Wenn einen die Traurigkeit gefangen hält, wie eine Spinne ihre wehrlosen Opfer und man sich nicht mehr aus ihr befreien kann, dann ist das Leben, was man leben muss, nur ein immer wieder kehrender Horror. Mit jedem neuen Tag der beginnt, werden die Gedanken schlimmer. Was wäre wenn? Warum? Das Leben, ein Schleier, ein sich nach vorne bewegender Prozess und doch ist man irgendwie nicht richtig ein Teil des Ganzen.
Es war an einem verschneiten Abend, als mich die Realität wieder härter traf, als ich erwartet hätte. Schon über sechs Jahre war es her, dass wir unsere Mutter in den Tod getrieben hatten. Sechs Jahre und doch fühlte sich der Schmerz noch immer so nah an, so greifbar, als sei es erst gestern gewesen.
Mit tränenüberströmtem Gesicht sah ich auf die fein säuberliche Handschrift meiner Mutter. Das Blatt Papier, welches meinem Herzen einen tiefen Schnitt zugeführt hatte, umklammerte ich krampfhaft und immer wieder verlor sich nur ein Gedanke in meinem Kopf. Sie wollten mich nicht. Sie haben mich nie gewollt. Ich hörte die Worte meines Vaters, klar und deutlich. Das Kind wird zu dumm sein um einen Eimer Wasser umzukippen. Erneut durchfuhr mich ein Stich, weitere Tränen bahnten sich den Weg über meine Wangen. Ich blätterte durch die Seiten. Jeden Tag das Gleiche. Ich will das Kind nicht. Ich weiß nicht, von wem es ist. Er will das Kind nicht.
Wenn ich nie erwünscht war, wieso wurde ich dennoch geboren? Hätten sie mir das Leben nicht einfach ersparen können? Wütend klappte ich das Buch zu und warf es in eine Ecke.
Von hinten legte sich eine warme Hand auf meine Schulter. „Tut mir Leid, ich wusste nicht, dass es dich so hart trifft“, sagte meine Schwester Sophie vorsichtig.
Ich schüttelte kaum merklich mit meinem Kopf und schluchzte. „Schon ok.“
Sie nahm mich in den Arm und wir blieben einige Minuten einfach so sitzen. Arm in Arm, spendeten uns den Trost, den wir nie von jemand anderen bekommen hatten. Peter kam zu uns ins Zimmer, sagte nichts, sondern kuschelte sich zwischen uns und dann weinten wir. Die drei, die nie eine Familie hatten, die eine Einheit waren.
Nach einiger Zeit löste sich Sophie aus der Umarmung. „Du musst damit aufhören, Marie“, sagte sie bestimmend.
„Womit?“, fragte ich verwirrt und wischte mir die feuchten Tränen aus dem Gesicht.
„Immer wieder zu versuchen an sein Gewissen zu appellieren. Du kannst einen Menschen nicht ändern.“ Sophie sprach von unserem Vater. Erst heute hatte ich wieder eine E-Mail von ihm erhalten, wo er uns als Lügner bezeichnete und sich als den Leidtragenden darstellte. Ich konnte einfach nicht verstehen, dass ein Mensch so auf sich selbst fixiert war, um nicht zu erkennen, wer unter den Taten zu leiden hatte.
„Dir muss das scheiß egal sein“, ergänzte sie noch. „Mir ist es scheiß egal!“ Ich blickte sie an. Ihre Gesichtszüge waren verhärtet, so wie immer, wenn sie sauer war.
Leise fügte ich hinzu: „Ja, aber ich mag ihn doch. Es tut einfach alles so weh.“
„Du kannst ihn nicht ändern, das musst du endlich kapieren!“, wiederholte sie. Ich nahm es ihr nicht übel, dass sie so gereizt reagierte. Ich konnte sie ja verstehen.
Ich nickte nur und schaute wieder zu Boden. Sie hatte die Hoffnung schon längst aufgegeben, ich noch nicht.
In dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen. Meine Geschwister übernachteten bei mir, da es so stark geschneit hatte und die weite Heimfahrt viel zu riskant gewesen wäre.
Ich wälzte mich von der einen auf die andere Seite. Neben mir schlief mein Lebensgefährte und ich kuschelte mich vorsichtig an ihn. Es war so eisig kalt in unserem Schlafzimmer, dass ich beschloss die Heizung höher zu stellen. Als ich an unserem Kleiderschrank vorbei ging, erschrak ich fast zu Tode, weil ich jemanden im Spiegel stehen sah. Minuten vergingen, ehe ich begriff, dass es lediglich mein eigenes Spiegelbild war. Mein Pulsschlag normalisierte sich und so ging ich zum Fenster und drehte die darunter befindende Heizung ganz auf. Ich schaute nach draußen und wieder erschrak ich vor meinem Spiegelbild, was sich ganz sachte im Fenster abbildete. Irgendetwas irritierte mich daran.
Mein Spiegelbild lächelte. Ich war mir allerdings ziemlich sicher, dass ich nicht lächelte. Ich kniff fest meine Augen zusammen, rieb in ihnen und öffnete sie wieder. Es hatte sich nichts verändert, mein Spiegelbild lächelte immer noch. Ich bekam eine Gänsehaut und fröstelte am ganzen Körper. Vorsichtig schaute ich mich nach links und nach rechts um. Mein Herz begann wie wild zu rasen, als ich bemerkte, dass mein Spiegelbild still stehen blieb. Ich haute mir mit der flachen Hand ins Gesicht, da ich mir sicher war, dass ich träumte. Doch der darauffolgende Schmerz fühlte sich so echt an. Obwohl mir bitterkalt war, bildeten sich feine Schweißperlen auf meiner Stirn. Ich ging so schnell ich konnte zum Bett zurück, doch als ich an unserem großen Kleiderschrank vorbei ging, packte mich etwas am Arm und riss an mir. Bevor ich überhaupt in der Lage war zu schreien, wurde mir der Mund zugehalten. Mit einem Ruck wurde ich nach hinten gerissen. Eine warme Hand legte mir sanft die Finger auf meine Lippen.
„Ich tue dir nichts“, flüsterte eine, mir sehr bekannte Stimme. Es war meine eigene.
Ich wurde vorsichtig umgedreht und dann sah ich mir selbst in die Augen. Panisch versuchte ich mich aus dem Griff zu befreien, doch mein Spiegelbild war zu stark. „Ich sagte bereits, ich tue dir nichts. Ich möchte dir nur etwas zeigen.“
Als ich mich in unserem Zimmer umsah, bemerkte ich, dass alles spiegelverkehrt war.
„Was ist hier los?“, fragte ich mit zittriger Stimme.
„Du träumst“, antwortete mein Spiegelbild und setzte sich in Bewegung. Nach ein paar Schritten hielt es inne, drehte sich um und winkte mir zu. Ich folgte ihm.
Plötzlich befanden wir uns auf einer großen Wiese, voll bunt blühender Blumen. Es lag ein Geruch in der Luft, der sofort Frühlingsgefühle in mir weckte. Mein Spiegelbild drehte sich erneut zu mir um, machte eine ausholende Handbewegung und drehte sich im Kreis. Dabei lachte es und mir fiel auf, dass etliche Menschen auf der Wiese verweilten, lachten, redeten und Spaß miteinander hatten.
„Was ist das hier?“, fragte ich mein Spiegelbild.
„Die andere Seite“, antwortete es mir melodisch.
Ich schritt über die Wiese. Die Angst verflog, genauso wie die Trauer und die Wut, die seit Jahren in meinem Herzen wüteten.
Plötzlich sah ich meine Geschwister. „Was machen sie hier?“, fragte ich verwirrt und zeigte auf die Beiden.
„Das gleiche wie du. Sie sehen die andere Seite.“
„Was ist denn die andere Seite?“, fragte ich und beobachtete ein glückliches Pärchen, die es sich mit einer Decke gemütlich gemacht hatten und miteinander alberten.
„Das musst du selbst herausfinden“, antwortete mein Spiegelbild nur und deutete auf eine verhüllte, schwarze Gestalt, die auf einem Hügel stand und das bunte Treiben auf der Wiese beobachtete.
Von dem eigenartigen Wesen auf dem Hügel ging eine Kraft aus, die ich nicht definieren konnte. Es wirkte nicht böse, doch auch nicht freundlich. Es hatte keine Augen. Es war einfach nur schwarz.
„Marie“, sprach es, wobei es jeden einzelnen Buchstaben meines Namens in die Länge zog. „Ich habe dich bereits erwartet.“
„Wer sind sie?“, fragte ich, während ich mit jedem Schritt dem schwarzen Etwas näher kam. Meine Beine leiteten mich von ganz alleine. Es war fast so, als bestünde ein magisches Band zwischen mir und dem Ding. Ich hatte das Gefühl, dass ich zu ihm hin musste, dass es wichtig war. Sehr wichtig.
„Das spielt keine Rolle. Ich überbringe dir eine Nachricht.“
Ich stand nun genau vor dem Wesen und konnte unter dem schwarzen Dunst, der ihn umgab, sogar so etwas wie ein Gesicht ausmachen. Meine Hände begannen zu zittern und plötzlich verspürte ich erneut die Angst in all meinen Gliedmaßen. Eine Hand packte mich behutsam an der meinen. Es war mein Spiegelbild, das mich anlächelte.
„Marie“, sagte das Wesen mächtig. „Du siehst die andere Seite.“ Es machte eine ausholende Bewegung mit der knorrigen Hand. „Du bist auserwählt, eine von vielen und doch etwas ganz Besonderes.“
Ich war völlig verwirrt und schaute mein Spiegelbild fragend an. Dieses nickte nur in Richtung des Wesens.
„Ich verstehe nicht“, begann ich, doch das Wesen hob seine Hand um mir zu bedeuten nicht weiter zu sprechen.
„Wird der Funke in dir erlöscht und dein Begehren nach Leben allmählich erlischt, du das Glück auf ewig suchst, verzweifelt meinen Namen rufst, so werde ich dich finden, egal wo du bist, deine Leiden beenden und dir die andere Seite zeigen, die für dich die Hoffnung ist.“
Mit diesen Worten löste sich das Wesen vor mir auf. Instinktiv streckte ich meine Hand aus um danach zu greifen, doch nichts, als ein schwarzer Nebel blieb zurück, der durch meine Finger glitt.
„Ich verstehe das nicht“, wandte ich mich an mein Spiegelbild.
Dieses lächelte immer noch. „Wenn du ihn rufst, dann wird er kommen.“
Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und wischte mir mit der Hand über die feuchte Stirn. Als ich meine Augen wieder öffnete, lag ich zu Hause in meinem Bett, neben meinem Lebensgefährten, der seelenruhig schlief.
Leise schlich ich nach oben, da an Schlaf nun nicht mehr zu denken war. Ich bemerkte, dass im Wohnzimmer noch Licht brannte und schaute vorsichtig durch den Spalt in der Tür. Meine Geschwister saßen auf dem Sofa und unterhielten sich leise.
„Ihr seid ja noch wach“, sagte ich, während ich ins Wohnzimmer schritt.
Meine Schwester fuhr zusammen. „Oh Gott, hast du mich erschreckt. Jo, wir können net pennen. Haben irgendwie beide schlecht geträumt.“
„Oh ich auch“, antwortete ich und packte mir mit der Hand an die Stirn, da diese schmerzhaft zu pochen begonnen hatte.
„Ich hab irgendwie voll den Durst“, meinte Peter, als ich mich gerade in einen Sessel hatte sinken lassen.
„Du kannst dir in der Küche was holen. Es müsste noch etwas auf der Theke stehen.“
Während Peter in die Küche verschwand, schwiegen Sophie und ich. Die ganze Zeit dachte ich an meinen mysteriösen Traum und was er zu bedeuten hatte. Es hatte sich alles so echt angefühlt und doch war ich mir bewusst, dass dies nicht die Realität gewesen sein konnte. Das Pochen in meiner Stirn war in einen quälenden Kopfschmerz übergegangen.
Plötzlich hörten wir einen lauten Schrei aus der Küche, gefolgt von schnellen Schritten. Sofort raste mein Puls und ich sprang aus dem Sessel. Eine Welle der Panik durchflutete meine Gliedmaßen.
Peter kam ins Wohnzimmer gestürmt. „Da… da…“, stotterte er und holte tief Luft. „Da steht ein Skelett auf dem Balkon und klopft an die Tür.“
Sophie lachte sofort los und mein Herzschlag beruhigte sich ein wenig. Die Panik wich einem flauen Gefühl im Magen.
„Peter du bist so geil! Ich hab dir das fast geglaubt, so panisch, wie du guckst“, meinte Sophie immer noch lachend. Doch Peter reagierte nicht auf sie.
„Peter?“, fragte ich ihn und ging auf ihn zu. Er war am ganzen Körper verkrampft. „Verarschst du uns?“
„Nein!“, schrie er. „Guck doch nach!“
Mir war nicht wohl bei der Sache. Peter war bekannt für seine makaberen Scherze, doch seine Angst war nicht gespielt.
Langsam ging ich in die Küche und erstarrte als ich nach draußen sah.
Auf dem Balkon stand tatsächlich eine Gestalt, eingehüllt in einen schwarzen Umhang. Ich weiß nicht, was in mich fuhr, als ich auf die Balkontür zu ging. Irgendetwas zog mich fast magisch an.
Ich erblickte unter dem Umhang ein Skelett. Am Rande meiner Empfindung nahm ich zwar die Panik wahr, die sich in meinem Körper ausbreitete, doch kam mir dieses Skelett so vertraut vor. Ich stellte mich dicht vor die Scheibe, die mich von dem Skelett trennte und betrachtete es minutenlang. Mein Atem beschlug an dem kalten Glas. Das Skelett stand still da und ich spürte, dass es mich ansah, nicht boshaft, eher erwartungsvoll. Ich blickte ihm in die Augen, oder besser gesagt, in die Höhlen, wo sich die Augen zu den Lebzeiten befunden haben mussten.
„Willst du rein?“, fragte ich es langsam mit zittriger Stimme.
Das Skelett nickte.
„Muss dafür wieder jemand sterben?“, fragte ich diesmal ganz leise.
Erneut nickte es.
„Wer ist es?“, hauchte ich.
Das Skelett hob langsam die Schultern und senkte sie wieder und schüttelte kaum merklich den alten Schädel. Ich fühlte mich plötzlich so frei, befreit von all der Last, die ich mit mir herumtragen musste.
Langsam öffnete ich die Tür, um es willkommen zu heißen.
Im Hintergrund hörte ich meinen Bruder in die Küche stürmen und meinen Namen schreien. Doch es war zu spät.
Der Tod war soeben in unser Heim getreten.