Bildquelle:
http://img.fotocommunity.com/Landschaft/Nebelstimmungen/Waldrand-im-Nebel-1-a18144072.jpg
„Mutter erwartete ein Kind. Obwohl ich damals erst 4 war, verstand ich sofort, als Vater sagte, dass das Baby krank war, dass es sterben würde. Mutter war dennoch voller Hoffnung, sie freute sich über nichts so sehr als über die Geburt ihrer kleinen Giselle. Vater war einerseits glücklich, als er von dem Nachwuchs erfuhr, andererseits auch etwas enttäuscht, dass es kein Junge werden würde. Melanie, meine ältere Schwester, die die Welt schon viel länger und besser als ich kannte, erklärte mir, dass Vater außerdem sich vor dem möglichen Tod des Kindes fürchtete. Doch diese Tatsache versuchten wir alle zu verdrängen.
Der Tag der Geburt Giselle’s war sonnig, die Luft war klar, der Spätsommer hinterließ überall seine Spuren. Unser Häuschen befand sich am anderen Ende des Dorfes, am Waldrand. So konnten wir das ganze Jahr über uns im Wald aufhalten, im Frühling süßlich duftende Blümchen pflücken, im Sommer in den Baumkronen Schatten suchen, im Herbst Laubblätter in zig bunten Farben sammeln und im Winter die Tiere, die keinen Winterschlaf hielten, beobachten. An diesem Sommernachmittag liefen Melanie und ich nah am Waldrand und pflückten vergnügt einen riesigen Strauß mit Narzissen, Mutters Lieblingsblumen.
Wir hörten Mutters Aufschreie erst, als wir uns unserem Haus näherten. Kurzen Augenblick lang sahen wir uns an und rannten los. Über Sträucher, an Büschen vorbei, auf unser Häuschen zu.
Bevor wir in Mutters Schlafzimmer stürmen konnten, hielt Vater uns zurück. Er nahm den Narzissenstrauß ab und beauftragte uns, frische Handtücher herzutragen. Seine Miene wirkte besorgt und von Angst geplagt. Während Mutter herzzerreißend weiterkreischte und wir zwei rasch Handtücher aus den Schränken rissen, versuchte Melanie mich zu beruhigen. Ausführlich erklärte sie mir den Vorgang einer Geburt, wobei ich noch nicht einmal die Hälfte verstand. Wie gesagt, ich war erst 4 Jahre alt. Kurz bevor wir die Tür zu Mutters Schlafzimmer aufrissen, verstummte sie. Ein stechender Babyschrei ertönte, erleichtert seufzten wir auf und betraten den Raum.
Mutter lag schweißgebadet und erschöpft in ihrem Bett und hielt die blutverschmierte Giselle in ihren Armen. Vater beugte sich über die beiden und sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Hoffnung und bodenloser Furcht. Mutter brauchte ihre Ruhe. Wir ließen deshalb die Handtücher auf dem Bettende zurück, verließen aufgeregt das Zimmer.
Eine halbe Stunde später war Giselle tot.
Sie hatte nur eine kurze Zeit lang gelebt, hatte ihre Familie in völliger Trauer und Hoffnunslosigkeit verlassen. Unser Hausmädchen hatte mich und Melanie ins Zimmer gerufen, sie hatte ziemlich ernst geklungen, zu ernst. Eine leise Vorahnung zuckte durch mein Gehirn, doch ich ließ diesen Gedanken nicht zu. Mutter sollte nicht tot sein. Sie war es auch nicht, sondern Giselle.
Als wir das Schlafzimmer betraten, saß Vater am Bettende, sein Gesicht in seinen verkrampften Händen versteckt. Mutter stand mit dem Gesicht zum Fenster, ihr Körper bewegte sich gleichmäßig im Takt vor und zurück. Vor und Zurück. Sie drehte sich um. Sie wiegte die tote Giselle, mit gläsernen Augen, nahm nichts von ihrer Umwelt wahr, ihre leblosen Augen waren mit heißen Tränen gefüllt.
Der Narzissenstrauß war in dieser halben Stunde wie durch ein Wunder verwelkt.
Es dauerte ganze zwei Monate, bis Mutter aus ihrer Trance erwachte. Und dann drehte sie durch. Tag und Nacht hörten wir aus ihrem Zimmer ihr unaufhörliches, herzzerreißendes Schluchzen und die Kissen an der Wand gegenüber von ihrem Bett aufprallen. Wir alle trauerten, niemand nahm es ihr übel. Selbst Melanie nicht, obwohl ihr Geburtstag ein stilles, bedrücktes Fest wurde. Als sie ihre sechs Kerzen auspusten wollte, ertönte im oberen Stockwerk ein lautes Klirren von Glas. Mutter hatte die Vase mit den immer noch da stehenden verwelkten Narzissen auf den Boden geworfen und schluchzte ununterbrochen weiter
Giselle‘ s Beerdigung. Mutter hatte wie vermutet gefehlt. Viele Leute waren anwesend, weniger darunter kannten wir. Alle waren gekommen, um zu trauern, ohne das Kind oder seine Familie erst zu kennen. Sie konnten sich nicht die tiefe Trauer, die seitdem über unserer Familie schwebte, vorstellen.
Nach einigen Monaten beruhigte sich Mutter schließlich und ging zum Alltag über. Trotzdem, ein Teil ihrer Persönlichkeit fehlte von dem Augenblick an, als sie unsere Schwester in ihren Armen verlor.“
Meine Tochter blickte mich mit feuchten Augen an, drückte sich fest an meine Schulter. Es war eine der schönsten und der traurigsten Geschichten, die ich ihr von meiner Kindheit erzählt hatte. Sie zeigte die Hoffnung, die wir alle hatten. Gleichzeitig bemerkte ich, dass genau dieser Trost, den mir meine Tochter in diesem Moment schenkte, das war, was Mutter gefehlt hatte. Das hatte sie ständig abgelehnt, bloß auf sich selbst vetraut und sich immer weiter in sich zurückgezogen. Das war es, was sie schließlich zu ihrem Selbstmord verleitete.