Der letzte Tag
Rückblickend kann ich sagen, dass dieser Tag, der 6. Juni 1979 der wichtigste Tag in meinem Leben war. Ein Tag der Umkehr, ein Tag der Besinnung. Der Tag der Wahrheit.
Ich war an diesem Tag nicht zu meiner Arbeit gegangen. Ich hatte zu dieser Zeit einen Job als Lebensmittelverkäufer in einem kleinen Lebensmittelladen.
Ich saß im Bahnhofsrestaurant meiner Heimatstadt, hatte gerade gefrühstückt und nun stand mein erstes Bier vor mir. Das Frühstück hatte im Grunde genommen eine Alibifunktion, es war nicht nötig. Das Bier war das Entscheidende. Ich saß hier, um zu trinken.
Ich wollte dieses hoffnungslose Gefühl, dass in mir war, nicht mehr spüren müssen. Ich wusste, wenn ich genug trinken würde, würde es verschwinden. Ein Wissen, dass ich schon lange besaß.
Doch irgendetwas war heute anders. Die Hoffnungslosigkeit war tiefer als sonst. Mir war überdeutlich, dass die Hoffnungslosigkeit heute nicht verschwinden würde.
Ich hatte den ganzen gestrigen Abend getrunken, im „Milli Vanilli“ hatte ich zwei oder drei Joints geraucht und hatte mit irgendwelchen Leuten noch irgendwelche Pillen eingeworfen. Ich konnte mich nicht mehr erinnern was dann geschehen war. Filmriss!
Ich war morgens ziemlich früh, unausgeschlafen, noch angeturnt, wach geworden. Genau in diesem Moment stand fest, dass ich diesen Tag nicht zur Arbeit gehen würde.
„In diesen Schuppen werde ich sowieso nie mehr gehen. In diese Klitsche mit diesem Spießer als Chef. Für diesen Hungerlohn werde ich nicht mehr arbeiten.“
Das waren meine ersten Gedanken an diesem Morgen gewesen.
Dass ich aber wieder bei meinen Eltern wohnte, weil ich die Miete meiner vorherigen Wohnung nicht zahlen konnte, vergaß ich hierbei. Ich hatte mein Geld vertrunken und war mit zwei Mieten im Rückstand gewesen, so dass mir gekündigt worden war.
Jedenfalls war klar, dass ich diesen Tag weiter trinken würde, da ich noch Geld in der Geldbörse hatte. Daran konnte ich mich jedenfalls erinnern.
Meinen Eltern gegenüber tat ich so, als würde ich diesen Morgen zur Arbeit gehen, saß nun aber hier in der Bahnhofskneipe. Ich
hatte das Gefühl als würde ein langer Tag vor mir liegen.
Ich erinnere mich, dass ich mir an diesem Tag eine Tageszeitung gekauft hatte, die ich dann las. Was mir von diesen Tagesereignissen in Erinnerung geblieben ist, war dass die Alliierten vor 36 Jahren in der Normandie gelandet waren und das der Schauspieler und Komiker Heinz Ehrhardt an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben war.
Und das ich mich fragte wie ich an diesen Punkt gekommen war.
Und das sich die Erkenntnis, um die ich schon einige Jahre gekämpft hatte, diesen Morgen einstellte. Ich war Alkoholiker!
Vom Kopf war mir dies schon lange klar, doch mein Gefühl konnte da nicht mit nachziehen. Ich konnte mir dies bisher nicht zugestehen, obwohl ich schon drei Jahre vorher, auf Druck des Arbeitsamtes eine Entziehungsbehandlung gemacht hatte. Auch die regelmäßige Teilnahme an der Selbsthilfegruppe der Suchtberatungsstelle konnte nicht verhindern, dass ich immer wieder anfing zu trinken. Mir gelang es zwar einige Zeit mit dem Trinken aufzuhören, doch kam es immer wieder zu Rückfällen. Da ich ohne Probleme kurzfristig das Trinken sein lassen konnte, bestärkte dies leider meinen Gedanken kein Alkoholiker zu sein. Wie ich heute weiß ganz typisch für eine Alkoholikerkarriere.
Doch diese Situation, hier im Bahnhofsrestaurant zu sitzen, nicht zur Arbeit gegangen zu sein um zu trinken, machte es mir plötzlich überdeutlich: Ich war Alkoholiker!
Ich war vorher mit Sicherheit in schwerwiegenderen Situationen durch mein Trinken geraten, ich brauchte ja nur an das Versaufen meiner Miete denken, aber diese Situation machte es mir klar: Ich war Alkoholiker!
Dieser Satz stand mir wie mit dicken schwarzen Lettern vor Augen: Du bist Alkoholiker!
Ich ging auf die Toilette des Bahnhofsrestaurants und ließ meinen Tränen freien Lauf. Doch es waren nicht Tränen der Verzweiflung sondern Tränen der Erleichterung.
Vor meinem inneren Auge standen die Monate der Verzweiflung, die Frage bist du Alkoholiker, ja oder nein? Keine Klarheit darüber zu haben machte mich schier verzweifelt.
Ja zu meinem Alkoholismus zu sagen bedeutete schwach zu sein, willenlos, ein Häufchen Elend. Mir fiel es schwer dies zu bejahen. Wenn ich mich so schön runter gesoffen hatte fiel es mir leicht zu sagen, ja, du bist Alkoholiker. Ich konnte dann auch aufhören zu trinken. Aber kaum ging es mir körperlich und psychisch besser kamen die Zweifel. Ich sollte Alkoholiker sein? Quatsch! Dann trank ich wieder. Ein fürchterlicher Zustand.
Deshalb Tränen der Erleichterung. Keine Zweifel sondern Klarheit!
Doch was nun? Aufhören zu trinken, nach Hause gehen und einfach ohne Alkohol weiter machen? Dazu war ich zu schwach. Der einzige mir vorstellbare Weg war der einer Entziehungstherapie. Also musste ich zur Suchtberatungsstelle und einen Therapieantrag stellen. Das kannte ich schon, hatte das ja schon mal durch. Also direkt zur Suchtberatung? Nein! Ich hatte noch Geld im Portemonnaie. Das bedeutete: wenn ich dieses Geld morgen noch besitzen würde, würde ich es vertrinken! Das war so klar wie irgendwas. So weit kannte ich meine Sucht mittlerweile. Hatte ich auch nur einen Groschen in der Tasche wurde er vertrunken. Die Konsequenz: Das Geld heute vertrinken und morgen zur Suchtberatung. Heute war der letzte Tag! Wie oft hatte ich mir das schon gesagt.
Doch heute hatte ich die Gewissheit, dass es auch tatsächlich so sein würde. Ich war noch nie so sicher gewesen.
Ich zahlte meine Rechnung und machte mich auf in die nächste Kneipe. Ein letzter Zug durch die Gemeinde! Mein letztes Geld musste unter die Leute.
Gesagt getan.
Mittags gegen ein Uhr war ich dann in meiner Stammkneipe. Hier traf ich auch einige Mittrinker. Gute Stimmung kam bei mir jedoch nicht auf, ging mir doch der Gedanke nicht mehr trinken zu wollen nicht aus dem Kopf. Ich wusste durch meine vorherigen Erfahrungen, dass mir ein gutes Stück Arbeit bevorstand. Ein Prozess, der sich über Jahre hinziehen würde. Trotzdem geriet meine Entscheidung nicht in Wanken.
Gegen Abend konnte ich nicht mehr. Ich wollte nur noch nach Hause. Ich hatte zwar den ganzen Tag getrunken, doch hielt sich meine Trunkenheit in Grenzen.
Ich ging dann nach Hause. Ich hatte Angst vor den Vorhaltungen meiner Eltern. Ich hoffte sie würden mir glauben, dass ich ernsthaft mit dem Trinken aufhören wollte. Sie waren ja bisher immer von mir enttäuscht worden.
Als ich zu Hause ankam, musste ich mich auf der Toilette übergeben.
Meine Eltern glaubten mir, dass ich aufhören wollte. Ich musste sehr überzeugend geklungen haben. Ich war auch überzeugt. Ich bat meine Mutter mich den nächsten Tag zur Suchtberatungsstelle zu begleiten, da ich Angst hatte dies alleine nicht zu schaffen. Ich hatte Bedenken, dass der Entzug und meine Unsicherheit, meine psychische Schwäche mir einen Strich durch die Rechnung machen könnten. Meine Mutter war dazu bereit.
Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Am nächsten Morgen ging ich mit meiner Mutter zur Suchtberatungsstelle. Ich stellte den Antrag auf die Langzeittherapie.
Ich musste 5 Monate auf einen Therapieplatz warten.
Ich führe heute ein zufriedenes Leben. Damals, am 6. Juni 1979 war ich 23 Jahre alt. Ich habe seit diesem Tag, trotz vieler Widerstände des Lebens, keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken.