Einsam wacht das rote Papier
John Ritter war ein ehrenwerter Mann. Eigentlich. Die meisten Menschen sahen das freilich ganz anders, denn John Ritter saß seit mehreren Jahren nun ein für etwas, das er nicht getan hatte. Er wurde Opfer einer mysteriösen Verwechslung und verbüßte nun eine Strafe, die schon viele einsame und karge Jahre dauerte. Er war der falsche Mann am falschen Ort zur falschen Zeit. Zu jener unseligen Zeit hatte er diese Leiche gefunden und wollte gerade die Polizei alarmieren, als er Opfer der böswilligen Machenschaften der wohlfeinen Gesellschaft wurde, die ihn vermeintlich auf frischer Tat ertappt haben wollte. John Ritter hatte kein Alibi. Er lebte schon lange zurückgezogen und alleine in dieser fremden Stadt und es hätte niemanden gegeben, der ein gutes Wort für ein eingelegt hätte.
Nein, John Ritter passte nicht wirklich in diese Gesellschaft. Ein Mann, der trotz allen Reichtums bescheiden blieb und sich weder um Etikette noch um besonderes Ansehen bemühte. Er war der Typ Mensch, dessen Gesichtszüge unendlich lange Geschichten an kalten Winterabenden erzählen konnten, doch nur wenige Menschen in seinem Leben fanden den Zugang zu seinem liebenswerten Wesen, das er nur zu gern unter seinem alten Hut versteckte. Doch all das war Vergangenheit.
Nun steckte er seit einer schier unendlich langen Zeit in dieser Misere und hatte aufgegeben, an das Gute und Aufrichtige im Leben zu glauben. So oft hatte er dem Richter versucht zu erklären, dass es nur ein böser Zufall war, dass er in das Haus mit der Leiche ging, um nach dem Rechten zu sehen als er von den bösen Menschen aufgespürt wurde. Doch alles Beteuern half nichts, denn man schenkte ihm keinen Glauben. Er war das berühmte Exempel, das statuiert werden sollte, um eben diesen Glauben an die wohlfeine Gesellschaft zu wahren. John Ritter wurde zum Täter gemacht.
Es war schon spät im Jahr und die Weihnachtszeit nahte. John Ritter schaute durch die Gitterstäbe in die sternklare Nacht und bewunderte den aufgehenden Mond, der so ruhig und in seiner ganzen Weisheit die Nacht erhellte. Das gleißende Licht bahnte seine leuchtende Kraft durch die Nebelschwaden und schien ein Loblied auf die Freiheit zu singen. Die Freiheit, die so einzigartig und so wertvoll war. Dieses kleine Stück Glück, dass man oft erst dann vermisste, wenn es keine Selbstverständlichkeit mehr war.
John Ritter sehnte sich sehr nach der Freiheit, nach dem Moment, am Heiligen Abend durch den Park zu spazieren und an einem Tag voller klirrender Kälte am Ufer des Flusses zu sitzen und in den Ferne zu schauen während der Wind sein winterliches Lied durch die verdorrten Äste der ehrwürdigen Pappeln sang. Immer wieder dachte er an die Zeit, in der er anschließend in die Kirche ging und mit Tränen in den Augen dem feierlichen Gesang der stillen Nacht lauschte. Was würde er dafür geben, diese besondere Nacht noch einmal so wundervoll zu erleben.
Dieser Gedanke war John Ritters ganz eigene Freiheitserklärung – seine eigene Entdeckung der neuen Welt. Und während er sehnsüchtig zwischen den Gitterstäben seiner Zelle in die Nacht schaute, war es der Moment, in dem sein Plan Gestalt annehmen würde. Seine Freiheitsliebe war einfach zu groß, als dass er sich ein Leben hinter kalten, trostlosen Eisenstäben und einer dicken, schweren Türe vorstellen konnte. Nein, das wollte und konnte er nicht. Ein einziges Mal noch wollte er diesen Glanz der Weihnacht fühlen. Ein einziges Mal noch. Und just bei dem Gedanken, so war es als würde sich der Mondschein seinen Weg durch das Dicht des Nebels bahnen und Johns versteinerten Mine ein erfülltes Lächeln schenken.
Inzwischen war über ein Jahr vergangen und wieder stand der Heilige Abend bevor. Es war ein nasskalter Dezemberabend an diesem Vierundzwanzigsten, der auf seinen besonderen Moment warten sollte. John Ritter war bereit, das Schicksal auf die Probe zu stellen, um seinen Traum der neuen Welt an diesem Tage Wirklichkeit werden zu lassen. In den vergangenen Monaten hatte er alles akribisch geplant, jeden Weg der Wärter aufgezeichnet und die Gewohnheiten und Marotten seiner Bewacher studiert, um diesen unseligen Ort für immer zu verlassen.
Durch eine List gelang es, dem Bewacher in einem unbemerkten Moment zu entkommen und in die Uniform eines Putzbediensteten zu schlüpfen. John Ritter hielt sich eine Weile im Schatten der Dunkelheit versteckt und beobachtete, wie der Bewacher wie an jedem Abend die wohlfeinen Füße auf den Tisch legte, seine Mütze ins Gesicht zog und im Schein der Schreibtischlampe einnickte. Es war die Gelegenheit, den Weg der Gitter von der anderen Seite kennen zu lernen und in den Räumen der Offiziellen für einen Moment unterzutauchen, um mit dem Dienstende das Gelände in Freiheit zu verlassen. Und so nahm er sich allen Mut zusammen, angetrieben vom Drang nach Freiheit und dem Glanz der stillen und heiligen Nacht, nahm er den Putzwagen und schlich beharrlich und mit knarrenden Rädern durch die dämmrigen Gänge des traurigen Gemäuers. „Hey Paul, du alter Taugenichts. Sieh zu, dass du heim kommst. Es ist schließlich Heiliger Abend und putzen kannst auch an einem anderen Tag!“ schallte es mit lautstarkem Gelächter durch den Trakt. John zuckte innerlich zusammen, denn offensichtlich war er gemeint. Aber wie von einem Geistesblitz erfasst hob er die Hand zum Gruß, schüttelte den Kopf und schlich weiter seines Weges, ohne dass die Bewacher weiter Notiz von ihm nahmen. Und so sah er sich nach einigen schier endlosen Momenten vor den Toren der Anstalt wieder. Er hatte es geschafft. Er war frei. Ein Verbrecher auf der Flucht.
Seine betagten Hände falteten das rote Papier zu einem kleinen Stern, als John Ritter irgendwo in einem Bus in die Stadt saß. Die ungläubigen Blicke einiger Fahrgäste trafen ihn, denn eine solche Gestalt hatte man in dem wohlfeinen Bus am Weihnachtsabend nicht erwartet. Er lächelte selig und genoss den Duft der Freiheit. Mancher machte eine abfällige Bemerkung bei dem Anblick des geläuterten Mannes mit dem roten Papierstern, der behütet in seinen Händen lag. Vereinzelnd fuhren Streifen durch die Dunkelheit und störten die Andacht mit blinkendem und blitzendem Warnlicht. Doch John Ritter war es gleich. Er genoss den Augenblick und fühlte sich als würde er nach einer langen Reise auf dem Heimweg sein.
Nach einer guten Weile hatte er sein Ziel schließlich erreicht und stieg aus dem Bus, um sich auf dem Fußweg zum Gotteshaus einem kleinen Moment der Stille und der besinnlichen Dankbarkeit zu widmen. Wie sehr er diese neue Welt liebte. Raum zum atmen und Luft in so unendlichen Mengen, dass er sie mit jedem Menschen liebend gern geteilt hätte, so erfüllend empfand er dieses Geschenk, das sich Freiheit nannte.
Und dann stand sie plötzlich da, die Kirche, in ihrer ganzen Pracht. Die großen Tore waren geöffnet und die bunt verzierten Fenster leuchteten aus dem Inneren heraus. Ein Duft von Kerzenschein und andächtiger Feierlichkeit machte sich breit und für einen Moment konnte John Ritter keinen klaren Gedanken fassen und stand wie versteinert da, unfähig auch nur eine einzige Regung zu zeigen, gerührt von dem Anblick, den er so lange Zeiten missen musste.
Die wohlfeinen Menschen strömten in Scharen in die offenen Tore und machten den Vorplatz zu einer Versammlung der ungewöhnlichsten Subjekte, die sich von Gottes Gnaden berufen sahen. Mit einigem Argwohn fielen ihre Blicke auf John, der still schweigend und zutiefst berührt vor dem Gotteshaus stand und sein Glück kaum fassen konnte. In seiner glücklichen Verzweiflung verließen ihn beinahe die Kräfte und er sank ehrfürchtig auf die Knie, um seine Dankbarkeit zu zeigen. Er wollte gerade den roten Papierstern aus seiner Manteltasche ziehen, um ihn mit in die Feierlichkeiten der Messe zu nehmen und dieses glückliche Symbol anschließend als sein ganz eigenes Zeichen neben die Krippe zu legen, als er plötzlich durch eine Unachtsamkeit zu Boden gestürzt wurde. Er wurde schlicht zwischen den vielen Menschen übersehen. Doch der Unachtsame schaute nur verstört und bemerkte Johns Hand in der Manteltasche und rief entsetzt: „Er hat eine Waffe! Er hat eine Waffe! Hilfe! Hilfe!“
Die entsetzten Schreie der wohlfeinen Gesellschaft gellten durch die stille Nacht und der befreite John zuckte schreckhaft zusammen, denn seine Ohren waren diesen Lärm nicht mehr gewohnt. Aus der Ferne hörte er Sirenen herannahen. Die blinkenden und blitzenden Warnlichter tauchten jetzt direkt vor seinen Augen auf und machten ihm Angst, denn er wollte doch niemandem etwas zuleide tun, sondern nur diese glanzvolle Nacht erleben. Der ohrenbetäubende Lärm ließ ihn nicht mehr zwischen den vielen Geräuschen unterscheiden. Sirenen, die kreischende Gesellschaft und drohendes Gebaren der Bewacher ließen seine Wahrnehmung schwinden. „Heben Sie die Hände hinter den Kopf und lassen Sie die Waffe fallen!“ schallte es durch die Dunkelheit.
Doch in all dem verwirrten Durcheinander konnte John Ritter ein kleines Mädchen mit wallenden blonden Haaren erkennen, das mit großen, gütigen Augen auf den Mann schaute. Es waren Augen, die so viel Wärme und Gutes ausstrahlten, dass sie John Ritter ein Lächeln ins Gesicht schrieben. Und so holte er den Stern aus seiner Manteltasche und hob das rote Papier in die Höhe, um es dem kleinen Wunder zu reichen. Ein kleines Geschenk, das eine einfache und liebevolle Botschaft enthielt. Doch die Geste wurde jäh unterbrochen, denn die Bewacher hielten sie für den Anfang einer boshaften Tat. Es hallte einmal, zweimal, dreimal lautstark durch die Dunkelheit und John Ritter fiel zu Boden und blieb regungslos auf dem kalten Stein liegen. Verstummt war das Kreischen der Menschen. Nur noch die stille Nacht war zu hören und weit, weit entfernt erkannte er die ehrwürdige Melodie während sein Atem erlosch. Lediglich das kleine Mädchen mit dem wallenden blonden Haar entriss sich für einen unbemerkten Moment, um schweigend den roten Papierstern an sich zu nehmen und das kleine Geschenk eilig unter ihrem Mantel zu verstecken. Seine Seele indes zog weiter zu ihrem Ursprung – das Alpha und das Omega, an dem sie einsam wacht.
Die Jahre vergingen, Gras wuchs über den Vorfall und niemand mehr nahm Notiz davon. Lediglich ein Zeitungsartikel schrieb sein Schicksal in einer kleinen Notiz. „John Ritter, verstorben am vierundzwanzigsten Dezember wurde auf der Flucht von drei Kugeln der wohlfeinen Gesellschaft getötet, als er versuchte Unheil anzurichten.“
„Schlafe in himmlischer Ruh mein lieber John“, sagte die Frau mit dem wallenden blonden Haar leise, beinahe flüsternd, und legte den roten Papierstern behutsam auf den Zeitungsartikel.