Seelengemeinschaft
„Na, hab gehört du hast die Klasse schon mal gemacht. Irgendwie schlecht gelaufen. Wie sind die so hier? Die Lehrer mein ich.“
Er stand gerade aufgerichtet vor mir. Schulterlange, gelockte, rote Haare. Gesicht mit Sommersprossen und wohl gerundeten Wangen. Hellblaue wässrige, frech schauende Augen. Er trug einen braungrau karierten Poncho. So einen Poncho hatte ich bisher nur Frauen tragen sehen. Vervollständigt wurde das Ganze durch hellbraune Cordjeans, die in dunkelbraunen Boots steckten. Er bot ein eigentümliches Bild. Später erfuhr ich, dass der Poncho seiner Mutter gehörte.
Darüber aber, wie die Lehrer so wären, hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich hatte keine Ahnung.
„Keine Ahnung“, sagte ich.
„Du bist mir der Richtige!“, sagte er und ging lachend in Richtung Schulgebäude.
Dies war meine erste Begegnung mit Henning.
Ja, ich musste die Unterstufe der Berufsfachschule Hotelgewerbe ein zweites Mal machen. Ich war gerade sechzehn Jahre alt und leider in die „Flegeljahre“ gekommen. So nannte meine Mutter meine pubertären Ausfallerscheinungen. Was mich die Versetzung in die Oberstufe gekostet hatte, waren meiner Meinung nach, nicht meine schlechten Noten, sondern meine „Leck-mich-am-Arsch“ - Einstellung den so genannten Lehrkräften gegenüber.
Egal. Ich glaube, die Lehrerschaft hatte gehofft, dass ich die Schule verlassen würde. Ich war geblieben, um ihnen zu zeigen was eigentlich in mir steckte.
Ich galt in der Schule als faul, von unbeträchtlicher Intelligenz und fiel den Lehrkräften nur durch meine weniger guten Noten auf.
Die Wahrheit war, dass ich seit Beginn der Pubertät von einer tief greifenden Unsicherheit erfasst war, nicht wusste wer ich bin und was ich auf dieser Erde sollte.
Den nächsten Kontakt mit Henning hatte ich in der ersten großen Pause. Ich traf ihn in der Raucherecke.
„Schon mal einen Joint geraucht?“, fragte er mich.
Sofort war ich mir meiner Unzulänglichkeit und Schuld bewusst.
„Nee, noch nicht!“
„Willste mal? Hast de Bock drauf?“
Hatte ich.
„Dann bring ich mal ein Peace mit.“
Ich wusste zwar nicht was ein Peace war, tat aber so als wüsste ich total Bescheid.
Das er damit ein Stück Haschisch meinte, wurde mir klar als er den nächsten Tag das „Peace“ mitbrachte.
„Wir rauchen’s nach dem Unterricht“, sagte Henning, nachdem er mir den dunkelgrauen bis grünlich ausschauenden Klumpen gezeigt hatte.
Was soll ich groß erzählen? Nach der Schule bastelte Henning uns sehr geschickt einen Joint, „Tüte“ nannte er den und wir rauchten das Ding auf.
Mir war danach ein bisschen unwirklich zumute, mein Körper fühlte sich etwas leichter an. Die Gesamtsituation fand ich erheiternd.
Auf dem Weg nach Hause war ich überzeugt nun total süchtig und in wenigen Monaten nur noch ein greinendes, nervlich total fertiges Etwas zu sein. Wirklich Sorgen machte ich mir deswegen aber nicht. Da ich ja eins mit dem Universum war, konnte mir nicht wirklich etwas passieren.
Bezeichnend für mich jedoch war, dass ich, obwohl ich überzeugt war, von 1x kiffen abhängig zu werden, die Droge konsumiert hatte.
Jedenfalls wurde ich nicht sofort süchtig. Dass Henning und mir tatsächlich eine Suchtkarriere bevorstand, konnte von uns Beiden damals keiner wissen.
Der Kontakt zu ihm wurde im Lauf der Zeit immer enger. Wir schwänzten gemeinsam die Schule, gingen stattdessen, für ein oder zwei Bier in die Kneipe, kifften regelmäßig oder gingen „einklauen“. Unter Hennings Poncho ließen sich auch größere Gegenstände unbemerkt verstauen.
Was uns beide verband waren unsere äußeren unterschiedlichen Charaktere. Er laut, großmäulig, aggressiv. Ich still, kleinlaut und ängstlich. Das stärkste Band war aber wohl unsere süchtige Seelengemeinschaft. Abhängige sind, egal wie sie nach außen hin auftreten, gleich gestrickt.
Die Freundschaft sollte jedoch nur ein Jahr dauern, denn Henning musste die Schule verlassen. Vorlaut, frech und provozierend wie er war, kam es zu einigen verbalen Zusammenstößen mit verschiedenen Lehrkräften.
Als er dann einem der Lehrer Schläge androhte, war das Maß voll und der Rausschmiss da.
Mein Freund wohnte in einer entfernten Stadt, somit brach der Kontakt ab. Lag aber wahrscheinlich eher an der wenig ausgeprägten Bindungsfähigkeit, die wir Beide besaßen, als an der Kilometerzahl von A nach B.
Damit war das Thema illegale Drogen für mich erledigt. Ich hatte keinen Kontakt zur „Szene“, an die Drogen war ich nur durch Henning gekommen. Doch beendete dies meine begonnene Suchtkarriere keineswegs. Ich widmete mich ab dieser Zeit mehr den Vorzügen des Alkohols.
Für mich folgten sieben Jahre exzessiven Trinkens, dann der Absturz, die Läuterung und der Versuch mir ein geordnetes Leben aufzubauen. Sechs Jahre später traf ich Henning wieder. Zufällig in der Stadt. Wir unterhielten uns bei einem Kaffee.
Er war nach dem Rausschmiss aus der Schule immer tiefer in die Drogensucht gerutscht. Nach erfolgreicher Therapie war er jetzt am Abendgymnasium gelandet, versuchte sein Abi zu machen und war Schulsprecher geworden. Hörte sich echt gut an.
Ich hatte gerade meine Ausbildung zum Ergotherapeuten begonnen und war, wie Henning, voller Hoffnung auf die Zukunft. Dann trennten sich unsere Wege wieder.
Die nächste Nachricht, die ich von ihm bekam, war die seines Todes. Über einen gemeinsamen Bekannten erfuhr ich zufällig davon.
Tja, Henning hatte es leider nicht geschafft. War wieder rückfällig geworden und dann an den Folgen des Drogenkonsums gestorben. Dreiunddreißig Jahre alt.
Ich besuchte sein Grab und gab mich meinen Erinnerungen hin.
Unsere Bekanntschaft hatte mal gerade ein Jahr gedauert. Sie war nicht unbedingt etwas gewesen, was man als eine lange positive Verbindung hätte bezeichnen können. Eher ein fataler Gleichklang. Wir hatten uns negativ sehr verstärkt. Und doch würde ich Henning als meinen besten Freund bezeichnen. Die Zeit mit ihm war eine, die ich nicht missen möchte. Sie war sehr intensiv gewesen, eine Zeit in der ich mir sehr lebendig vorkam. Ich glaube es war die Kraft der Jugend, das Gefühl, trotz aller Selbstzweifel, alles zu können, unzerstörbar zu sein, die diesen Lebensabschnitt zu etwas Besonderem machte.
Manchmal wenn ich an Henning denke, treten mir Tränen in die Augen. Ein so kurzes, wohl nicht unbedingt glückliches Leben. Ich hatte Hennings Kraft gespürt. Diese Kraft, die so fehlgeleitet war. Diese Kraft, so sinnlos zerstört zu wissen, so vergeudet zu sehen, ist bitter.
Ich frage mich oft, wieso ihm nicht zu helfen war. Was hatte ihm gefehlt, dass er keine Hilfe annehmen konnte? Was hatte ihn immer tiefer in die Sucht getrieben? War es die Unfähigkeit, die Welt so anzunehmen wie sie nun mal ist? War das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit zu groß?
Ich weiß auf diese Fragen keine Antwort.
Ich weiß nur: Ich bin froh, dass Henning und ich ein Stück Weg haben gemeinsam gehen können. Ich hoffe, Henning hat es auch so gesehen.