Romane & Erzählungen
DAS GESCHENK ( 4 ) - Der Bettler

Teil 4: Der Bettler

Als ein schweres Gewitter niedergeht, findet ein Bettler, der auf der Suche für ein Nachtquartier ist, Unterschlupf im Kloster. Nach dem bescheidenen Nachtmahl mit den Mönchen und vor dem Nachtgebet findet ihn der Bruder Baumeister in einem Winkel des Kreuzgangs kauernd. Seine dürftige Bekleidung verdient diesen Namen kaum. Auch er ist schmutzig, Haupt- und Barthaar sind ungepflegt. Trotzdem lässt sich der Baumeister bei ihm nieder. Er beginnt ein Gespräch mit der Frage, woher und wohin des Weges. Nach einiger Zeit des Schweigens und nach einem langen prüfenden Blick bricht der Bettler endlich sein Schweigen und erzählt: „Ich heiße Johannes und bin das dreizehnte Kind eines Bauern und für mich blieb nichts mehr übrig, das ich hätte erben können. So  verdingte ich mich bei verschiedenen Großgrundbesitzern. Bei meinem letzten Herrn hörte ich, dass sie jenseits der Grenze Bauern suchen. Dort bekomme ich ein Stück Land und kann mich ansiedeln. Ich bin schon mehr als drei Monate unterwegs und vor einigen Tagen wurde ich von Räubern überfallen. Die nahmen mir nicht nur meine Kleider ab, sondern auch noch das Wenige, das ich mir erspart hatte. Das war in meinen Mantel eingenäht. Diese Lumpen hier überließen sie mir. Aber das Kostbarste, das ich besitze, das durfte ich behalten.“ Der Bruder Baumeister schaut ihn etwas verwirrt an, als der Bettler fortfährt: „Das Kostbarste, mein Leben, das ließen sie mir. Und größere Verletzungen habe ich auch nicht davon getragen. Wenn ich mich einige Tage bei euch hier ausruhen darf, dann ziehe ich gerne weiter.“ Da entschuldigt sich der Bruder Baumeister für einige Augenblicke und kommt dann mit dem Abt zurück. Dieser gewährt dem Auswanderer eine Woche Erholung im Kloster, ein Bad, neue Kleidung sowie Kost und Unterkunft inbegriffen.

Als die Woche um und der Tag der Weiterreise angebrochen ist, steht der Bruder Baumeister vor dem Auswanderer und sagt: „Zur Erinnerung an dieses Kloster möchte ich dir,  lieber Johannes, dies kleine Päckchen überreichen. Trage es nahe bei deinem Herzen, glaube allezeit an Gottes Hilfe und Schutz,  liebe stets das, was du tust, und vertraue darauf, dass alles gut wird in deinem neuen Leben. Eine gute Reise!“

Johannes nimmt das in Stoff gewickelte Päckchen, bedankt sich beim Bruder Baumeister und dem Abt des Klosters. Der Bruder Pförtner bringt ihn vor das Tor. Beide umarmen sich, dann schließt sich die Klosterpforte. Eine ungeahnte Kraft durchströmt Johannes, als er den letzten Teil seiner Reise ins Ausland beginnt.

 

© HeiO 12-2010