Alle Mann von Bord, das Schiff sinkt, scheinen sich Tag für Tag Myriaden von Haaren zu denken, die sich so mir nichts, dir nichts von meinem Kopf verabschieden, um ein kurzes Liegedasein in Waschbecken und Dusche zu fristen, bevor ich sie wutentbrannt im Äther des Abflusses verschwinden lasse. Ich schaue mich im Spiegel an und muss mich stark wundern, schließlich sinken Köpfe doch gar nicht, und trotzdem gehen sie dahin, die Haare, trotzdem scheint meine Stirn ihren Einzugsbereich unbedingt vergrößern zu müssen. Ich seufze und lasse verbittert die Schultern hängen. Passt ja auch gut zu mir, mit hängenden Schultern durchs Leben zu gehen, schließlich bin ich zwar ein Kerl, ja, ein Mann, aber eben doch kein Kerl von einem Mann, kein Mann wie‘n Baum eben, sondern, wenn überhaupt, dann eher ein Bonsaibaum. Aber zählen die überhaupt zu den Bäumen, frage ich mich, und zucke ratlos mit den eigentlich hängenden Schultern. Ach, es ist eine Crux, ist es um mich doch so ganz und gar nicht gut bestellt, bin ich doch scheinbar Mutter Naturs Auslaufmodell, ein Montagsprodukt, ein Fehlfabrikat ohne Rückrufaktion. Und doch habe ich gleich ein Date mit Judith.
Judith habe ich kürzlich in einer Bar kennengelernt, nachdem ich zwei Überstunden und eine weitere halbe Stunde Anfahrt nach Ende eines arbeitsamen Donnerstags auf meinem hohen Barhocker saß, um eben an der hohen Bar sitzen zu können. Um in Ruhe und gelassen meine zwei Biere trinken und den Tag wohlverdient als erledigt abhaken zu können, als sie sagte: »‘tschuldigung, darf ich mal?« Darauf griff sie an mir vorbei, schnappte ihren Drink, wahrscheinlich ein Gin, dachte ich, vielleicht aber auch nur eine Sprite, jedenfalls stand das Glas zu weit links und eigentlich viel eher vor meiner Nase als vor ihrer. Mit dem Zeigefinger tippte sie auf das Glas, lächelte dabei kurz und warf mir ein vermutlich verstehend gemeintes Zwinkern zu. Sie hatte brünettes, schulterlanges Haar, der Pony fiel ihr locker in die Stirn, dazu hatte sie große nussbraune Augen und einen vollen Mund. Nicht übel für einen Donnerstagabend, an dem man in einer Kneipe allerhöchstens mit burnoutgeplagten Consultants und betrogenen oder betrügenden Ehemännern rechnet.
»Klar«, entgegnete ich und zog hastig meinen Arm weg, damit sie an ihr Glas kam und es zu sich ziehen konnte, eben dorthin, wohin es gehörte, nicht zu mir, sondern natürlich zu ihr, als sie sagte: »Ich bin übrigens die Judith.«
»Lars«, sagte ich und versuchte ebenfalls ein Lächeln, kam mir dabei aber wie immer doch ein bisschen bescheuert vor, schließlich ist Lars ja auch ein ungeheuer blöder Name. Eine Verletzung meiner Persönlichkeitsrechte, die ich meinen Eltern bis heute nicht verziehen habe. Nicht nur, dass ich aus dem größten Genabfall entstanden bin, den eine künftige Mutter und ein potenzieller Vater aufbieten können, nein, sie mussten mir auch noch den dämlichsten Namen des Universums verpassen. Kein Wunder eigentlich, dass ich zum ewigen Dauersingle verdammt bin.
Denn als Mann, ja, als Mann eben, egal ob Baum, gekrümmte Yucca-Palme oder falsch proportionierter Bonsai mit Laubarmut, ist man eben doch einem lebenslangen Dauerfeuer an Oberflächlichkeiten ausgesetzt. Ja, Frauen sind grausam, so wie es sonst vor allem Kinder sind, nur sind sie weniger direkt mit einem. Aber das macht es nicht besser, wie ich finde, weil ich ja durchaus interpretieren kann, und das tue ich natürlich, und so seufze ich erneut, während ich noch immer gebeugt vor dem Spiegel stehe oder eher aufrecht hänge und versuche, aus dem schütteren Haar auf meinem missratenen Kopf eine Frisur zu kreieren. Immerhin hängt der Spiegel so hoch, dass ich nicht auch noch gleichzeitig einen Panoramablick auf meinen Bauchansatz ertragen muss, denn das wäre wirklich zu viel, schließlich bin ich doch gleich mit Judith verabredet und will nicht schon als Häufchen Elend angekrochen kommen, bevor sie mir einen vermutlich wahnsinnig höflich formulierten Korb um die Segelohren donnert.
Und das wird ziemlich sicher passieren, auch wenn Judith und ich uns letztens ganz hervorragend verstanden und nach allerlei Diskussion über das Dreißigsein, die Vorzüge von Linkspolitik auf Landesebene, Disneycartoons und Kaffeearomen beschlossen, Telefonnummern zu tauschen und uns auf jeden Fall wieder zu sehen, um erneut durch den Themenkatalog zeitgenössischer Lebensführung zu galoppieren und eben der Dinge zu harren, die da kommen mögen. Und das werden natürlich nicht viele sein, da Frauen mich grundsätzlich mit abschätzenden Blicken betrachten, ich aber nicht so recht zu abschätzenden Blicken passe und ich so am Ende der Rechnung auf jeden Fall inkompatibel zu Frauen an sich bin.
»Fein, ich freu mich!«, hatte Judith dennoch zum Abschied gemeint und dabei wie ein Honigkuchenpferd gegrinst. Schließlich hatte sie mich umarmt und war hinfortgestelzt. Hübscher Hintern, dachte ich noch, trank mein Bier aus und schlurfte Heim.
Und nun werde ich sie tatsächlich wiedersehen, werde ihr bei gnadenlosem Tageslicht im Café Niedermeyer, Ecke Lüneburger Straße, begegnen, statt bei gedämpftem Feierabendkneipenlicht, werde ihren strafenden Blicken ausgesetzt sein und am Ende geläutert und voll der Schmach von dannen ziehen. Wie immer eben. Und doch gehe ich hin, mache mich hübsch, so hübsch wie man sich eben machen kann, wenn man zum Schlusslicht der Evolution des Stärkeren verdammt ist, und fühle mich dabei ein wenig, als würde ich in voller Montur vors Erschießungskommando treten. Ein scheiß Gefühl ist das, und aus so einem Gefühl soll ich nun also was machen!?
Eine halbe Stunde später treffe ich Judith tatsächlich vor dem Café Niedermeyer. Ich habe weiche Knie und tue doch mein bestes, was vermutlich verdammt wenig ist. Sie trägt ein blaues Kleid, das ihr bis zu den Knien reicht, das einigermaßen elegant aussieht und irgendwie geschickt verschleiert, ob sie sich extra für mich herausgeputzt hat oder ob sie in dem Aufzug auch Wäsche aufhängt und ihren Wochenendeinkauf erledigt. Als ich ihr gegenüberstehe, umarmt sie mich, wie sie es auch kürzlich getan hat, nur tut sie es heute eben irgendwie kürzer. Irgendwie reservierter. Klares Indiz für das, was kommen wird. Zum Glück hab ich das gute Hemd gleich im Schrank gelassen und nur einen tageslichttauglichen Pullover angezogen. Den muss ich nach der Wäsche wenigstens nicht bügeln, denn nach einem vergeigten Date möchte ich nun wirklich nicht auch noch die Falten der Schande aus den Klamotten bügeln müssen.
Wir schreiten zur Tat und betreten das Lokal. Natürlich halte ich Judith die Tür auf, und als sie gerade an mir vorübergeschritten ist, schaue ich auf die Uhr: 15:10. Ich rechne mit einer knappen Stunde und atme einmal tief durch, bevor ich ihr folge.
Nachdem wir an einem der Tische Platz genommen haben, die viel zu nah am Fenster stehen, weshalb mehr Licht auf uns fällt, als zumindest gut für mich sein kann, fängt sie auch schon an zu schnattern. Judith redet viel, unterbricht nur kurz ihren Redefluss, um einen Kaffee mit Milch zu bestellen, und fährt anschließend fort. Sie wirkt leicht hektisch, fast wie ein Duracellhäschen auf Koks. Unablässig wandern ihre Augen über mein Gesicht, wägen wahrscheinlich ab, ob ich mehr Haare im Bart als auf dem Kopf habe, überlegen, ob die Falten mich männlicher oder einfach nur faltiger machen und ob es eine gute Idee wäre, sich an meiner Seite in der Öffentlichkeit zu präsentieren oder lieber nur anzurufen, wenn die neuen Gardinenstangen geliefert wurden und angebaut werden müssen. Ach, es ist schlimm, so bloßgestellt zu sein, ja, schlimm, und wie gern wäre ich doch jetzt zu Hause.
»Warst du eigentlich schon mal bei einer Demo gegen Kernkraft?«, fragt Judith zwischenzeitlich, als wir nach einem kurzen Plausch über die Vorteile von Socken mit Noppen auf dem heimischen Parkett wieder über Politik fabulieren, und ich verneine. War ich nie, hab ich auch nicht vor, was ich natürlich nicht sage, und bin zudem eigentlich ohnehin viel zu sehr damit beschäftigt, Judith zu mustern. Die Judith, die hier vor mir sitzt, dieselbe Judith von letztens, die heute, liegt es nun am anderen Licht oder am fehlenden Alkohol in meinem Blut, irgendwie anders ausschaut. Klar, da ist noch immer die adrette Frisur mit dem frechen Pony, aber sind das wirklich fettige Strähnen, die ihr da in die Stirn hängen, oder schwitzt sie einfach nur so sehr? Das würde wenigstens die Schweißflecken erklären, die ich unter ihrer Achsel entdecke, als sie den Arm hebt, um nach dem Kellner zu rufen und ein Wasser zu bestellen.
Nun ist es nicht so, dass ich bisher einfach nicht wusste, dass auch Frauen schwitzen, doch irgendwie fühle ich mich jetzt ein wenig unbehaglich. Judith macht gerade einen Scherz über kleine Wesen namens Kalorien, die nachts heimlich die Hosen im Schrank enger nähen, und ich finde, sie macht das wirklich gut, das mit den Witzen, meine ich. Doch legt sie dabei kurz eine Hand auf meinen Arm, was sogleich deutlich weniger gut ist, denn ihre Finger sind auch schwitzig, warm und feucht, wenig angenehm, wie ich leider zugeben muss.
»Dick bin ich zwar tatsächlich nicht«, sagt Judith und deutet auf sich, während sie im Spaß mit einer Hand über ihren Bauch fährt, »aber so ein, zwei Kilo könnten ja schon noch runter.« Ich sage nichts, weil man manchmal einfach nichts sagen sollte, das weiß sogar ich, der nicht gerade Gottes Geschenk an die Frauenwelt ist und zucke nur ratlos mit den Schultern, als würde ich wieder daheim vor dem fiesen Spiegel stehen. Wenn du meinst, denke ich, finde, dass sie spinnt, lächle dabei freundlich und lasse sie weiterreden.
Überhaupt redet Judith sehr viel, deutlich mehr als ich, und irgendwie stört es mich ja sehr, dass sie mitunter eine seltsame Aussprache hat. So spricht sie unter anderem das Wort »sehr« mit scharfem S, eine fürchterliche Unsitte, für die ich sie gern korrigieren möchte. Doch ich lasse sie selbstverständlich weiterreden und bin irgendwie ja auch von ihrem Mund abgelenkt. Der ist noch immer voll, oh ja, aber da sind auch diese Zähne! Ich würde Judith ja nicht gerade als Reißwolf bezeichnen, aber irgendwie erinnern ihre Zähne mich nicht wenig an kleine Grabsteine auf einem alten Friedhof: nicht ganz gerade stehend und auch etwas groß geraten. Küssen möchte ich sie so ja nicht wirklich, und auch wenn ich über fettiges Haar, Schweißflecken und nicht ganz akkurate Zähne inklusive Sprachfehler vermutlich hinwegsehen könnte, ist es gut, dass sie, so wie sie mich dauernd mustert, wohl ohnehin nicht allzu sehr mögen wird.
»Wie schaut das eigentlich bei dir mit Kindern aus?«, fragt Judith und lehnt sich ein wenig zu mir herüber. Ihr Blick ist jetzt etwas ernster, und wo sie gerade so nah ist, sehe ich, dass die Fältchen in ihrem Gesicht zwar durchaus feierabendkneipentauglich sind, bei Tageslicht aber doch etwas, nun ja, überbetonend wirken. Zwar schaut sie nicht gerade aus, als könnte sie meine Mutter sein, aber ich möchte doch auch ungern gefragt werden, ob ich immer schon ein Faible für ältere Frauen gehabt hätte. Wie alt ist sie überhaupt? Hatte sie nicht was von einunddreißig gesagt? Judith, denke ich, etwas weniger Höhensonne in jungen Jahren wäre vielleicht eine gute Zukunftsplanung gewesen.
Natürlich sage ich das nicht, schließlich reden wir über Familienplanung, und so behaupte ich stattdessen: »Also ich hätt‘ schon gern Kinder, klar. Einen Jungen und ein Mädchen am besten, so im Abstand von, hm, zwei, drei Jahren.«
Sie lacht, klopft mit der schwitzigen Hand auf meinen Arm und sagt mit einem Funkeln in den Augen, dass das ja auch ihre Idealvorstellung wäre, dass sie aber schon gern noch drei, vier Jahre warten würde. Eine gute Mutter wird Judith bestimmt sein, und einen stolzen Vater wird es sicher auch dazu geben, der allerdings natürlich nicht ich sein werde, so wie sie mich mit ihren aufmerksamen Augen ausleuchtet. Und ehrlich gesagt, ich möchte das auch gar nicht, weil ich mir meine Zukünftige ja doch ein wenig anders vorstelle.
Und nun ist es durchaus schon so, dass ich über vieles hinwegsehen kann, ja, hinwegsehen muss, weil ich so ganz jung auch nicht mehr bin und man irgendwann nunmal wollen muss, was man kriegt, weil das, was man gern hätte, nicht mehr zu haben ist, doch als Judith schließlich, weil draußen irgendein Idiot gerade mit dem Fahrrad gegen einen Laternenpfahl gedonnert ist, den Kopf zur Seite dreht und interessiert aus dem Fenster schaut, so dass ich ihr Seitenprofil direkt vor mir habe, läuft das Fass endgültig über: Sie hat eine Hakennase! Nicht gerade der Zinken einer Märchenhexe, und eine Warze ist auch nicht darauf zu finden, dennoch ist da ein Haken, vermutlich der Vizekönig unter den Haken. So ein Haken ist nun nicht eben ein Blickfänger, auch wenn der ihre meinen Blick sehr wohl fängt und ich schon gar nicht mehr wegschauen kann, und irgendwie ist das zu viel. Wie soll ich eine Frau lieben und ehren, mit ihr zusammenleben, bis dass der Tod uns scheidet und so weiter, wenn ich sie ewig mit einem Transpirationsproblem, fettigem Haar, zu vielen Falten in zu jungen Jahren, außerdem mit seltsamen Zähnen, noch seltsamerer Aussprache und über alledem mit diesem Brummer von einer Nase verbinde? Eine Nase, bei der ich mir reflexartig an die eigene fassen möchte, was ich selbstverständlich nicht tue, schließlich könnte das aussehen, als würde ich popeln. Jedenfalls macht es mir da schon gar nichts mehr aus, dass Judith mir ohnehin einen Korb verpassen würde, wenn ich sie ließe.
Ich schaue auf die Uhr: 16:57. Länger, als ich gedacht hätte, staune ich und attestiere Judith im Stillen ordentlich Sitzfleisch und einiges an Durchhaltevermögen. Und obwohl mir ihr Charakter ja schon recht sympathisch ist, breche ich die Verabredung geschickt ab, weil ich ja noch mal ins Büro muss, wie ich erzähle, und zahle für uns beide, weil sich das so gehört.
»Und melde dich, ja?«, sagt Judith lächelnd und legt mir eine Hand auf die Schulter.
»Na klar!«, werfe ich locker ein, bin mir aber nicht ganz sicher, ob ich das auch so meine. Ein sonderlich schlechtes Gewissen habe ich dabei nicht, schließlich war ihre Bitte, mich doch zu melden, ohnehin nur eine Floskel für »Na, das war wohl nichts.« Finde ich auch, Judith! Dennoch umarme ich sie natürlich zum Abschied und mache mich auf in Richtung Straßenbahn.
Hätte ich mir irgendwie sparen können, das Treffen, auch wenn die Unterhaltung so verkehrt nicht war. Resigniert und vermutlich wieder mit hängenden Schultern, die mir ja ganz offenbar angeboren sind, sitze ich in der Straßenbahn auf meinem Weg nach Hause. Gegenüber von mir hat eine junge blonde Dame Platz genommen, die mich immer dann aufmerksam mustert, wenn ich gerade nicht direkt hinschaue. Schaut sie nicht hin, dann mustere ich sie, und was meine Augen so ermustern, gefällt mir durchaus. Allerdings überragt sie mich im Stehen vermutlich um einen halben Kopf, und überhaupt ist sie, so wie sie aussieht, einfach eine Klasse zu hoch für mich. Nie im Leben würde ich sie ansprechen, noch weniger würde sie das Wort ergreifen, selbst wenn ich der letzte Mann auf Erden nach einem alles vernichtenden Atomkrieg wäre. Wenn unsere Blicke sich für einen Moment treffen, meine ich auch, leidlich versteckte Geringschätzung ausmachen zu können, wie das eben so ist, wenn ich es auf ein Blickduell mit einer Frau von ihrem Kaliber ankommen lasse. Ich sage ja, ein Graus ist es, mit den Oberflächlichkeiten der Frauenwelt. Innerlich seufze ich vor mich hin und möchte sie gerade wirklich alle verteufeln!