Liz
Ich renne.
Schneller.
Noch schneller.
Die kahlen Skelette der Bäume ragen bedrohlich zu beiden Seiten des schlammirgen Weges auf. Ich weiß, dass es kalt ist, aber ich spüre nichts. Nicht mal das Pochen meines eigenen Herzens. Der Tag zerfällt vor meinen Augen, ich erinnere mich nicht mehr an die Gesichter meiner Freunde, meiner Familie. Ich habe keine Ahnung welches Jahr wir schreiben, ja sogar was Jahre sind. Alles verschwindet, rückt in den Hintergrund. Nur das eine Bild ist in mein Gehirn eingebrannt, leuchtet rot und lacht hämisch. Immer wieder drückt er seine Lippen auf ihren Mund und immer wieder sehe ich sie lächeln. Immer wieder. Immer wieder. Das macht mich wütend und ich laufe noch schneller.
Dank dem Wind gehört meine Frisur längst der Vergangenheit an und von dem sorgfältig aufgetragenen Make-up sind nur noch ein paar schwarze Streifen übgrig. Ich habe alles weggeweint. Umso besser, ich will alles loswerden, dass mich noch mit den Leuten da draußen verbindet.
Meine Füße trommeln einen steten Rythmus, der durch die nassen Blätter am Boden gedämpft wird. Ich hasse das Geräusch, so wie ich sie jetzt hasse und ich bleibe stehen und reiße mir die Schuhe von den Füßen, um es nicht mehr hören zu müssen. Ich pfeffere die teuren Stiefel gegen einen toten Baum. Kurz flammt ein schlechtes Gewissen auf, weil ich verschwende, was meine Mutter erarbeitet hat, aber ich ersticke es im Keim.
Und laufe weiter. Das Laub ist angenehm zwischen den Zehen. Seine Finger wären auf meiner Haut bestimmt auch schön anzufühlen gewesen... Ich schreie mein Gehirn an, weil es es immer noch wagt, solche Gedanken zu haben. Hat es vergessen, dass ich ihn jetzt hasse?
Weiter.
Will
Sie ist es.
Sie ist laut, so laut.
Ich kann ihr Fluchen und schreien und stampfen durch den ganzen Wald hören. Und ihren Zorn und ichre Enttäuschung riechen. Sie ist so wunderbar aufgewühlt. Die stürmischen Wogen ihrer Gefühle brechen über mir zusammen, aber ich ertrinke nicht. Ich genieße jeden Schwung neuer Empfindungen, die sie mir bringen. Ich habe solange nicht mehr gefühlt.
Wie von selbst tragen meine Beine mich in ihre Richtung.
Liz
Ich verlasse die Wege.
Ich stürme blind durchs Unterholz, meine Füße schmerzen von all den Steinen, aber es kümmert mich nicht. Zweige malen rote Striemen in mein Gesicht, aber ich beachte sie nicht und ich mache mir nicht die Mühe, die Dornen zur Seite zu schieben, die meine Kleider zerreißen.
Ich bin wie betäubt.
Meine Lungen verbennen und mein Herz zerspringt, aber ich muss weiter laufen, bloß weg. Wenn ich anhalte, werden die Bilder sich wieder zurückschleichen, wie auch unser Hund immer zurück kommt, selbst wenn mein Bruder ihn schlägt.
Schließlich, als ich nur noch stolpere, statt zu rennen, bin ich gezwungen, anzuhalten. Heiser schluchzend klammere ich mich an eine kräftige Buche, kralle meine Hände an ihre Rinde und presse mein Gesicht gegen ihren glatten Stamm. Wie kann das alles war sein? Wieso gibt es sie, diese Verkettung unglücher Zufälle, diese Häufung zufälliger Unglücke, die sich mein Leben nennt? Ich sinke auf die Erde, ich vergrabe mich im Dreck, bedecke mich mit Blättern und Matsch.
Es fühlt sich so gut an.
Will
Ein kleines Bündel auf dem Waldboden, kaum zu Unterscheiden von Kiefernnadeln und den vertrockneten Herbsttränen der anderen Bäume. Ich stehe keine zehn Meter entfernt von ihr, doch sie sieht mich nicht. Sie sieht nur ihre eigene Verzweiflung.
Sie ist erschöpft.
Aber sie kämpft immer noch.
Ich glaube, sie ist das schönste Mädchen, dass ich in den letzen hundert Jahren gesehen habe. Sie erinnert mich an die Elfen, die früher die Zweige und Höhlen bewohnten und zwischen Blütenkelchen und Fliegenpilzen tanzten und ihre kleinen, albernen Lieder sangen. Ihr spitzes Gesicht, jetzt voller Modder, in den ihre Tränen helle Spuren fräsen, ihr kleiner Körper, ihr langens Haar, das in wirren Strähnen ihren Kopf umgibt und die Farbe von Feuer um Mitternacht hat.
Es tut mir fast leid.
Liz
Als keine Tränen mehr da sind, die meine Augen noch ausspucken könnten, stehe ich auf und schreie.
Ich schreie in den stillen Wald hinein, bis meine Stimme bricht. Ich schlage mit bloßen Fäusten auf die Bäume ein, egal wie widerlich die Knochen knacken, egal ob das Blut rot und salzig über meine Haut rinnt.
Keuchend stehe ich da, die Fäuste an die Seiten gepresst, keuchend, blutend.
Und dann erst bemerke ich den Jungen und habe zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Angst.
Will
Sie sieht mich an.
Ich weiß was sie sieht, genau wie ich weiß, dass sie mich mehr fürchtet als die Geister, die sie als Kleinkind unter dem Bett vemutet hat oder eine schlechte Schulnote
Ich bin kein menschliches Wesen und sie weiß das, irgendwo in den Tiefen ihres Verstandes.
Ich bin gefährlich für sie.
Auch das weiß sie.
Und ich werde diesen Wald nicht lebend verlassen lasse.
Das wird sie bald erfahren.