Fantasy & Horror
Flucht - Teil 2

Liz

Seine Augen.

Sie sind weiß, ohne Pupille.

Sein Haar ist weiß und lang. Es ist zerzaust, als ob ein Tornado hindurch gefegt wäre.

Seine Kleider sind schmutzig und zerfetzt. Meine sehen vermutlich nicht besser aus.

Mein ganzer Körper fühlt sich an, als würden mehrere Schichten Gänsehaut darüber liegen.

Ich weiche langsam zurück, ich lasse ihn nicht aus den Augen.

Was ist er? Eine Gestalt aus einem Horrorfilm?

Die Schreckensgestalt breitet die bleichen Arme aus und kommt näher.

Will

Wird sie fliehen? Es zumindest versuchen?

Ich koste ihre Ausweglosigkeit aus, schmecke ihre Panik auf der Zunge.Und gehe weiter auf sie zu. Und sie geht rückwärts und wirft sich mit einem Ruck herum und hetzt durch das Labyrinth aus schlanken Stämmen und Geäst.

Liz

  Ich renne wieder

Ich fliehe wieder.

Nur das mein Verfolger diesmal sehr viel greifbarer ist, auch wenn er nicht so aussieht.

Eher wie ein Waldgeist, flüchtig, wie ein Nebelstreifen und so unheimlich.

Ich sehe sein Gesicht überall, in jeder Sekunde, in jedem meiner Schritte.

Will

Ich lasse sie flüchten. Zu süß ist der Ton ihres Herzschlags in meinen Ohren, der wie ein gefangener Vogel gegen ihren Brustkorb flattert. Aber ich bestimme, wohin der Wald sie führt.

Nach nicht einmal 10 Minuten Menschenzeit steht sie wieder japsend vor mir.

Ich habe mich nicht eine Raupenlänge von der Stelle bewegt.

Liz

 Wie kann das sein? Wie?

Er lächelt und offenbart spitze Reißzähne.

„Nein!“, wispere ich und stürme in die entgegengesetzte Richtung davon.

Schneller, schneller!

Weiter, weiter!

Komm schon!

Aller Zorn ist verflogen, ich kämpfe nur noch.

Ich kämpfe um mein Überleben.

Ich halte inne. Wieso eigentlich? Was liegt mir noch an meinem Leben?

Also kehre ich wieder um und laufe in meinen Fußspuren zurück, dorthin, wo er immer noch steht und wartet.

Will

 Da ist sie. Erschöpft steht sie gegenüber von mir. So lebendig...

Liz

Da ist er. Immer noch so kalt und bleich. Als wäre er schon längst tot.

Ich überwinde die letzten Meter und seine Arme schließen sich um meinen zitternden Körper und Kälte springt von seiner auf meine Haut über. Staunend beobachte ich, wie sich eine eine bleiche Haut aus Rauhreif um meine eigene schließt.

Doch dann steigen die Bilder meiner Vergangenheit an die Oberfläche dieses Sees aus Schmerz, Zorn und Verzweiflung.

Das Lachen meiner Mutter schallt durch meinen Kopf, ich glaube die feuchte Schnauze unseres Hundes an meiner Hand zu spüren, der Duft von verbrannten Plätzchen liegt in der Luft. Ich habe wirklich geglaubt, die meine Welt würde untergehen, weil er nicht zu mir gehört... Die Stimme meiner besten Freundin, der Regen aus Kirchblüten, der im Sommer auf mein Fensterbrett niedergeht.

Wie konnte ich nur so dumm sein.

Und ich beginne, verzweifelt gegen seine Umarmung anzukämpfen.

Will

 Ganz warm vor Liebe wird sie in meinen Armen. Sie will doch nicht mehr sterben. Sie will zurück zu ihren kleinen Menschen.

„Zu spät.“, raune ich ihr ins Ohr und sie zuckt zusammen und strampelt nur noch heftiger.

Ich halte ihre schmalen Handgelenke fest und dränge ihren Körper an den Baum, an dem noch ihre Tränen kleben.

Liz

 Ich könnte genauso gut gegen eine Wand rennen oder versuchen, eine Eisenstange zu zerbeißen.

„Lass mich gehen!“, flehe ich.

„Gehen?“, flüstert er zurück. Seine Stimme klingt wie der Wind in den Baumkronen. „Nein. Ich werde auch nicht "gehen gelassen".“

„Bitte...“

Aber er lacht nur, während vor meinen Augen all die Bilder vorbeiziehen, von Dingen, die ich liebe. Der Gedichtband auf meinem Nachttisch, in dem hunderte von Post-it's kleben oder die Gesichter meiner gesamten Klasse. Mein Vater, wie er unbeholfen versucht, mich zu erziehen.

Will

 Ich lege meine Lippen an ihren Hals, während sie unnötigerweise weiter zappelt. Ich spüre das Blut in ihren Adern pulsieren. Ich habe so lange kein Leben mehr in meinen Händen gehalten. Die weißen Kristalle auf ihrer Haut beginnen zu schmelzen von den warmen Gefühlen in ihrer Seele. Ich bin ihr so nah, dass ihre Erinnerungen auch an mir vorbeistreifen: Ein kleiner Menschensohn, der sich über einen Regenwurm beugt. Er kichert.

Ein Raum in einem Haus. Ein Nest aus zerwühlten Decken in der Mitte, das von Bücherstapeln umgeben ist.

Es ist Jahrzehnte her, dass ich ein Buch in Händen gehalten habe.

Liz

 Er seufzt leise. Er lässt seine Finger durch mein Haar streichen und über meine Wangen, seine eisigen Lippen verteilen Flecken auf Hals und Schultern, die vor Kälte taub sind. Was passiert hier?

„Was bist du?“

Er antwortet nicht.

Will

 Das Mädchen stammelt Worte. Windet sich. Ah, sie ist so köstlich. Ich könnte tagelang mit ihr spielen. Doch der Hunger ist so groß. Der Hunger auf den Atem des Todes.

„Nicht... ich flehe dich an... tu's nicht...“, keucht sie, ihre Stimme vibriert vor Todesangst, als ich ihr die ersten bluttriefenden Kratzer mit meinen Zähnen zufüge. Sie sind so scharf wie gebrochenes Eis, gewetzt an Stein und Rinde, gibt es wohl kaum etwas, das sie nicht durchdringen würde.

Ich schenke ihr mein liebenswürdiges Lächeln.

„Deine Schuld.“