Kurzgeschichte
Wem der Kapitalismus den Tod bringt (1/2) - oder warum die Titanic ein zweites Mal sinkt

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"Wem der Kapitalismus den Tod bringt (1/2) - oder warum die Titanic ein zweites Mal sinkt"
Veröffentlicht am 12. November 2010, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich schreibe für mein Leben gerne. Wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, einzutauchen in eine Welt, die es nur in den geschrieben Worten gibt. Schreiben eröffnet uns die Möglichkeit, eine viel tiefere, persönlicherere Illusion zu erschaffen, als ein Film. Wir können für einen schönen Moment wirklich ein Stück dieser Welt erleben. Darin liegt für mich die wahre Kunst, zu schreiben. Daneben mache ich aber noch eine ganze Menge andere Dinge ...
Wem der Kapitalismus den Tod bringt (1/2) - oder warum die Titanic ein zweites Mal sinkt

Wem der Kapitalismus den Tod bringt (1/2) - oder warum die Titanic ein zweites Mal sinkt

Beschreibung

Unter Vorgabe eines Zeitungsausschnittes mit Bild, auf dem ein unbeschreiblich voll beladener Frachter dem Horizont des Meeres entgegenlief, entstand diese Geschichte. Sie stellt keine Forderungen an durchtriebene Logik oder präzise Kenntnisse über Schiffe. Alles, worum es hier geht, sind die Menschenbilder und warum gerade wer zu Tode kommt.

Teil 1/2

Es sah unglaublich aus. Das reflektierende Metall glänzend in der Sonne. Dieser Schuhkarton, der Platz für so ziemlich alles bot entfaltete sich dort vor ihren Augen. Kaum keilförmig angeschrägte Seitenwände, denn man munkelte, auch das bräuchte man heute nicht mehr. Still wie ein Stein lag er da, wiegte sich allenfalls sanft hin und her und wartete darauf, dass er fertig beladen wurde.

Sie hatte noch nie ein so großes Schiff gesehen. Sein Anblick nahm ihr nahezu den Atem. Vielleicht hätte sie wirklich irgendwann vergessen, ihre Lungen wieder zu füllen, wenn Alan nicht mit selbstgefälligem Grinsen einen Arm um ihre Hüfte gelegt hätte.

„Na, hab‘ ich zu viel versprochen?“, feixte er, wedelte mit ihren Bordtickets und wartete auf ihre Reaktion.

Noch einmal richtete sie ihren Blick auf den Metallklotz der dort auf den Atlantikwellen in der Hafenanlage umhertrieb.

„Ich denke nicht“, antwortete sie und sah ihn mit einem tauben Gefühl in der Magengegend an. Allerdings versank bei seinem vollkommen glücklichen Anblick jegliches Bedenken in ihr Unterbewusstsein und ihr ausdrucksloser Mund zog sich zu einem Lächeln.

„Ganz bestimmt nicht“, verbesserte sie sich.

„So will ich das hören“, entgegnete er, zog ihren zierlichen Körper noch fester an sich und schlenderte auf den riesigen Frachter zu, der bald zum Auslaufen bereit sein würde.

 

„Eddie!“, hörte er es über das Deck brüllen, ließ von seinem Riemen ab und schob augenblicklich seinen Kopf zwischen den Autodächern hervor. Ein mittelgroßer Mann, peinlichst genau rasiert, wie immer, schwebte in gewohnt lockerem Schritt zwischen den Fords, VWs und was er nicht alles verladen hatte auf ihn zu.

„Dauert das noch ein paar Dekaden, dann investiere ich rechtzeitig in nachwachsende Rohstoffe“, er lachte dröhnend über seinen eigenen anti-grünen Witz während er nun so nah war, dass er lässig sein Hinterteil auf die rote Motorhaube des Ford Fiesta schieben konnte, den Eddie gerade festgezurrt hatte.

„Ich arbeite daran, die Abstände zu unterschreiten“, murmelte Eddie in seinen Vollbart und wollte sich zurück hinter das Auto ducken, doch Mr. Forester hinderte ihn daran.

„Gibt es ein Problem?“, fragte er nachdrücklich und kam Eddies Gesicht dabei so nahe, dass die Schwingung seiner Worte ein paar Mal um dessen Kopf zu surren schienen.

„Ich merke lediglich an, dass mehr Autos auch mehr Zeit brauchen“, wich Eddie betont aus, doch Mr. Forester hatte schon richtig gehört, dass seine Machenschaften dem Arbeiter gar nicht gefielen. Denn wie Eddie sehr wohl aufgefallen war, waren diese Autos nicht nur Privatwagen. Das wäre auch völlig in Ordnung so gewesen, wenn die produktionsfrischen VWs nicht in jener Menge zusätzlich zu den Personentransportgütern aufgefahren worden wären. Eddie arbeitete bereits so lange für die Elonora, dass er genau wusste, wann die Kapazitätsgrenze des Personenfrachters überschritten wurde.

Und Forester wiederum wusste, dass Eddie dies wusste. Er wusste allerdings auch, dass ein wenig mehr Scheinchen dem Existenzgefährdeten die Lippen versiegeln würden. Und Scheinchen waren für ihn selten ein Problem gewesen. Man musste lediglich sicher gehen, dass die neuen Scheinchen an Land kamen. Und das meinte Forester diesmal wörtlich, so viel ihm selbst auf, als sein Blick zufrieden über den blitzend-blinkenden Lack der Karosserien huschte.

Ohne ein weiteres Wort nahm er sein Gesäß von der Haube, drehte sich auf seinem Prada-Absatz um und der graue Anzug marschierte davon.

 

Alan nahm die halben Bordtickets wieder entgegen und schenkte Julie einen vielsagenden Blick, doch auch ihr war die amüsant übertriebene Türstehersilhouette des Kartenabreißers aufgefallen. Die aufmerksamen Kleinigkeiten waren es, die ihr an ihm gefielen. Sein Witz, seine lockere Art… Mit ihm konnte man gar nicht in der kapitalistischen Arbeitswelt des rauen Alltags untergehen….

 

Eine königliche Figur brauste auf die Brücke: „Wir laufen aus.“

„Aber Sir-“

„Die Passagiere sind an Bord, die Güter sind an Bord, ich weiß nicht, worauf wir noch warten sollten…“

„Sir, bei allem Respekt, ist das Wasser nicht Grund genug auf es zu warten?“

Forester warf einen tötenden Blick vom Steuermann zum Fenster hinaus und musterte die Skala am Kai.

„Die Ebbe ist fast vorüber. Der Wasserstand reicht für die Elonora doch aus oder nicht?“, patzte er.

„Ja, Sir, das schon, aber Sicherheitszeit ist eingeplant für den Fall von variierendem Tiefgang…-“

„Fühlen Sie sich sicher?“, unterbrach Forester den Steuermann anscheinend bezuglos und wartete mit barschem Gesicht eine Antwort ab.

„Sir?“

„Gut, ich mich auch. Laufen Sie aus, mein Junge, Zeit ist Geld in meinem Geschäft“, und der Anzug verschwand mit einem Knall in seiner Kajüte.

 

Es knallte wieder, allerdings ungefähr zwei Stunden später und einige Seemeilen draußen auf dem offenen Meer. Ein zweites Knallen folgte, das jegliche Hoffnung des Brückenpersonals zerschmetterte, da es tatsächlich von Foresters Kajütentür stammte, die somit unmöglich ebenfalls den schrecklichen ersten Knall erzeugt haben konnte.

Leicht erbleichend stand Forester ein paar Sekunden reglos vor der soeben zugeschlagenen Tür auf der Brücke und starrte aus dem Frontfenster.

„Was war das?“, fragte er schließlich und der genaue Beobachter hätten eventuell wahrgenommen, dass sein nicht vorhandener Schnurrbart zuckte – oder zumindest die Haut darunter.

„Hörte sich an, als wären wir auf Grund gelaufen, Sir.“

„Ach was, auf Grund, Papperlapapp, der Seeweg ist genau eingehalten worden, oder etwa nicht?“

„Ja, Sir, aber das Seebild hat sich durch die frühe Abfahrt eventuell verschoben…“, es lag nur der Hauch einer Schuldzuweisung in der Stimme des Steuermanns, doch dem König der Nadelstreifenanzüge entging auch dieser nicht.

Forester sah einen Moment so aus, als habe ihm ein frisch beschlagenes Pferd ins Gesicht getreten.

„Das hier… ist doch eine Schlucht, oder etwa nicht?“, fragte er ausdruckslos und deutete mit seinem Zeigefinger durch den mitgenommenen Boden der Brücke gedanklich auf das, was auch immer gerade unter dem Schiffsrumpf liegen mochte.

„Nunja, fast, wir treiben gerade hinein“, erwiderte der Steuermann und stand offensichtlich noch unter Schock, ansonsten wären jene trockenen Antworten wohl nicht möglich gewesen.

„Und was macht ein Unterwasserberg in einer Schlucht?“, fragte Forester weiter und machte einen spitzen Mund.

„Das Krachen muss eine Bodenspitze am Rand der Schlucht gewesen sein…“

Foresters Gesichtsausdruck verquirlte sich zu einem undeutlichen Mischmasch aus emotionaler Vielfältigkeit. Einige Momente rotierten seine Augäpfel wild in ihren Höhlen hin und her, als hätte er einen festen Boxerschlag ins Gesicht bekommen. Dann fasste sich sein übermenschliches Ich gefangen im Körper eines Menschen jedoch wieder und die rasierten Gesichtszüge verfestigten sich emotionslos.

„Hendricks?! Rufen Sie den Maschinenraum.“

„Ja, Sir“, machte ein hagerer Mann und griff sofort zum Hörer, „Maschinenraum, hier Brücke, bitte melden. Bestätigen sie den Aufprall. Over.“

Ein fades Rauschen kam aus der anderen Leitung und strömte in die Brücke wie giftiges Gas, das alle Personen angstvoll erstarren ließ.

Der Mann namens Hendricks drückte den Funkknopf erneut: „Maschinenraum, hier Brücke, ich wiederhole. Aufprall erfolgt. Bestätigen Sie diese Beobachtung.“

Wieder ein kurzes Rauschen, dann jedoch wurde jenes unterbrochen durch ein Knacken. Jemand hatte den Funkknopf im Maschinenraum gedrückt, doch Forester wusste nicht, ob die Lage nun besser war; Kreischende Schreie züngelten nun aus der Leitung, einer markzerfressender als der andere. Wildes Zischen und Krachen, das Stottern des Motors und irgendwo dazwischen krächzte eine Stimme:

„Aufprall bestätigt! Aufprall bestätigt, verdammt! Schließen Sie die Schotts! Schließen Sie die Schotts!“

Die Verbindung kraxelte einen Moment, dann versank sie zurück in das gasähnliche Rauschen.

Forester stand mit so zerbeulter Erscheinung da wie kürzlich von einem Panzer überfahren und starrte aus dem Frontfenster, als könne er auf diese Weise Hilfe erwarten.

„Sir, ihre Befehle?“, fragte der Steuermann und hatte schon von selbst den Schub zurückgenommen. Als eine Antwort ausblieb stellte er eigenständig den ganzen Motor aus.

„Sir“, versuchte es der Mann namens Hendricks.

„Schotts schließen“, piepste Forester, als habe er sich soeben an seiner eigenen Stimme verschluckt.

„Aber Sir, die Menschen dort unten-“

„Schotts schließend, Sie haben ihn gehört!“, schrie Forester auf einmal so laut, dass sein Befehl sofort ausgeführt wurde. Einen Moment stand der Anzug da, zitternd wie unter einem Stromschlag und versuchte anscheinend all seine negative Energie am herausbrechen zu hindern. Als der Krampf ein wenig nachließ, sprach Forester plötzlich wieder ruhig.

„So, Hendricks, und jetzt möchte ich, dass sie alle verdammten umliegenden Boote oder was auch immer hier rumschwimmt um Hilfe bitten, ist das klar? Und sagen Sie ihnen, dass keine Rettungsboote an Bord sind und zwar ein bisschen plötzlich!“

Bevor jegliches Nachfragen möglich wurde, kommandierte Forester ungestüm weiter.

„Und dann möchte ich, dass hier jeder Mann so verdammt viele Rettungswesten auftreibt wie er kann und die unter den Passagieren verteilt!“

„Sir…“

„Sagen Sie einfach, es ist alles in Ordnung, das wird eine Übung mit realer Kulisse oder sowas…“

„Sir!“

„Ah, genau, lügen Sie einfach, dass sei der Grund dafür, dass wir die Rettungsboote nicht benutzen. Und starten sie parallel dieses Bingo-Programm. Nein, starten sie erst das Bingo-Programm, holen alle Leute hier hoch aufs Deck und verteilen dann die Rettungswesten. Lügen Sie einfach so lange wie möglich, sie werden es eh in einer halben Stunde herausfinden...“

„SIR!“, kreischte der Steuermann und wurde sich im nächsten Moment peinlich bewusst, dass Forester wirklich aufgehört hatte, zu reden und nun die konzentrierte Blicksumme des Brückenpersonals auf ihm selbst lag. Dies verunsicherte ihn nur eine Sekunde, dann räumte seine Entrüstung den Weg frei.

„Sir, was soll das heißen? Keine Rettungsboote, Wassereintritt innerhalb von einer halben Stunde?“

Forester ruckelte einen Moment an einem seiner Manschettenknöpfe herum, den die Reparaturschneiderei offensichtlich minder zufriedenstellend angenäht hatte. Dann richtete er den bohrenden Blick eines gefährlichen Wahnsinnigen auf den Steuermann.

„Weil ich diesen Kahn maßlos überladen habe, die Rettungsboote entfernt und noch mehr Autos hingestellt habe. Und weil die ganze Fracht so unglaublich überdimensional schwer ist, dass es uns so intensiv nach unten ziehen wird wie die Kanonenkugel an Stiefelriemens Stiefelriemen selbigen qualvoll auf den Grund des Meeres befördert hat“, und noch während er diese letzten zitierten Worte aus Der Fluch der Karibik mehr an sich selbst als an das Brückenpersonal richtete, stürmte er auf seine Kajütentür zu und setzte sich zum ersten Mal problematisch mit der Frage auseinander, warum es eigentlich „auf den Grund des Meeres befördern“ hieß, „degradieren“ wäre wohl eigentlich viel zutreffender. Es knallte.

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Über den Autor

Lili
Ich schreibe für mein Leben gerne. Wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, einzutauchen in eine Welt, die es nur in den geschrieben Worten gibt. Schreiben eröffnet uns die Möglichkeit, eine viel tiefere, persönlicherere Illusion zu erschaffen, als ein Film. Wir können für einen schönen Moment wirklich ein Stück dieser Welt erleben. Darin liegt für mich die wahre Kunst, zu schreiben.

Daneben mache ich aber noch eine ganze Menge andere Dinge sehr gerne: tanzen, Klavier spielen(komponieren), Fantasybücher lesen... Außerdem interessiere ich mich für Astronomie und Filme.

Achja und Schule muss nebenbei ja auch noch mal sein...

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PhanThomas Ich hätte dann ja... - ... jetzt auch gern den zweiten Teil. :-) Deine Charaktere find ich ja klasse. Hehe, und dem Forrester möcht man eigentlich am liebsten eins auf die Zwölf geben. Aber ja, der Vergleich zur Titanic, was die fehlenden Rettungsbote angeht, liegt ja schon nahe. Sehr schön! Hab ich gern gelesen, hat mir gefallen, und nun sende ich Stoßgebete aus, dass ich nicht wieder ein Jahr warten muss, bis ich wieder von dir höre. ;-)

Viele liebe Grüße
Thomas
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