Biografien & Erinnerungen
Der Schlüssel

Paul sitzt im Wohnzimmer. Auf dem Salontisch liegt sein Schlüsselbund. Seine ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf einen Schlüssel, für den es seit einem Jahr kein Türschloss mehr gibt.

„Dieser Schlüssel war mein Begleiter. Eigentlich brauchte ich ihn nur selten – dreimal kurz den Klingelknopf drücken und schon wurde mir geöffnet“, kommen wehmütige Worte über seine Lippen. Dann schließt er die Augen und sehnt sich nach dieser Zeit zurück, die für immer abgeschlossen ist.
In seinen Gedanken laufen kurze Filme ab:

Er sieht sich als Dreikäsehoch, der kaum die Türklinke erreichen kann. Dem es aber trotzdem voller Stolz gelingt, sie zu drücken und in den Garten zu gelangen.

Ein andermal ist die Tür abgeschlossen – und dies mit gutem Grund! Doch es gibt ja auch noch das Küchenfenster. Der Sprung von ca. 2 Meter Höhe aufs Gras hinunter ist ja keine Hexerei, denn sein älterer Bruder macht es ihm vor.

Wie herrlich ist es, ums Haus herum Fußball zu spielen. Und wenn man Durst hat, geht man einfach hinein, trinkt frisches Hahnenwasser oder manchmal auch einen Himbeersirup. Am besten schmeckt er, wenn sich nach dem umrühren oben ein Stern bildet.

Es ist Mittagszeit. Erwartungsvoll kommt er von der Schule und drückt die Türklinke. Schon von Weitem hat er das feine Essen gerochen. „Juppi, heute gibt es Bratwürste mit Kartoffelstock und Bowärle (Erbsen).“

Verwandte, Bekannte, Freunde und auch Fremde kommen gerne auf Besuch. Für jeden wird die Tür geöffnet. Im Hausgang hängt ein schlichtes Holzkreuz mit der Aufschrift: „Herr segne dieses Haus und alle die da gehen ein und aus.“
Das Haus ist voller Leben. Tagsüber ist die Tür stets offen, doch am Abend wird sie mit Bedacht abgeschlossen.

Manchmal drehen Paul oder seine Geschwister nun spät abends oder erst in den frühen Morgenstunden ihre Schlüssel im Schloss.
Nach und nach fliegen alle aus. Auch er hat jetzt einen weiteren Schlüssel am Schlüsselbund. Doch der erste Schlüssel ist das Original. Er benutzt ihn immer noch mit großer Freude.

Dann kommt der traurige Tag, an dem auf sein Klingeln niemand mehr die Tür öffnet. In der Folgezeit kann er immer noch mit seinem Schlüssel das Haus betreten. Es ist auch alles da, so wie es immer war – doch kein Leben mehr.

Zwei Jahre steht das Haus leer, bis seine Schwester, die neue Besitzerin, sich entscheidet, es leicht umzubauen und zu vermieten.
„Das Haus muss ausgeräumt werden.“ – Wie schmerzhaft!
Überall sind Erinnerungen. Jedes Stück, das Paul in seinen Händen hält, hat seine Geschichte. Da sind noch seine ganzen Schulhefte. Besonders freuen ihn die Aufsatzhefte. Er blättert darin und liest die Fantasieaufsätze. Im Rechtschreibheft sieht er mit einem Schmunzeln das Datum 23.12.1970. Wie gut kann er sich an seinen damaligen Ärger erinnern, so kurz vor Weihnachten noch ein Diktat schreiben zu müssen. Von vielen Gegenständen kann er sich einfach nicht trennen und nimmt sie mit zu sich.

Seine Schwester lädt ihn ein, das renovierte Haus zu besichtigen. Alles ist wunderschön – aber leblos und leer. Die alte Haustür und das Schloss sind ersetzt worden.

An Weihnachten spaziert er am Haus vorbei und freut sich, dass im Haus Licht brennt – es dort wieder Leben gibt. Er weiß, dass jetzt drei kleine Mädchen mit ihren Eltern darin glücklich sein dürfen. 

Paul nimmt den Schlüsselbund vom Salontisch, betrachtet den einen Schlüssel, den er zwischen Zeigefinger und Daumen hält. Er ist mit der Aufschrift „SÄNTIS“ geprägt. Mit feuchten Augen spricht er leise: „Ja, du bist das Original, das leider niemals mehr mein Elternhaus aufschließen kann.“