Beschreibung
Mein verspäteter Beitrag zum Weihnachtsfest
Es war kalt. Zumindest vermutete er das. Überall lag Schnee und lange Eiszapfen hingen von den Häuserdächern.
Er blickte an sich herunter. Die zerfetzte Hose, die seinen Körper nur notdürftig bedeckte. Sein Hemd war noch zerrissener gewesen. Er hatte es sich irgendwann abgerissen. Irgendwann in der langen Zeit, die er hier schon stand. Wie lange, das spielte schon keine Rolle mehr.
Sein Blick fiel auf seine rechte Hand. Sein Zeige- und Mittelfinger waren offensichtlich zusammengefroren. Geistesabwesend nahm er seinen Zeigefinger und drehte ihn so weit zur Seite, bis das Eis zwischen den Fingern barst und er beiden wieder bewegen konnte. Er sollte sich bewegen. Aber warum sollte er das tun?
Eine Bewegung am Rande seines Blickfeldes ließ ihn zusammenfahren. Eine Tür öffnete sich. Ganz langsam, so wie sie sich jedes Jahr geöffnet hatte. Halb hinter eine Tanne geduckt stand er da und beobachtete wie die Tür nun entgültig geöffnet wurde und zwei Kinder nach draußen stürmten. Sie trugen beide dicke Schneeanzüge und Handschuhe. Sarah trug eine grüne, Ben eine blaue Mütze. Beide lachten als sie durch den Schnee sprangen und fast bis zur Hüfte in ihm versanken.
„ Mami? Wann kommt den jetzt der Weihnachtsmann?“ rief Ben, während er darum kämpfte nicht in einer Schneewehe zu versinken.
Eine Frau erschien in der Tür und schloss diese hinter sich.
Obwohl man wenig von ihr sehen konnte, da sie wie die Kinder dick eingemummelt war, sah er das sie immer noch wunderschön war. So schön wie damals.
„ Der kommt wenn ihr beiden am wenigsten damit rechnet.“ lachte die Frau und drehte den Schlüssel im Schloss der Tür.
„ Warum das denn?“ fragte Sarah verdutzt und kratzte sich unter ihrer Mütze.
„ Damit er eure Geschenke abstellen kann und dann weiterfahren kann, seine Renntiere können es nicht leiden, wenn er sie so lange warten lässt. Und denkt doch erst mal an die anderen Kinder, die wollen auch ihre Geschenke kriegen.“
Die beiden Kinder lachten.
Er sah sie zwar lachen, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, wie er sich damals immer gefühlt hatte. Erschreckend. Letztes Jahr hatte er sich noch daran erinnern können, dieses Jahr nicht mehr. Wie lange würde es noch dauern bis er nicht mehr hierher kommen würde?
Er machte einen Schritt nach hinten. Er hatte sie gesehen und nun war es Zeit wieder zu gehen. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen.
„ Schau mal, da ist vielleicht der Weihnachtsmann!“ rief Sarah und sie und Ben rannten sofort auf die Tannen zu hinter denen er sich versteckte.
„ Und war er da?“ fragte ihre Mutter, die langsam hinter den beiden herstapfte.
„ Nein.“ die beiden Kinder kamen resigniert hinter der Tanne hervor.
„ Aber dieses Jahr sehen wir ihn.“ rief Ben und seine Mutter und Sarah fielen in sein freudiges Jauchzen ein, als die drei auf die Straße traten.
Er hatte sich mit einem Satz hinter die Mühlcontainer gerettet als seine Kinder.... nein als Sarah und Ben auf ihn zugekommen waren.
Sie sollten ihn nicht sehen. Durften ihn nicht sehen. Mussten ihn nicht sehen.
Er hob den Kopf und blickte in den Sternenhimmel.
Vermutlich würde er nächstes Jahr nicht wiederkommen. Er war auch dieses Jahr nur aus Routine gekommen. Am Anfang war es das wichtigste für ihn gewesen. Er hatte sich auf diesen Tag gefreut... gefreut? Er versuchte das Gefühl zu rekapitulieren, doch es gelang ihm nicht mehr.
Noch ein oder zwei Jahre... dann hätte er sie vergessen. Wüsste nicht einmal mehr ihre Namen kennen.
Und zum ersten mal stimmte ihn dieser Gedanke noch nicht einmal mehr traurig.
Er drehte sich um ging. Er stand schon mit einem Schritt auf der Straße, als er doch noch ein Mal den Kopf wendete und zum Haus zurücksah.
Im Fenster stand ein Teelicht. Es brannte dort jedes Jahr. Es brannte für ihn. Er hatte es Ben und Sarah damals sogar selber erklärt.
„Wenn ihr ein Teelicht ins Fenster stellt dann scheint dieses Licht bis in den Himmel und Oma weiß dann, dass es euch gut geht.“
Das hatte er damals gesagt. Damals als er noch nicht wusste, dass es für ihn keinen Himmel geben würde. Auch nicht nach dem Autounfall vor vier Jahren.
Er wollte Trauer empfinden. Wollte traurig sein, wenn er an sein Todestag dachte, doch es kam nichts. Er war nicht traurig. Er war gar nichts mehr.
Als sich der untote Krieger wieder umdrehte und auf die Straße hinaustrat wusste er, dass er das Haus seiner Frau und seiner Kinder nie wieder besuchen würde. Nächstes Jahr würde er nicht wieder hier stehen. Nächstes Jahr hätte er all das hier vergessen. So wie er jetzt schon vergessen hatte wie es sich anfühlte bei seiner Familie.... Nein! Bei diesen drei Menschen zu sein.