VON SCHNEEKÖNIG UND EISPRINZESSIN
Im äußersten Norden, wo das Festland zu Ende ist und das Meer beginnt, gibt es einen hohen Berg, der von ewigem Schnee bedeckt ist. Dort steht ein riesiges Schloss, gebaut aus den schönsten kleinen und großen Schneekristallen. Wie tausend und aber tausend Sterne blitzt und blinkt es im Mondlicht. Und wenn die Sonne scheint, glänzt und gleißt es so hell, dass du die Augen schließen musst.
Dort ist der Schneekönig zu Hause, ein rauer Geselle von grober Gestalt und grimmigem Aussehen. Mit eiserner Hand regiert er in seinem Reich, lässt leise Winde oder heftige Stürme über das Meer und das Land fegen. Er treibt Unmengen von Schneeflocken vor sich her, bis alles in dicke weiße Daunen gehüllt ist. Ohne Erbarmen lässt er in eisigen Umarmungen alles erstarren und Mensch und Tier fristen in dieser Zeit ein jämmerliches Dasein, wenn er auftaucht. Die Sonne weicht sogar zurück und nur ein schwacher Schimmer erinnert an sie. Dunkelheit breitet sich aus und über den Himmel ziehen grün und blau, türkis oder orange leuchtende Wolken wie Wetterleuchten. Der Schneekönig führt ein einsames Leben und er wird immer grimmiger und grimmiger, wenn er durch sein Reich zieht.
In diesem riesigen Reich gibt es in einem fernen Winkel ein von hohen Bergen umgebenes Tal mit einem klaren Bergsee. Es liegt so versteckt und geschützt, dass es der Schneekönig mit seiner ganzen Macht nie erreichen kann. Alles ist jetzt tief verschneit. Dort lebt ein junges Mädchen. Alle Leute, die dort leben, nennen sie Eisprinzessin. Die frische, kalte Luft hat ihr Wangen gerötet. Ihre langen schwarzen Haare sind in zwei dicke Zöpfe geflochten. Ihre Kleider bestehen aus dem Pelz verschiedener Tiere und aus buntem Filz. Und so hat sie es immer warm.
In der dunklen Zeit erstarrt der See. Eine dicke, gläserne Schicht legt sich auf seine Oberfläche wie ein Spiegel. Wenn sie dick genug ist, kannst du gefahrlos darüber gehen. Das ist die schönste Zeit für unsere Eisprinzessin. Sobald sie sich in dem Spiegel erblickt, beginnt sie zu lachen. Sie läuft auf den Spiegel hinaus und tanzt und hüpft und springt und schlittert auf dem gläsernen See, dass es nur so eine Lust ist ihr zuzusehen. Ihr fröhliches Jauchzen und Lachen hallt von den Wänden der Berge wider.
Irgendwann einmal verirren sich ein paar von diesen Jauchzern und gelangen so bis an das Ohr des Schneekönigs. Zuerst sind sie nur wie leises Gezwitscher, dann werden die Laute deutlicher und deutlicher, bis sie schließlich zu einem leisen Lachen werden. Das grimmige und mürrische Gesicht des Schneekönigs beginnt sich langsam zu glätten. Seine Aufmerksamkeit richtet sich allmählich auf das Lachen und schließlich rührt es sanft an sein Herz, das nun merklich lauter als sonst schlägt.
In diesem Moment beschließt der Schneekönig, dem Lachen nachzugehen und seinen Ursprung zu erforschen. Lange wandert er durch sein riesiges Reich, immer wieder eingehüllt in Schneegestöber.
Dann weist ihm das fröhliche Lachen, das nun lauter wird, erneut den Weg. Mehr und mehr lockt es ihn an, je näher er seinem Ursprung kommt. Nach unzähligen Märschen und dem Überqueren vieler und hoher Gebirgsketten taucht in einem schier unzugänglichen Tal der schöne Bergsee auf.
Die Eisprinzessin geht wieder einmal ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: sie tanzt auf dem gläsernen See und jauchzt und lacht. Vor Freude kommen ein paar Sonnenstrahlen zurück und sie tauchen das Mädchen auf dem See in ihr goldenes Licht. Wie tausend Funken sprüht das Licht über dem See. Der Schneekönig reibt sich verwundert die Augen und kann nicht glauben, was er sieht. Während er das Mädchen aufmerksam beobachtet, wird ihm wärmer und wärmer ums Herz und er beginnt leise zu lächeln. Da schaut die Eisprinzessin zu ihm auf, denn sie hat gespürt, wie sie beobachtet wird. Ihre Blicke begegnen sich und halten einander sehr lange fest.
Schneekönig kann sich von dem zauberhaften Bild, das sich ihm bietet, nicht mehr los reißen. Deshalb beschließt er, noch einige Zeit in dem schönen Tal zu bleiben. Seine grimmige Miene hellt sich mehr und mehr auf und immer häufiger lächeln sich die beiden an. Eines Tages knirscht das Eis ganz gewaltig und bekommt sogar Risse. Die stolze und bisher so unnahbare Eisprinzessin deutet in dem Augenblick auf ihr Herz, reicht Schneekönig die Hand und er zieht sie lächelnd an seine breite Brust. Und so hat es denn auch nicht mehr allzu lange gedauert, bis Schneekönig und Eisprinzessin Hand in Hand durch das enge Tal wandern. Ganz bestimmt flüstern sie sich unendlich viele Liebesworte zu. Allmählich aber wird es milder in dem engen Tal – was die Liebe so alles vermag! – und so ziehen Schneekönig und Eisprinzessin zurück in die Heimat des Schneekönig, in jenes Reich, in dem es niemals Jahreszeiten gibt. Was sie sich auf ihrem gemeinsamen Weg alles zuflüstern, soll ihr Geheimnis sein. Zurück aber bleibt ein See, dessen Eis gerade aufbricht und ein in strahlendes Sonnenlicht getauchtes Tal.
Seither wandern Schneekönig und Eisprinzessin immer gemeinsam durch das Reich des Winters. Überall wohin sie auch kommen, gibt es trübe Tage mit Wind oder Sturm, mit leisem Schneefall oder heftigem Schneegestöber, mit Raureif und eisigen Temperaturen, mit zugefrorenen Teichen und Seen. Und es gibt klare und helle Tage, an denen die Luft vor Kälte klirrt und der Schnee beim Laufen knirscht.
Das sind die Tage der Eisprinzessin, an denen auch wir uns über den Winter freuen können und so gerne mit Ski oder Schlitten über die mit Schnee bedeckten Hänge sausen oder fröhlich mit den Schlittschuhen über die Eisbahn gleiten oder einfach durch die Pracht der verzuckerten Winterlandschaft spazieren.
©HeiO 1-2010
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