Romane & Erzählungen
DAS GESCHENK - Abschied (1)

Abschied

Die junge Frau steht im großen Wohnraum ihres Elternhauses. Ihre Hände umschließen fest einen kleinen Gegenstand, der in ein Stück groben Stoff gehüllt ist. Nie hat sie gewagt, den Stoff zu öffnen und zu sehen, was in dem Päckchen enthalten ist, das sie jetzt so fest umklammert. Während die Bilder der Vergangenheit vor ihr auftauchen, stiehlt sich ihr eine Träne ins Auge. Sie sieht wieder ihren Großvater vor sich, der ihr dieses Päckchen zu ihrer Einsegnung überreichte und sie hört heute so deutlich wie damals seine Worte: „Liebe Adelheid, dieses Geschenk wurde mit viel Liebe hergestellt und für dich ausgewählt. Glaube an seine helfende Kraft und verliere nie die Hoffnung, dass in deinem Leben alles gut wird. Trage es nahe bei deinem Herzen und hüte es wie deinen Augapfel. Wenn du es einmal weitergibst und es kommt in die richtigen Hände, dann wirst du es nie verlieren!“

Zwei Tränen benetzen den groben Stoff, während sie das Päckchen betrachtet. Gleich wird Gundemar vor ihr stehen, ihr Geliebter und Bräutigam. Doch ehe sie heiraten und eine Familie gründen können, muss er – wie es die Statuten seiner Zunft vorschreiben – für drei Jahre auf Wanderschaft gehen. Ja, ihre Entscheidung steht fest: ihr Bräutigam soll das Päckchen bekommen. Ihn soll es gesund erhalten, an ihre Treue erinnern und ihn darin bestärken, dass sie bei seiner Rückkehr ein glückliches Paar werden.

Die Türglocke reißt sie aus ihren Gedanken. Dann steht Gundemar vor ihr. Es wird ein sehr liebevoller, doch Tränen reicher Abschied. Nun drückt ihm Adelheid das kleine Päckchen in die Hand. Unter Tränen flüstert sie ihm zu: „Trage es immer an deinem Herzen. Meine Liebe begleitet dich, dein Glaube beschützt dich und unsere Hoffnung trägt uns durch alle Unbilden.“ Nach einer langen Umarmung und einem heißen Kuss, der alles verspricht, trennt sich das Paar und Gundemars Wanderschaft beginnt.

 

© HeiO 12-2010