Diesen Kapitelausschnitt meines Fantasyromans hatte ich bereits einmal vorgestellt, allerdings hat er sich im Laufe der Zeit und der Überarbeitung etwas geändert... Die allererste Szene: Wie alles begann... Bitte beachten: Namen der Hauptpersonen sind geändert.
Licht spiegelte sich auf der Oberfläche. Die Sonne lugte schüchtern errötend gerade erst über die Baumkronen – benetzte die saftgrünen Blätter mit ihrem blassorangefarbenen Schein. Eine schwache Brise kam auf, bog sanft die Zweige der dichten Wipfel und löste ein einzelnes Blatt von der mächtigen Weide am Ufer. Langsam schaukelnd wie eine Feder segelte es auf das Wasser hinunter und brachte die Spiegelung zum Tanzen. Die winzigen Wellen teilten die Reflektion des warmgoldenen Lichts in tausend zierliche Lichtpunkte, die langsam auf einen schmalen, weiblichen Fuß zu flimmerten. Wie glitzernder Staub umringten sie ein Bein, zogen eine blinkende Linie um die anmutige Hüfte und erreichten die auf der Oberfläche treibenden Spitzen des langen, blonden Haars, wo sie versiegten. Dann war der Olago-See wieder befreit von diesem Zauber und leuchtete grün-blau. Ein paar Frösche hüpften im Schilf hin und her, das den See gutmütig umrandete.
Wie tot trieb die hübsche, junge Elfe auf der Oberfläche und rührte sich nicht. Um sie herum war der See so glatt und spiegelnd, wie ein blank polierter Silberboden. Außer den Fröschen sorgten lediglich die flachen Klippen an einer Seite des Sees für ein wenig Aufruhr. Das Mädchen genoss das Rauschen und Rieseln, das sich ergab, wenn das Wasser von der Anhöhe die Klippen hinunterhastete und in vielen plätschernden Fällen schließlich mit der Ruhe des Sees verschmolz.
Sie streckte ihre Füße und bewegte sie seicht im Wasser auf und ab. Mit ruhigen Zügen glitt die zierliche Elfe durch den kühlen See und spürte bewusst jeden Strom, der ihr dabei durch die Finger glitt. Dieses Gefühl beruhigte sie. Sie sog die frische, nach Blumen duftende Sommerluft tief ein, verließ die obere Welt und wand sich mit einer schnellen Bewegung dem Seeboden entgegen. Hier unten lauschte sie dem Glucksen und Gurgeln und bildete sich ein, der See würde leben und zu ihr sprechen. Als wäre sie ein Besucher in seinem Reich. Sie hielt die Augen geschlossen und tauchte wie ein Delfin knapp unter der Oberfläche entlang, bis das Rauschen der Klippen fortwährend näher kam. Nach ein paar kräftigen Schwimmzügen ließ sie sich nach oben treiben und ihr Kopf stieß wieder durch die kühle Decke in die Morgenluft.
Die Sonne, die immer mehr von ihrer roten Scham verlor, entschied rasch über die Kronen zu klettern. Ihr Licht ließ die bunt blühenden Bäume des Elfenwaldes Schatten auf den See werfen, durch die ruhig die Gestalt des Mädchens trieb. Dieser Anblick wiederholte sich jeden Morgen; das Mädchen, das vom Dorf hinunterkam und im See tauchte, bis die Sonne so rund und gelb über den Baumkronen stand, wie sie auch jetzt einen heißen Sommertag versprach. Mit einem Blick zum Himmel stieß die Elfe einen Seufzer aus und drehte sich wieder auf den Rücken, ließ sich ruhig auf dem Wasser treiben. Das Gefühl des Sees um sie herum war so alltäglich geworden, dass sie sich ungern vorstellte, diese Zeit ab sofort still auf einem Stuhl abzusitzen. Doch die Regelung schrieb es so vor und würde schwerlich auf das lautstarke Protestieren im Kopf eines sechtzehnjährigen Mädchens hören. Jede Jungelfe verpflichtete sich, in bestimmten Abständen Unterrichtsblöcke zu besuchen. Ihre freie Zeit bis zum nächsten und letzten würde mit diesem Tag ihr Ende finden. Die danach anstehende Normprüfung der Elfen machte den negativen Eindruck nicht gerade besser, der sich in ihren Kopf brannte, als wolle er ihr ein nettes Andenken eingravieren. Vorbei würde es sein, mit dem Zurückziehen in einen einsamen Winkel oder auf eine einsame Lichtung. Vorbei würde es sein, jeden Morgen an den See hinunter zu gehen, den jeder im Dorf mied. Sie wollte nicht unter Leute, so sehr sich ihre Mutter auch bemühte, dass sie Freunde fand. Sie lebte in Naréa schon solange sie sich erinnerte. Und doch mochte sie lieber allein sein.
Die Sonne war inzwischen vollkommen hinter den Baumkronen aufgestiegen; das Zeichen für sie, zu gehen. Der innere Protest zeigte sich anhand eines zerknitterten Ausdrucks, der sich auf ihr hübsches Gesicht modellierte, während ihre Gedanken zurück an die letzte Stelle ihres Vormittags sprangen, aus der sie geflohen war; Vermutlich wuselte ihre Mutter Na-Lia noch immer vor Aufregung völlig desorientiert durch die Wohnung und versuchte Gegenstände zu finden, die sich guten Gewissens umräumen ließen; natürlich lediglich mit dem bloßen Ziel, eine Beschäftigung zu haben. Jeder halbwegs normalen Elfe wäre dieses Spektakel nach mindestens fünf Minuten zur Unerträglichkeit geworden, was auch den Grund darstellte, weshalb Na-Lias Tochter Lily fluchtartig das Haus verlassen hatte. Wenn es nach Na-Lia gegangen wäre, hätte sie heute morgen ohnehin nicht schwimmen gehen dürfen. Aber wie gut, dass sich Mütter gerne einmal im falschen Moment umdrehten, dachte Lily mit einem selbstgefälligen Grinsen auf dem Gesicht. Die olivgrünen Augen huschten noch einmal zum Himmel und widerwillig schwamm sie Richtung Ufer zurück. Der Boden unter ihr kam höher und bald berührten ihre Füße den weichen, algigen Seeschlamm. Ihre Beine trugen sie aus dem Wasser und nach ein paar Schritten fühlte sie das saftige, sanfte Gras unter ihren Sohlen.
Ihre Kleider lagen im Schatten eines rot blühenden Baumes. Mit einem kurzen Blick zur Sonne lief sie rasch zu ihm hinüber und nahm sich ein Tuch zum Abtrocknen. Alles in ihr sträubte sich gegen die Vorstellung, in geschlossenen Wänden lernen zu müssen, anstatt durch den See zu schwimmen oder durch den Wald zu laufen und Blumen zu pflücken. Ihre Hände griffen nach der weichen Seide ihres blass orangefarbenen Kleides und sie zog es sich über den Kopf. Wenn sie nur daran dachte, wie wichtig Na-Lia das alles nahm. Manchmal konnte sie so störrisch sein in ihren Ansichten und ihrer Vorsicht. Na-Lia neigte eindeutig zur Übervorsichtigkeit. Am allerschlimmsten und bösartigsten erschienen ihr die Sätze, die mit: „Als Nachfahrin der Farbe Orange im Lomo solltest du...“ anfingen.
Lily trocknete missgelaunt ihr langgewelltes, goldblondes Haar im Tuch und strich es sich hinter die spitzen Ohren. Na-Lia sollte wirklich anfangen, ihr mit fünfzehn Jahren etwas mehr Eigenverantwortung zu überlassen. Die junge Elfe legte das Tuch notdürftig zusammen und folgte einem schmalen Graspfad durch die Büsche, während sie versuchte ein paar sehr hartnäckige Kletten von ihrem Kleid zu zupfen. Als sie wieder aufsah, hatte sich der Graspfad unter ihr schon in einen unbefestigten Weg ausgeweitet und der Wald war lichter geworden. Nach einer kleinen Biegung des Weges dann kamen die Wohnbäume von Naréa in Sicht. Strickleitern hingen von manchen Balkonen aus den Kronen hinab, wie Lianen in einem Dschungel, doch die meisten Eingänge zu den Wohnungen befanden sich schon auf halber Höhe des Stammes. Einige größere und alte Bäume ermöglichten sogar Räume bis in den unterirdischen Bereich unter den Wurzeln, aber das zählte eher zu den selteneren Fällen. Die Wohnung von Lily und Na-Lia lag hauptsächlich im oberen Teil des Baumes, den Balkon mied Lily jedoch konsequent wegen ihres ausgeprägten Unwohlseins in größerer Höhe. Allein der Gedanke daran, wie sie mit acht Jahren dort oben gestanden hatte, beschleunigte ihren Puls. Doch um einen kleinen Baum im Elfenwald zu finden musste man wahrscheinlich Monate lang kilometerweit das Unterholz durchkämmen. Sogar Schmetterlinge gab es nicht unter der Größe eines feuerknallroten Kubikäfers, der etwa die Breite einer gespreizten Hand maß. Aber all das erschien nichtig im Vergleich zu dem Baum, auf den sich Lily zu bewegte. Im Zentrum des Dorfes ragte er vor ihr auf und breitete seine Blätter mehrere Meter weit wie ein riesiges Dach über den im Vergleich winzigen Bodenpflanzen aus. Sein Stamm maß geschätzt locker um die zwölf Meter im Durchmesser und die Ausbreitung seines Wurzelwerks hatte bisher aus gutem Grund noch niemand untersucht. Dennoch gab das Auftauchen seiner Verwurzelungen irgendwo in fast allen Gärten des Dorfes eine ungefähre Vorstellung. Dieser Baum, der inzwischen schon Jahrtausende überdauerte, bot nun Platz für die kommenden und gehenden Generationen des Hà-uri, dem Häuptling des Elfenstammes. Einige Meter davon entfernt war traditionell der geweihte Brunnen in den Boden eingelassen, aus dem alle Dorfbewohner ihr Wasser holten. Eine Elfe mit langgewelltem Haar, das eine kastanienbraune Tönung besaß, und tieforangefarbenem Seidenkleid zog gerade einen Eimer aus dem Schacht herauf. Lilys Augen weiteten sich erschrocken und ihr Körper zeigte die Regungen einer Elfe, die sich in beträchtlicher Panik befand. Sofort beschleunigte sie ihre Schritte und huschte so leise und so nah wie möglich an einem der Wohnbäume entlang.
„Lily...“, sagte eine klare Stimme mit dennoch mahnendem Ton und Lily kniff ertappt die Augen zusammen. Einen Moment blieb sie stehen, als sei sie gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Dann sagte sie freundlich:
„Hallo“, als wäre diese Frau am Brunnen irgendjemand aus dem Dorf. Hektisch beschleunigte sie erneut ihre Schritte in Richtung des Wohnbaumes, sich einen Moment der aberwitzigen Hoffnung hingebend, diese Angelegenheit sei damit erledigt.