Beschreibung
Gebete sind wie aufsteigender Weihrauch: zärtlich und süß oder heiß und bitter.
Erzählung in 5 Teilen
Teil 3: In der Kathedrale
Als Thomas dieses ehrwürdige Gebäude betritt, umfängt ihn mystisches Dämmerlicht. Durch die farbigen Fenster fallen ein paar Sonnenstrahlen, werfen magische Farbreflexe auf den Boden und auf die Säulen des Gebäudes, die den Himmel zu berühren scheinen. Zart hängt der Duft von kostbarem Weihrauch zwischen den Säulen und betört die Sinne. Dann sucht er sich einen versteckten Platz. Er findet ihn bei einem Seitenaltar, vor dem ein Ständer mit vielen brennenden Opferkerzen steht. Während er davor kniet, beginnen die Flammen sachte zu wabern und zu fließen, bis sie ihn gänzlich einzuhüllen scheinen. Die Atmosphäre hat sich verdichtet und Thomas vollkommen eingesogen. In diesem Augenblick beginnt er zu beten:
„Allmächtiger Gott, welch schöne Erde hast du geschaffen. Aber was machst du mit den vielen Menschen, die leiden? Du schickst ihnen all das Elend, die Krankheiten, die Hungersnöte, die Katastrophen. Warum nur tust du das? Ich bitte dich, wenn du der gütige Gott bist, dann wende du ihr Schicksal, sorge du für genug zu essen, für sauberes Wasser, für medizinische Versorgung und vor allem, sorge du dafür, dass die Kriege aufhören und wieder Frieden ist. Halte bitte du die Dürren zurück,….“
Während Thomas so in seiner Verzweiflung mit Gott hadert und ringt, immer neue Hilfebitten und Forderungen in den Himmel schickt, ist leise eine Frau hinter ihn getreten. Ihre Gestalt ist in weite Gewänder gehüllt, ihr Gesicht im Dämmerlicht nicht zu erkennen.
Plötzlich unterbricht eine glockenhelle Stimme sein Gebet: „Lieber Thomas, was willst du? Gott in die Verantwortung ziehen für die Taten der Menschen? Mit ihm gar abrechnen? Wer hat abgeholzt, bis es keine Bäume mehr gab? Wer hat die Flüsse begradigt? Wer hat durch Eingriffe die kunstvolle Ordnung der Natur zerstört? Wer plündert und quält diesen Planeten? Ihr Menschen seid es! Und merke dir: Nicht Gott straft euch, sondern die Folgen eures unüberlegten Handelns sind es. Und es läuft mehr und mehr aus dem Ruder! Aber bedenke auch: Ihr seid als Abbilder Gottes geschaffen, ausgestattet mit Güte, Vertrauen, Verantwortungsbewusstsein, Einsicht in Zusammenhänge, Respekt und Achtung vor Natur und eures Gleichen und mit unendlicher Liebe. Und ihr seid auserwählt, diesen Planeten wieder in ein Paradies zu verwandeln. Denn Gott ist nicht nur im Himmel zu finden, sondern in jedem Menschen, in der gesamten Schöpfung und der ihr eigenen Weisheit. Steh auf, erwecke den göttlichen Teil – die Liebe – in dir und handle. Ihr habt das Wissen, die Macht und das Geld, die Menschen und den Planeten zu heilen.“
Plötzlich herrscht wieder Totenstille in der riesigen Kathedrale. Thomas dreht sich erschrocken um, aber keine Schritte, nichts. Es ist alles wie es vorher war, als er zum Gebet nieder kniete. Nur die Flammen der Opferkerzen wabern nicht mehr.
Noch eine ganze Weile verharrt er in tiefem Schweigen an seinem Platz. Das mystische Licht, das ihn vorhin erfasste und einzusaugen schien, ist verschwunden.
Thomas wischt sich verwirrt über die Augen wie um etwas zu verscheuchen. Dann verlässt er langsam und versonnen das imposante Bauwerk dieser gotischen Kathedrale. Als er wieder in der Sonne steht, scheint er erst vollends zu erwachen und eilt dann zum nächst gelegenen Bahnhof. Am kommenden Morgen wird ihn der Onkel in seiner Heimatstadt in Empfang nehmen. Was soll er ihm bloß erzählen?
©Hei-O 12-2010