Die leblose Geschichte
Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die eigentlich gar keine sind. Die Tage bleiben weiß in grau, Schnee in Wolkenfarben. Draußen regt sich kein Windhauch, Drinnen klirrt kein Glas aneinander. Selbst die Zeiger der Uhr sind stehengeblieben als wollten sie untermalen, wie nichtssagend ein Tag verstreichen kann. Das Flimmern des Fernsehbildes taucht das Wohnzimmer in ein seltsames Zwielicht, seine sekündliche Veränderung ist eine beinahe böswillige Unterbrechung des ansonsten gleichbleibenden Raumes. Im Bad tropft der Wasserhahn. "Plop" tönt es durch die Stille. Und wieder "Plop". Der Fernseher dagegen schweigt sich aus, abgesehen von den schon beschriebenen Lichtsignalen natürlich. "Jemand sollte mal den Wasserhahn abstellen." sagt sie zu ihm. Erst jetzt fällt überhaupt auf, dass sie im Raum sind. Beinahe wie Dekorationen, die jemand angestaubt und gammelig vergessen hat sitzen sie auf den Stühlen aus dunklem Holz mit den hohen Lehnen. "Ja, sollte wohl jemand." Dann ist es wieder still. Abgesehen von dem natürlich weiterhin zu hörenden "Plop". Denn natürlich fühlt sich keiner von beiden angesprochen. Und ein 'Jemand' existiert in dieser Wohnung nicht. Existenz – Das ist auch eigentlich das passende Wort um zu beschreiben, was die beiden tun. Sie bleiben in ihrer Zeitblase stecken, ohne miteinander zu reden, ohne miteinander zu leben. Der Tod hat schon vor Jahren Einzug gehalten an diesem Ort, er hat das Lebendige herausgerissen. Übriggeblieben sind die beiden Hüllen, die er zurückgelassen hat. Den Schmerz darüber haben sie längst verdrängt, irgendwo in einen dunklen, staubigen Winkel in dem er sie nicht mehr berührt. Aber vorher hat er alles andere aus ihren Körpern herausgebrannt, hat abgetötet was sie sich über all die Jahre an Gefühlen bewahrt hatten. Sie hatten sich sogar einmal geliebt. Jetzt brauchten sie einander um nicht einfach am Morgen im Bett liegen zu bleiben und nicht mehr aufzustehen, bis sie verdurstet wären. Es wären qualvolle Tage, aber dann hätten sie vielleicht endlich den Frieden, den sie sich seit Jahren nunmehr wünschten.
Aus dem Schlafzimmer ist ein Geräusch zu hören. Ein ersticktes Gurgeln, als ob ein Mensch zu schreien versuchen würde und aus seiner Kehle kein Laut dränge. Alles an ihrem Körper lässt sie älter wirken als sie eigentlich ist. Kaum mehr als 40 Jahre hat ihr das Leben im Glück vergönnt, aber sie sieht aus, als hätte sie beinahe die doppelte Anzahl der Jahre in Trauer verbracht. Die Holzsohlen ihrer Pantoffel klicken leise über das Parkett. Ihr Rücken ist im Gehen leicht gebeugt, als trage sie eine permanent schwere Last auf ihren Schultern. Vorsichtig öffnet sie die helle Türe, das Gurgeln wird lauter. Sie atmet nochmals tief durch, dann strafft sie die Schultern und betritt den hellen, sonnendurchfluteten Raum. Auf dem Bett liegt der Mensch – oder das was noch von ihm übrig ist – dessen Mund sich die seltsamen Laute entringen. Seine Gliedmaße sind seltsam verdreht, seine Mundwinkel hängen locker nach Unten, seine Zungenspitze ragt knapp über die Unterlippe, Speichel tropft auf das wohlweislich mit einem Tuch abgedeckte Kissen. Seine Augen sind glasig, sie starren unentwegt die Decke an. "Ich bin ja hier Tom." flüstert sie und drückt seine Hand, er erwidert den Druck nicht, sie weiß nichtmals ob er überhaupt bemerkt, dass sie anwesend ist. Aber die Hoffnung aufgeben kann sie ebenfalls nicht, es ist ihr einfach nicht möglich diesen Gedanken loszulassen. "Hast du schlecht geträumt?" Sie streicht eine verschwitzte Strähne hinfort, die ihm über die Augen gefallen ist. "Du musst dir keine Sorgen machen, die bösen Träume gehen vorbei. Und sieh doch nur, Draußen lacht die Sonne. Sie ist extra für dich aufgegangen um dir den Tag schöner zu machen." Im Nebenzimmer tropft der Wasserhahn. "Jemand sollte den Wasserhahn zudrehen." murmelt er im Wohnzimmer. Sie lässt die kalte Hand los, geht ins Badezimmer und dreht das Wasser ab. Dann geht sie zurück ins Wohnzimmer und setzt sich wieder auf ihren Stuhl, ihm gegenüber. Im Schlafzimmer ist es still. Und im Bad nunmehr auch.