Lothar und der Weihnachtsbaum
Lothar Bergmann trat aus dem Eingang des Bürogebäudes, in dem er, seinem Gefühl nach, schon seit ewigen Zeiten arbeitete. Er war froh, diesen Arbeitstag beendet zu haben. Er und seine Kollegen hatten im Büro während der Vorweihnachtszeit immer sehr viel zu tun. Dies lag daran, dass ein Großteil der Kollegen im Urlaub war.
Lothar hatte dieses Jahr in der Woche nach den Feiertagen Urlaub. Die Vorstellung, nach den Festtagen eine Woche frei zu haben, machte ihn glücklich. So konnte er Weihnachten, mit der Vorfreude auf ein paar freie Tage, entspannt genießen.
Er liebte diese Zeit. Diese Tage mit ihrem Lichterglanz in den Straßen, mit den geschmückten Geschäften, mit Weihnachtsmusik aus den Lautsprechern. Er liebte die Vorgärten mit ihren beleuchteten Rentieren, Nikoläusen und Krippen. Er liebte die Spaziergänge über den Weihnachtsmarkt mit dem Geruch nach gebrannten Mandeln, dem Duft der Bratäpfel und dem Wohlgeruch der Duftkerzen.
Traditionell war er in der Familie für den Kauf des Tannenbaumes verantwortlich. Seine Frau war für das Festessen, die Dekorierung des Hauses mit diversen Engeln, Weihnachtsmännern, Tannenzweigen und Schneemann-Fensterbildern zuständig. Die Kinder sorgten für die Vorfreude auf Weihnachtsbescherung und Geschenke.
Heute war nun schon der 23. Dezember. Das hieß, morgen war der letzte Arbeitstag. Bis Mittag musste er durchhalten. Dann begann für ihn die schönste Zeit des Jahres. Was den Kauf des Baumes betraf, war er dieses Jahr später dran als die Jahre zuvor. Es war sozusagen fünf vor zwölf.
Er betrat den firmeneigenen Parkplatz, schloss seinen Wagen auf, startete und fuhr los. Er würde auf seinem Weg nach Hause an der Gärtnerei Huber vorbeikommen und dort den Christbaum kaufen. Es sollte natürlich, wie jedes Jahr, der schönste und größte Baum sein, den die Familie je hatte.
Bei der Gärtnerei angekommen ging er die Paradereihe der Tannenbäume ab. Da gab es die Reihen der Fichten mit ihrem buschigen Wuchs, dünnen Zweigen und hellgrünen Nadeln, die Blaufichten mit dem bläulichen Schimmer im Nadelkleid und den kräftigen Ästen. Der Gruppe der Edeltannen schenkte er besondere Aufmerksamkeit. Ihm gefielen ihre dicken, nicht stechenden Nadeln, die Farbe der Bäume variierte von grün bis silbrig-grau. Die Nordmanntannen ließ er außer Acht. Auch sie hatten zwar weiche, nicht stechende Nadeln, doch mochte er ihre dunkelgrün glänzende Farbe nicht.
Da er unter den anderen Bäumen keinen geeigneten gefunden hatte, ging er noch einmal die Reihen der Fichten ab. Ihm fiel ein Baum auf, der ihm vorher entgangen war. Die Fichte ging ihm mal gerade bis zur Brust. Die Zweige sahen etwas spärlich aus, waren sehr ungeordnet, auf einer Seite war sogar eine ziemliche Lücke im Geäst. Diese Tanne aber zog ihn merkwürdigerweise an, obwohl sie alles andere als ein Muster eines Weihnachtsbaums war. Sie stach aus den anderen Bäumen hervor. Warum, konnte Lothar Bergmann nicht sagen.
Er suchte jedes Jahr immer wieder aufs Neue nach dem vollkommenen Baum und hatte ihn nie gefunden.
Warum gefiel ihm nun diese Fichte? Sie war mit Sicherheit nicht vollkommen. Er selbst, Lothar Bergmann, war aber auch nicht vollkommen. Er war nicht groß gewachsen, seine linke Schulter ließ er immer herunterhängen, sein rechtes Bein war, bedingt durch einen Unfall, in seiner Beweglichkeit eingeschränkt. Seine Frau hatte schon seit längerem ein Hüftleiden, sein jüngster Sohn litt an Dermatitis. Wenn er an seine Arbeitskollegen dachte, fiel ihm nicht einer ein, der nicht über irgendetwas jammerte. Wer war also schon vollkommen? Warum sollte er sich also einen vollkommenen Tannenbaum ins Wohnzimmer stellen?
Dieser Gedanke und der Baum gefielen ihm immer besser. Er ließ sich den Nadelbaum in ein Netz packen und fuhr nach Hause. Wie würde Helene und seinen Kindern der Baum gefallen? Hoffentlich konnte er ihnen deutlich machen, was ihn veranlasst hatte, gerade diese Tanne zu nehmen. Als er die Fichte auf die Terrasse verfrachtet, sie aus dem Netz gezogen und seine Familie zur Begutachtung herbeigeholt hatte, erlebte er eine Überraschung. Seine Kinder lächelten, als sie den Baum sahen, und seine Frau meinte erfreut: »Lothar, endlich schleppst du uns nicht einen deiner Protz-Christbäume an, sondern einen ganz normalen Baum. Das freut mich.«
Am Heiligen Abend, als der Baum geschmückt im Wohnzimmer stand, meinte Lothar, dass die Wachskerzen am Weihnachtsbaum heller leuchteten als in all den Jahren zuvor. Der Baum selbst strahlte, verbreitete Wärme und Besinnlichkeit.