Beschreibung
Ein frühreifer Kritiker auf der Bühne, ein abgeklärter vor ihm im Parkett ...
Ben war zwölf, als er zum ersten und letzten Mal auf der Bühne stand. Er war der Längste in seiner Klasse und sah älter aus, also hatte ihm der Lehrer die Rolle des Vaters im Stück gegeben. Sie probten fast ein Jahr lang, immer wieder während der Schulstunden, bis zum Überdruss. Endlich war der Elternabend da und die große Turnhalle bis auf den letzten Platz gefüllt mit Erwachsenen im Feiertagsgewand. Wie aufgeregt sie da unten waren und so stolz, ein Stolz, ganz unabhängig von den Darbietungen. Es waren doch ihre Kinder …
Am Anfang wurden Gedichte heruntergerasselt. Ein blondes Kind mit engelhaftem Ausdruck spielte zum Steinerweichen Flöte. Dann eine Gymnastikgruppe, die Plakate herumschwenkte, deren Aufschriften keiner lesen konnte. Das Theaterstück wird der Höhepunkt sein, etwas Lustiges.
Sie stellten eine kleine Familie dar, in der es drüber und drunter ging. Während sie spielten, gewann Ben immer mehr Abstand zu seiner Rolle, sagte bloß noch mechanisch den Text auf und begann zu beobachten. Das Stück war miserabel und sie stümperten nur herum, das war jetzt sein Eindruck. Und dazu die glänzenden Gesichter und großen Augen da unten – war all das nicht grotesk? Und vielleicht war es das wirkliche und insgesamt viel großartigere Schauspiel …
Er sollte jetzt brüllen: „Ihr verdammten … Ich werde euch …“ Und dann sollte er sich seinen Sohn greifen und ihn auf die herkömmliche Art vertrimmen. Ben ging stattdessen zur Rampe und sah ins Auditorium. Das Publikum reagierte gespannt, wähnte einen Höhepunkt der Handlung herankommen. Er hätte, wenn überhaupt etwas, am liebsten nur Bäh! gesagt.
Herr S., der Lokalreporter, saß in der ersten Reihe. Ben erkannte ihn daran, dass er seinen Notizblock auf den Knien hatte. Ihre Blicke trafen sich. Herrn S.’ Miene wurde beredsam, sie drückte Verständnis aus und solidarische Gefühle. Ben hörte ihn sagen: Du, mach jetzt keinen Skandal. Ich weiß, wie`s dir da oben geht, wie du dich fühlst … Aber meinst du, mir hier unten macht der ganze Scheiß Spaß? Ist doch alles nur Krampf, da hast du ganz Recht. Aber was soll ich machen? Es muss immer weiter gehen … Also, mach keinen Skandal, wenigstens jetzt noch nicht. Ich bitte dich: weiter im Text … Herr S. nickte ihm aufmunternd zu.
Ben senkte den Blick – Ende ihrer stummen Zwiesprache. Er ging zu den Mitspielern zurück, bemühte sich zu brüllen: „Ihr verdammten … Ich werde euch …“. Langte nach dem Sohn und markierte lustlos Verprügeln. Nur jetzt noch einmal weiter im Text, dann nie wieder. Und der Skandal? War, wie er unklar fühlte, nur aufgeschoben.