszügen und stilisierten Füßen. Auf den Körper waren geflügelte Wesen aufgemalten.
Um die Hände frei zu haben, deponierte Peter die flackernde Lampe und den Zollstock auf das oberste Brett des Regals. Dann streckte er die Hände aus und legte sie auf den Sarkophag. Er fühlte sich kühl und glatt an, nicht lebendig und vibrierend, wie sein Bruder behauptet hatte. Peters Finger wanderten über den Sarkophagdeckel und suchten ganz vorsichtig, um das kostbare Stück nicht zu beschädigen den Spalt zwischen Deckel und Unterteil. Als er ihn gefunden hatte atmete er tief ein und hob endlich den Deckel mit einem entschlossenen Ruck an. Als dieser sich vom Unterteil zu lösen begann, glitt ein prickelndes Gefühl Peters Fingers hinab.
Er lugte neugierig in den Sarkophag und hätte vor Schreck fast auch diesen Deckel herunterfallen lassen, denn im Innerem des hölzernen Sargs lagen nur kleinen Fetzen eines weißen Gewebes. Die Mumie hingegen war verschwunden!
„Verdammt, was ist da schon wieder schief gegangen!“, fluchte er laut los, obwohl er völlig allein im Keller war.
Plötzlich durchfuhr ihn der wahnsinnige Gedanke, dass nicht nur der Schatten der Ägypterin im Haus umherging, sondern auch ihre Mumie. Jetzt steckt dich Johann schon an mit seinem Verfolgungswahn, dachte er schlecht gelaunt.
Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Fausthieb in den Magen: Das hatte also der Onkel am hellerlichten Tag in der Nachbarschaft zu tun gehabt! Mutter hatte hinter seinem Rücken die Mumie an Onkel August verschachert! Bestimmt hatte der Apotheker vor, sie zu Pulver zu zermahlen, um sie als Heilmittel zu verkaufen. Bei der bloßen Vorstellung bekam Peter einen Brechreiz.     Â
Fast hätte er die Mutter in flagranti erwischt, aber sie hatte ihn zur Post geschickt, damit er keinen Einspruch gegen den grässlichen Handel erheben konnte! Peter fühlte sich hintergangen. Eine ohnmächtige Wut stieg in ihm auf. Am liebsten hätte er laut geschrieen.
Mühsam zwang er sich dazu tief durchzuatmen, denn er musste sich überlegen, wie er die Mumie retten konnte. Als er seine Fassung zurückerlangt hatte, sagte er sich, dass noch nicht alles verloren war. Schließlich hatte man die Mumie erst seit kurzem entführt. Peter zählte die Tage an den Fingern ab und er atmete erleichtert auf: nur drei Tage waren verstrichen, seit er die Kutsche des Apothekers auf der Straße gesehen hatte! Wahrscheinlich hatte der lethargische Onkel die Mumie noch nicht einmal ausgewickelt. Trotzdem musste Peter so bald wie möglich handeln. Wie gut, dass er bereits die Pässe abgeholt und Geld von der Bank abgehoben und zwischen seinen Büchern versteckt hatte.
Noch immer innerlich vor Wut kochend, klappte er den Sarkophagdeckel wieder zu und verschloss sorgfältig die Versandkiste. Mutter brauchte nicht zu wissen, dass er ihr auf die Schliche gekommen war.
Während er ganz langsam, als trüge er eine schwere Last, die Treppe hochstieg zermarterte sich Peter das Hirn darüber, wo er die Mumie lagern könnte, wenn er sie wiederbesorgt hatte. Er kam immer wieder zu demselben Ergebnis und dies gefiel im überhaupt nicht: Sosehr es ihm widerstrebte kam nur die Bude von Moritz in Frage, denn die Eltern der anderen würden ihn sofort bei der Mutter verraten. Warum besaß nur Johann sowenig Freunde?
Immer noch mit seinem Schicksal hadernd, dass wieder einmal alles an ihm hängen blieb löschte Peter oben angelangt die Lampe und schloss die Kellertür hinter sich zu. Wieder drang ein lautes Quietschen durch die Diele. Wenigstens hatte er mittlerweile einen Schlachtplan entworfen.
„Da bist du ja!“, rief ihn Johann durch die Küchentür zu. „Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst.“
Peter betrat die Küche und ließ sich erschöpft vom Schlafmangel und frustriert über das Verschwinden der Mumie auf einen Stuhl fallen. Das Fenster stand offen, sodass eine leichte Brise durch den Raum wehte und Peter wischte sich die verschwitzte Stirn mit dem Ärmel ab.Â
Mit einem Seitenblick musterte er den Bruder, der ohne große Begeisterung an einem Stück Brot nagte. Er war etwas blass, wirkte aber sonst guter Dinge, jedenfalls im Vergleich zu seiner Stimmung in der vergangenen Nacht.
„Ich bin übrigens früh um fünf in die Küche gegangen und habe die Schnapsflasche geholt und in meinem Zimmer versteckt“, erklärte Johann und erhob sich um Kaffee nachzuschenken.
„Das war eine sehr gute Idee“, gab Peter neidlos zu. Er selbst war viel zu betrunken gewesen, um auch nur einen einzigen Gedanken an die verräterische Flasche zu verschwenden. „Jetzt können wir behaupten, dass es eine Flasche Likör war, die wir geleert haben.“
Immer wieder staunte Peter über das Talent seines Bruders, Ausreden zu erfinden, während er selbst es eher auf einen Streit ankommen ließ.
Wenn du wüsstest, wie gleichgültig mir die Flasche mittlerweile ist, dachte er im gleichen Augenblick. Es lag ihm schwer im Magen, dass er Johann schonend beibringen musste, dass die Mumie aus dem Keller verschwunden war.
„Wir müssen früher nach Ägypten aufbrechen, als ich gedacht habe“, begann er vorsichtig.
Johann schaute alarmiert von seinem Teller auf.
„Warum diese plötzliche Eile? Stimmt etwas nicht?“
Peter nickte und wollte etwas erwidern, aber im gleichen Augenblick wurde die Wohnungstür von außen aufgeschlossen. Das ist ein Wink des Schicksals, dachte Peter. Nun hatte er einen Vorwand, um dem Bruder ohne Umschweife von der Katastrophe zu berichten.
„Mutter hat die Mumie an Onkel August verkauft, aber das lassen wir uns nicht gefallen! Wir werden sie uns zurückholen“, flüsterte er Johann zu und ließ den völlig fassungslosen Bruder am Frühstückstisch sitzen.
„Aber wir können doch nicht einfach … “, protestierte Johann, aber Peter brachte ihn mit einer abwehrenden Handbewegung zum Schweigen.
Elise trat in die Diele und Peter atmete erleichtert auf, als er sah, dass sie allein war.
„Ihre Mutter schickt mich“, erklärte das Mädchen und machte einen Knicks. „Ich soll ein Buch holen, das sie vergessen hat. Außerdem soll ich ausrichten, dass Sie bei Ihrer Tante Henriette an die Mittagstafel eingeladen sind.“
Peter suchte panisch nach einem Vorwand, um sich vor der lästigen Einladung zu drücken. Schließlich musste er den Raub der Mumie planen.
„Richte ihr bitte aus, dass sie nicht auf uns warten braucht, denn …“
„Mein Bruder hilft mir bei einer Seminararbeit, die ich am Montag abgeben muss“, mischte sich Johann ein, der Peter gefolgt war. „Wir werden leider dafür noch den ganzen Nachmittag benötigen.“
Peter war etwas irritiert darüber, wie glatt dem Bruder diese Lüge über die Lippen ging. Vielleicht war es kein Zufall, dass er selbst Jurisprudenz studierte, während Johann sich zur Literatur hingezogen fühlte.
„Ich werde es Ihrer Mutter ausrichten!“, brummte das Mädchen finster.
Dann verschwand sie im Bibliothekszimmer, kam mit einer alten, zerfledderten Schwarte - nach ihrem Einband zu schließen religiösen Inhalts - zurück und schlug grußlos die Tür hinter sich zu.
„Welche Laus ist der denn über die Leber gelaufen?“, sagte Peter, mehr zu sich selbst, denn gewöhnlich strahle Elise, wenn sie ihn sah.
„Sie hat Angst, dass Mutter ihr Vorwürfe macht, weil sie uns nicht zur Tante mitbringt“, erklärte Johann und schaute seinen Bruder fragend an. Dann setzte er sich, schob seinen Stuhl zurecht und räusperte sich verlegen.
„Und was machen wir jetzt?“
Er klang ziemlich ratlos.
Warum half Johann nicht bei der Planung des Einbruchs? Peter ärgerte sich, dass der Bruder – wie immer – gar keine eigene Initiative zeigte.
Eine Kutsch bretterte draußen vor bei und Peter dachte an den Apotheker. Er ärgerte sich über sich selbst. Warum hatte er sich wider besseres Wissen zur Post schicken lassen? Er hätte seinem Instinkt folgen sollen!
„Du packst unsere Sachen, aber bitte nicht nur Bücher! Wir brauchen wetterfeste Kleidung, Leibwäsche, zwei Schlafsäcke und Lebensmittel … „begann er, dann zögerte er einen Augenblick, weil er auf den Widerspruch den Bruders wartete, aber dieser blieb aus. „In der Zwischenzeit besorge ich eine Mietkutsche und ich fahre bei Moritz vorbei, um zu sehen, ob er zuhause ist.“
„Warum?“
„Wir werden unser Gepäck bei ihm verstecken … und auch die Kiste, in der wir die Mumie transportieren können …. wir sollten die Zeit nützen. Bald sind wir nicht mehr allein im Haus.“
„Und, wenn Mutter bemerkt, dass die Kiste verschwunden ist?“
„Ich glaube nicht, dass sie heute noch in den Keller geht ….“
Peter sprach lieber nicht aus, dass sie in der folgenden Nacht bereits in der Apotheke einbrechen mussten, wenn sie verhindern wollten, dass der Onkel die Mumie beschädigte.
Johann sah ihn skeptisch an.
„Warum bringen wir die Sachen ausgerechnet zu Moritz? Ich denke du hast etwas gegen seine neuen Freunde von der Burschenschaft …“
Peter nickte und verzog das Gesicht.
„Wem sagst du das! Aber ich kenne sonst niemanden mit einer sturmfreien Bude.“
Er sah seinen Bruder scharf an. Dieser zuckte mit den Schultern.
„Ich leider auch nicht, aber …“
„Moritz mag sensationsgierig sein, aber er ist kein Dieb. Die Sachen sind bei ihm sicher“, unterbrach Peter, der den Eindruck hatte, dass „aber“ das Lieblingswort seines Bruders sei. „Ist ja auch nur für kurze Zeit.“
„Also ob es hier die Hitze nicht schon unerträglich genug wäre“, beklagte sich Johann und fächerte sich mit einer Zeitung kühle Luft zu, „Wir müssen wahnsinnig sein, in die Wüste zu fahren!“
Hoffentlich äußerte Johann jetzt keine weiteren Einwände!
„Und wir brauchen auch einen Teppich von mindestens fünf Fuß Länge, Vater hat einen ganzen Stoß Teppiche mitgebracht! Da wird sich sicher etwas Passendes finden“, sagte Peter daher, um dem Bruder zuvor zu kommen. „Aber genug geredet, wir sollten uns beeilen!“
Peter machte Anstalten zu gehen, blieb aber vor der Tür stehen, weil er noch etwas vergessen hatte.
„Johann!“ Der Bruder drehte sich um. „Hör mir bitte genau zu, das ist ganz wichtig.“
„Ich hör dir immer zu“, maulte der Angesprochene.
„Wenn es der Deifel will und die Frauen vor mir zurückkommen, dann stell bitte auf das Fensterbrett im Bibliothekszimmer irgendein möglichst großes Buch!“Â
Johanns Gesicht spiegelte sein Erstaunen wieder. Bestimmte fragte er schon wieder nach, warum er dies tun sollte!
„Gute Idee!“
Peter blickte seinen Bruder ernst in die Augen.
„Kann ich mich darauf verlassen?“
„Ja, klar!“
Peter war davon nicht völlig überzeugt, denn der Bruder war ein rechter Traumtänzer, der oft genug seine Aufgaben vergaß.
Ich muss mich nur noch einen Tag gedulden, sagte er sich zur Beruhigung. Hoffentlich verläuft alles nach Plan.
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Als der Bruder aus der Wohnung gestürmt war, blieb Johann einen Augenblick lang unschlüssig in der Diele stehen, denn er war noch immer ziemlich mitgenommen vom nächtlichen Besuch des Schattens. Außerdem musste er diese unerwartete neue Wendung - nämlich, dass die Mumie aus dem Keller verschwunden war - erst noch verarbeiten und zu allem Ãœberfluss quälte ihn ein schrecklicher Kater. Trotzdem fühle er sich besser als in den vergangenen Wochen, denn wenigstens wusste er nun, warum er von Alpträumen geplagt wurde.Â
Wenn nur dieser Durst nicht wäre! Johann ging in die Küche, drehte den Wasserhahn auf, ließ sein Glas nun schon zum dritten Mal an diesem Morgen randvoll mit Wasser laufen und trank es hastig aus.
Er seufzte leise, denn im graute vor der bevorstehenden Expedition. Was hatte er eigentlich verbrochen, dass er nun in die Wüste geschickt wurde? Und wenn man sie beim Einbrechen in der Apotheke erwischte? Und überhaupt: Warum sollten sie eigentlich die Mumie stehlen? Wenn sie in der Apotheke blieb, würde vielleicht ihr neuer Besitzer von schrecklichen Träumen verfolgt! Aber sie sind doch meine Tante und mein Onkel, rief Johann sich ins Gedächtnis zurück. Also würde er sich opfern müssen. Für Peter hingegen war diese gefährliche Reise ein willkommener Vorwand, sich aus dem Staub zu machen.
Als er an seinen Bruder dachte, fiel Johann ein, dass er die Bündel für die Reise schnüren sollte. Schon bald würden sie nach Ägypten aufbrechen! Momentan ging Johann alles viel zu schnell. Lustlos schlenderte er ins Elternschlafzimmer und öffnete die Wäschetruhe. Bald hatte einen Stoß Leibwäsche, Nachthemden und Strümpfe auf das Bett geworfen. Aber woher einen Schlafsack nehmen? Dieses seltsame Wort hatte Peter sicherlich aus einem Abenteuer-Roman. Johann kramte zwei Decken aus dem Schrank, in die er die Wäsche einschlug. Er überlegte, in welchen Koffer er all dies verstauen sollte, aber dies war eigentlich egal, denn die Mutter würde jeden von ihnen vermissen, wenn er nicht am Platz war.Â
Plötzlich kam Johann eine Idee: Es gab noch einen weiteren Koffer in diesem Haus, nämlich den von Vater. Mutter hatte ihn auf den Dachboden verbannt, weil sein Anblick sie traurig machte.Â
Johann schleppte die beiden Bündel in sein Zimmer und warf sie auf das Bett. Dann ging er durch den Flur zum Treppenhaus und stieg die Stufen zum Speicher hinauf, den er schon seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Oben angelangt blieb er verblüfft stehen, denn er hatte eine Rumpelkammer mit Staubmäusen und Spinnwebe erwartet, aber keinen sauber gefegten leeren Innenraum, in dem Wäscheleinen aufgespannt waren, an denen Bettwäsche hing.
Johann ließ seinen Blick schweifen: Die Tür zur linken führte wahrscheinlich in Elises Kammer, daneben stand ein prall gefüllter Wäschekorb und ganz dahinten in der rechten Ecke stand der alte Lederkoffer, den Vater aus Ägypten mitgebracht hatte.
Als Johann den Speicher durchquerte knarrten die Dielen unter seinen Füßen, aber dies war ihm egal, denn er war allein im Haus. Er hob den Koffer vom Boden und war erstaunt über dessen Gewicht. Man hat ihn nicht einmal ausgepackt, durchfuhr es Johann. Sein Herz klopfte und er war ganz aufgeregt: Was mochte sich in diesem Koffer befinden?
Nur mit Mühe konnte sich Johann beherrschen, nicht augenblicklich den Koffer zu öffnen. Mit Mühe schleppte er ihn die Treppe hinab in sein Zimmer und ließ ihn auf sein Bett fallen, direkt neben die beiden Bündel. Voller freudiger Erwartung öffnete er die Schnallen der beiden Gurte, die den Koffer umgaben. Er zögerte einen Augenblick, dann klappte er den Deckel auf. Eine Staubwolke explodierte in sein Gesicht. Johann nieste dreimal. Vielleicht hätte er den Koffer doch nicht auf das Bett legen sollen? Aber zu Spät! Johann musterte den Inhalt des Koffers. Er hätte nicht sagen können, was er zu finden gehofft hatte, vielleicht Juwelen, Goldmünzen oder die Karte, die ihn zu einem Schatz führen würde, aber nicht alte Kleidung!
Enttäuscht ließ Johann sich auf das Bett fallen und eine Staubwolke flog auf. Er schalt sich selbst einen Toren, dass er so hochgesteckte Erwartungen gehabt hatte. Dann stöberte er im Koffer herum. Unter der Wäsche lagen ein Tropenhelm und eine sandfarbene Jacke. Sie könnte sich als nützlich erweisen, denn Johann besaß keine Kleidung, die für eine Expedition tauglich war.
Er erhob sich vom Bett und schlüpfte in die Jacke, die ihm zu groß war. Die Mutter würde bestimmt sagen: da passt noch ein Pullover drunter und manchmal hatte sie auch recht. Sagte man nicht, dass die Nächte in der Wüste bitterlich kalt seien? Als er zum Spiegel ging, überflutete Johann eine Welle des Selbstmitleids, denn er dachte an die Sahara mit all ihrem Schrecken.
Mit skeptischen Blicken musterte er sein Spiegelbild, denn die Jacke stand ihm nicht besonders gut. Als er seine Schultern straffte, um imposanter zu wirken, bemerkte er, dass der Stoff an der Brust spannte. Da war irgendein Widerstand! Johann betastete die  Jacke und fand eine Innentasche. Er griff hinein und zog ein Notizbuch heraus. Es war ein abgegriffenes, ledergebundenes Buch im Quartformat. Johann war ganz aufgeregt über diese Entdeckung. Vielleicht enthielten die Aufzeichnungen einen Hinweis darauf, woher die Mumie stammte.Â
Mit vor Ungeduld zitternden Fingern schlug er das Notizbuch auf und sah, dass die Schrift der Eintragungen winzig war. Er kniff die Augen vor Anstrengung zusammen und studierte den Text auf der ersten Seite, aber zu seiner grenzenlosen Enttäuschung konnte er ihn nicht lesen. Er war in einer schönen, gleichmäßigen Handschrift verfasst, aber die Worte ergaben einfach keinen Sinn. Johann blätterte weiter, konnte aber auch die folgenden Seiten nicht entziffern. Was nicht ist, kann ja noch werden, dachte er und steckte das Notizbuch in die Tasche seiner eigenen Jacke.Â
Dann holte er aus dem Schlafzimmer einen Koffer, der groß genug war um den Inhalt des anderen Koffers darin zu verstauen und legte Stück für Stück alles hinein, was er nicht brauchte.
Aber wir können doch nicht einfach verschwinden, ohne der Mutter eine Nachricht zu hinterlassen, durchfuhr es ihn plötzlich. Sie grämt sich sonst zu Tode.
Mit klopfendem Herzen setzte er sich an seinen Schreibtisch und tauchte seine Feder in das Tintenfass.
Liebe Mutter, schrieb er, aber dann fiel ihm nichts mehr ein.
Vielleicht suche ich doch lieber zuerst einen Teppich aus, dachte er und machte sich wieder an die Arbeit.
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Peter erreichte den Marktplatz, wo die Mietdroschken standen. Unter einer Linde lümmelten die dazugehörigen Kutscher herum und warteten zigarettenrauchend auf Fahrgäste. Bevor sich Peter für einen der finster drein blickenden Gesellen entschieden hatte, winkte ihm ein langer, dürrer Mann mit weißen Bartstoppeln im wettergegerbten Gesicht zu seiner Kutsche. Da seine Kollegen nicht protestierten, vermutete Peter, dass dieser auch ihrer Meinung nach an der Reihe war.
Er nannte das Fahrziel und öffnete die Kabinentür, aber der Kutscher stand noch immer auf dem Platz, ihn abschätzig musternd, als ob er befürchtete, dass sein Gast nicht zahlen könnte. Peter verkniff sich einen Kommentar, stieg ein und schaute gelangweilt aus dem Fenster heraus.
Der Kutscher bestieg einige unverständliche Worte vor sich hinbrummend den Bock und knallte mit der Peitsche. Das Pferd trabte los und die Droschke polterte über das Kopfsteinpflaster der sonntäglich ruhigen Straßen.
Das darf doch wohl nicht wahr sein, dachte Peter als sie in die Marktstraße einbogen, in der der Apotheker wohnte. Vielleicht hätte er sich einen anderen Weg ausbedingen sollen, aber dies hätte nur den Argwohn des Kutschers verstärkt. Niemand vermutet mich in einer Droschke, sagte er sich zur eigenen Beruhigung, aber vorsichtshalber schaute er doch lieber mit gesenktem Kopf auf den Boden. Man konnte ja nie wissen, ob nicht eine der Nichten auf der Straße herumlief.
Glücklicherweise war die Straße nicht lang und Peter konnte den Kopf wieder heben und sich entspannt auf dem Sitz zurücklehnen. Die Häuser flogen an ihm vorbei und bald hatten sie die Schillerstraße erreicht, in sich das Zimmer von Moritz befand.
Peter schreckte auf seinen Gedanken auf, denn er sah in der Ferne die kräftige Figur seines Freundes, der ihnen auf dem Bürgersteig entgegentrottete, noch immer mit Studentenmütze und Burschenschaftsschärpe.
„Bitte halten Sie sofort!“, rief Peter dem Kutscher zu. Â
Dieser zügelte augenblicklich das Pferd, die Bremsen quietschten und die Droschke kam mit einem derartig heftigen Ruck zu stehen, dass Peter sich fast den Kopf an der Wand der Fahrgastkabine stieß. Peter konnte sich des Verdachtes nicht erwehren, dass der Kutscher dies absichtlich getan hatte.
Der heimtückische Geselle beugte sich vom Bock herunter und grinste ihn breit an.
„Bitte warten Sie einen Augenblick!“, sagte Peter, sich mühsam seinen Protest verkneifend. „Ich möchte kurz mit diesem Herrn sprechen.“
„Wenn Sie meinen, Sie können …“, begann der Kutscher zu schimpfen.
„Schon gut“, unterbrach Peter. Er stieg aus und drückte dem Mann eine Silbermünze in die Hand. „Ich bin gleich wieder da.“
Mit schnellen Schritten ging er Moritz entgegen, der von seinen dramatischen Auftritt sichtbar beeindruckt war.
„Was ist denn in dich gefahren?“, rief er ihm zu. „Hast du in der Lotterie gewonnen?“
„Das erzähle ich dir später. Ich habe es schrecklich eilig.“ Peter zwang sich ein Lächeln ab. Er schluckte, bevor sein Anliegen formulierte, sosehr widerstrebte es ihm, Moritz um etwas zu bitten, da dieser sich in der letzten Zeit als hochgradig unsensibel erwiesen hatte. „Kann du mir vielleicht einen Gefallen tun? Ich würde gern einige Gepäckstücke in deinem Zimmer lagern, nur für ein, zwei Tage …“
„Warum nicht? Bring sie Morgen vorbei.“ Der skeptische Gesichtsausdruck seines Freundes sprach Bände. „Hast du Ärger mit deiner Mutter?“
„Nicht Morgen, sondern sofort!“, präzisierte Peter, ohne auf die Frage einzugehen, die Moritz ihm gestellt hatte.
Dieser runzelte missbilligend die Stirn. Dann schürzte er die Lippen.
„Ich war gerade auf dem Weg zum Lokal der Burschenschaft. Du weißt sonntags werden dort die Mensuren abgehalten!“
Sein Tonfall war anklagend und Peter unterdrückte nur mühsam seine Wut auf den so genannten Freund und seine neuen Kameraden. Nimm dich zusammen, ermahnte er sich, sonst hilft er dir nicht.
„Es dauert nur eine Viertelstunde“, erklärte er mit einer einladenden Geste in Richtung Kutsche, „wir fahren zu mir und unterwegs erzähle ich dir alles.“
„Nur, wenn ich endlich die Mumie sehen darf!“, sagte Moritz mit einem widerwilligen Nicken.
Peter zog sich der Magen zusammen. Am liebsten hätte er Moritz einen gemeinen Erpresser genannt, aber er konnte es sich nicht leisten, es mit ihm zu verderben.
„Ja, noch heute Nacht!“, versprach er in einem feierlichen Tonfall und die beiden jungen Männer gingen zur am Straßenrand wartenden Droschke, deren Kutscher sie schon misstrauisch beäugend auf der Straße erwartete und dabei den Kopf seines Pferdes tätschelte.
„Wie aufregend! Hast du es dir anders überlegt, ich meine, was die Mumien-Party betrifft“, meinte Moritz, als sich die Kutsche in Bewegung setzte und zwinkerte Peter verschwörerisch zu.
„Nein! Das hast du falsch verstanden“, entfuhr es Peter und sein Blick verdüsterte sich. Dann begann er widerwillig seinen Bericht.
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