Der schlafende Engel
Bitterkalt ist es, als sie zur späten Stunde in dieser stillen Nacht ihr Haus verlässt.
Leise knirscht der Schnee unter ihren Füßen und ihr warmer Atem bildet kleine Wölkchen
in der eisigen Luft.
Tief atmet sie sie ein und wieder aus. Nochmal und nochmal.
Genießt es, wie die Kälte ihre Lungen füllt.
Genießt diesen leicht ziehenden Schmerz, den jeder Atemzug in ihr hinterlässt und der doch nicht jenen Schmerz zu kühlen vermag, der in ihrer Seele schon so lange brennt.
Einsam stapft sie durch den tiefen Schnee, der die Nacht magisch erleuchten lässt.
Die Sterne sind ihre einzigen Begleiter, strahlen hell und klar vom samtschwarzen Winterhimmel.
Ihr Licht zaubert hier und da kleine glitzernde Diamanten auf die unberührte Schneedecke.
Es ist so ruhig und friedlich hier draußen.
Ganz anders als in ihrem Leben, in dem Ängste sie jeden Tag quälen. In dem Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sie fast erdrücken, sie nicht mehr loslassen wollen.
Wie sehr sehnt sie sich doch nach Harmonie, nach Geborgenheit, nach Liebe. Jemandem der sie in die Arme nimmt, der ihr Halt und Mut gibt. Tränen steigen ihr in die Augen.
Für wen sollte sich noch leben?
Eine ganze Weile ist sie nun schon gegangen, ganz in Gedanken versunken.
Ihr Haus ist längst schon nicht mehr zu sehen und direkt vor ihr liegt jetzt der Wald.
Er scheint aus einem Märchen entsprungen. Kein Laut dringt aus seinem Inneren.
Er ruht, geschützt und geborgen, unter einem Traum aus Eis und Schnee.
Die Äste mancher Bäume hängen tief unter ihrer weißen Last.
Schritt für Schritt kämpft sie sich durch den tiefen Schnee hinein in den Wald, versinkt
bis zu den Knien und fühlt sich wie ein Zwerg zwischen all den schlafenden Baumriesen.
Auch als Erschöpfung und Müdigkeit sie zu übermannen drohen, denkt sie nicht daran um zukehren.
Da lichtet sich plötzlich der Märchenwinterwald und lässt sie auf eine Lichtung treten.
Sie ist erstaunt, als sie die kleine Kapelle sieht, die verträumt in ihrer Mitte steht.
Eine dicke Schneedecke liegt auf ihrem Dach und aus ihren winzigen runden Fenstern schimmert einladend sanftes Licht.
So oft ging sie schon durch diesen Wald aber diesen Ort hat sie noch nie zuvor gesehen.
Langsam geht sie auf die Kapelle zu. Zögernd legt sie ihre Hand auf die Klinke der Tür und tritt schließlich ein. Die alten Scharnieren quietschen ein wenig als sie sie vorsichtig hinter sich wieder schließt.
In der Kapelle ist er überraschend warm. Sie schaut sich um. Acht Bänke stehen dort.
Vier links und vier rechts von ihr. Vorne auf dem Altar brennen viele Kerzen. Sie tauchen den kleinen Raum in ein Spiel aus Licht und Schatten.
Eine alte, aus Holz geschnitzte Figur schmückt die steinerne Wand darüber. Jesus.
Vor dem Altar bleibt sie stehen. Wer hat nur all die Kerzen angezündet?
Erneut schaut sie sich um. Aber niemand sitzt auf den Bänken links von ihr.
Sie schaut nach rechts.....und ihr Herz hört für einen Moment auf zu schlagen.
Da liegt jemand auf der Bank, direkt vor ihr. Die Gestalt verschmilzt fast mit dem Zwielicht.
Vorsichtig geht sie näher heran, um sie besser sehen zu können.
Erneut setzt ihr Herz ein paar Schläge lang aus.
Sie steht da, unfähig sich zu bewegen, unfähig zu denken und kann nicht glauben, was, nein wen sie da vor sich sieht.
Im Kerzenlicht glänzt sein Haar wie glatte, dunkle Seide. Ihr Flammenspiel lässt weiche Schatten über sein sanftes entspanntes Gesicht huschen. Seine Augen sind geschlossen und sie kann seine leisen, gleichmäßigen Atemzüge hören.
Er schläft!
Eingehüllt in große silbern schimmernde Schwingen. Vor ihr schläft ein Engel!
Sie wagt fast nicht zu atmen. Ihr Herz schlägt so laut, dass sie Angst hat, er würde es hören und aufwachen. Sie rührt sich nicht, steht nur da. Tränen rinnen über ihr Gesicht.
Er ist so wunderschön. Sie kann sich nicht erinnern jemals so etwas schönes und friedvolles gesehen zu haben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit beruhigt sie sich langsam wieder. Sie streicht sich über die Augen.
Wie lange steht sie schon hier? Stunden? Nein, es können nur Minuten gewesen sein.
Behutsam wendet sie sich dem Alter zu, zündet eine weitere Kerze an und geht leisen Schrittes
zurück zur Tür. Sie öffnet sie, darauf bedacht kein Geräusch zu erzeugen. Sogar die Scharniere schweigen, als sie sie wieder schließt. Draußen lehnt sie sich mit dem Rücken gegen die Türe und schaut in den klaren Wintersternenhimmel. Immer noch wie berauscht und überwältigt vom dem, was sie dort in der Kapelle, gesehen hat.
berauscht und überwältigt vom dem, was sie dort in der Kapelle, gesehen hat.
Niemals wird sie diese Nacht vergessen!
Sie wird sie fest in ihrem Herzen hüten und in ihrer Seele bewahren.
Ein geschenktes Geheimnis das nur ihr gehört.
Wieder atmet sie tief ein. Genießt die kalte, eisige Luft in ihren Lungen. Genießt die Sterne, den Schnee, die Nacht. Sie fühlt, wie sich wohltuende Ruhe in ihr ausbreitet. Wie die quälenden Ängste sie nicht mehr zu erdrücken drohen. Wie die Verzweiflung der wiederkehrenden Hoffnung weicht.
Wie konnte sie nur jemals denken, das Leben hätte keinen Sinn?
Lächelnd macht sie sich auf den Weg nach Hause.
Voller Freude auf eine heiße Tasse Tee am knisternden Kaminfeuer.
Und auf einen neuen Tag in ihrem Leben.......