Kurzgeschichte
Kreisschluss

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"Kreisschluss"
Veröffentlicht am 30. Oktober 2007, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Bin irgendwie manchmal da, manchmal nicht
Kreisschluss

Kreisschluss

Beschreibung

Das traurige Schicksal einer kambrischen Meeresschnecke über mehrere Millionen Jahre

In mitten des flachen, warmen Wasser sitzt eine kleine Schnecke am Meeresgrund und sucht nach Nahrung. Im versalzten Wasser des zurückweichenden Meeres ist das Leben einer Wasserschnecke deutlich schwerer geworden; der Kreislauf spinnt und das Haus ist mit einer schweren Calciumsulfatschicht überzogen –Gips. Einen Artgenossen hat sie schon lange nichtmehr gesehen und selbst zur asexuellen Fortpflanzung fehlt ihr die Kraft. Unsere kleine Schnecke kann nicht mehr, auch wenn sie keine Fressfeinde mehr im lebensfeindlichen Wasser hat, ist ihr Weg hier zu Ende.
Dieses Ereignis ist unzählige Male überall auf der Welt passiert. Wie viele Schnecken schon gestorben sind, diese Zahl steht weit außerhalb unserer Vorstellung, aber dieses eine Mal war etwas Besonderes. Unsere Schnecke hat uns ihr Haus vermacht, das Millionen Jahre lang immer tiefer unter die Oberfläche gewandert ist. Eingebettet in ein Grab aus Kalk und unter großem Druck veränderte es sich leicht und bildete einen kleinen, wunderschönen Marmorklumpen; ein kleiner grauer Kleks im blendendweißen Kalk. Die Kontinente verschoben sich, Lebewesen tauchten auf und verschwanden, die ersten Menschen sahen das Licht der Welt. Jahrtausende später siedelten sich einige am Ufer des Flusses an, dessen Wasser sich langsam in die Grabplatte der Schnecke grub. Doch es müssen noch einmal tausende Jahre vergehen, ehe unsere Schnecke ihr Schicksal erfüllen kann. Viele Kriege wurden über ihrem Haus ausgetragen, viel Blut tränkte den Boden und wurde von den hungrigen Fluten mitgerissen.
Es hätte wohl noch einmal hunderte Jahre gedauert, bis der Tigris sich bis zum Marmorklumpen durchgefressen hätte, aber glücklicherweise beschleunigte der Mensch diesen Vorgang. 1976, im Jahr des großen Erdbebens in Tangshan und dem Todes Maos wird am anderen Ende Asiens ein ehrgeiziges Großprojekt gestartet, das Tonnenweise Kalk über unserer Schnecke abtragen und Tonnenweise Beton über ihr aufschichten wird. Zum ersten Mal wird der kleine Calsiumcarbonatklumpen, der früher ein elegant verschnörkeltes Schneckenhaus war, der Lust ausgesetzt. Ein komplett neues Gefühl; Sonnenstrahlen, die den Stein erwärmen, blauer, wolkenloser Himmel, kurze Regenschauer, der Mensch schenkte unserer kleinen Schnecke ein zweites Leben. Doch dieses begann genauso, wie das erste aufgehört hatte: Bewegungslos, umgeben von langweiligem, weißen Kalk. Diese Langweile wurde im Jahre 1983 endlich unterbrochen, statt über den Friedensnobelpreis für Walesa freut sich der kleine Stein über die Rückkehr seines Elements; das Wasser kommt zurück! Der Tigris bringt endlose Mengen an Wasser und es stößt zischend gegen den Beton. Tausende, dann Millionen später über 30 Milliarden Liter Wasser türmen sich am Damm auf. Unterhalb, als Übergang von Bauwerk zum natürlichen Boden, etwa auf halbem Weg von der Mitte des Damms zu den Steilen Felswänden an der Seite, liegt ein kleiner Marmorklumpen und ist wieder in seinem Element. Pausenlos rauscht das Wasser an ihm vorbei und erzeugt in riesigen Turbinen Strom für ein ganzes Volk. Nach den ganzen Umwälzungen folgen Jahre des langsamen Fortschritts; während das Land da oben zwei Kriege verliert, wird die Schnecke Stück für Stück von ihrem Gefängnis aus Gips befreit, der sich wieder im Wasser gelöst ins Meer begibt. Nun ist das Schneckenhaus aber zu schwer und nicht im Wasser lösbar, seit es dem Druck von hunderten Metern Gestein ausgesetzt war; das Wasser kann es nicht mit sich reißen, es fließt zu langsam. Unsere Schnecke beschränkt sich darauf, stetig gegen die Kalkwand geschlagen zu werden. Plötzlich, die Leute, die den Damm gebaut haben, sind schon verschwunden, bleibt der Marmorklumpen kurz in einem kleinen Loch stecken, wird dann aber durch den Druck von Millionen Tonnen nach vorne gedrückt. Im weiten Parabelbogen fliegt ein kleiner glänzender Stein gefolgt von Wasser und Betonteilen die 131 Meter bis zum Boden. Es bleibt gar keine Zeit zu verarbeiten, was mit unserer Schnecke passiert: Vor wenigen Sekunde noch fast regungslos im ruhigen Wasser, jetzt inmitten tosender Fluten, die sich mit großer Geschwindigkeit den Tigris hinab bewegen. An vorderster Front, zwanzig Meter über dem Boden thront die stolze Schnecke und sieht kleine Dörfer widerstandlos untergehen. Felder verschwinden ebenso unter dem Mantel aus dickem, braunen Wasser, wie Straßen und Brücken; hilflos werden Soldaten wie Bauern mitgerissen. Es ist schon bald Abend, da taucht die Wasserfront in ihrer Dynamik vor der ersten Brücke Mossuls auf. Im ersten Wohngebiet wird die Wellenfront von einem Minarett geteilt. Unser Marmorklotz verliert den Anschluss und wird in einem Wirbel immer tiefer in das Wasser gezogen. Die ganze Dynamik des Wassers wird erst hier deutlich: Menschen, Tiere und alles andere auch wird wild durch die Fluten verteilt und einige Stunden und mehrere Kilometer später wieder ans Licht befördert. Die Schnecke verfängt sich mit anderen Steinchen im Haar eines kleinen Kinds, das nun mit ihnen den weiten Weg ins Meer antreten wird. Nach Mossul wird der Verlauf wieder ruhiger; nichts ist hier groß genug, starke Wirbel zu erzeugen und so erreicht unsere Fahrgemeinschaft unbehelligt Bagdad. Wenn auch deutlich kraftloser und langsamer, als am Anfang, so ist die Welle immer noch über fünf Meter hoch und versenkt auch hier alles unter sich. Die Macht und die Dynamik des Wassers verlieren sich nun im weiten Delta des Tigris und eine kleine Erinnerung an ein früheres Leben treibt mit wenigen Metern pro Sekunde verfangen in den Haaren einer schon leicht aufgedunsenen Wasserleiche dem Meer entgegen.
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Myshkin
Bin irgendwie manchmal da, manchmal nicht

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NorbertvanTiggelen Re: Re: Deine Geschichte -
Zitat: (Original von Myshkin am 31.10.2007 - 19:44 Uhr) Da hast du Recht, ich habe zwar versucht, recht flapsig zu schreiben, aber der Satz ist echt vermurkst.
übrigens, falls ich interesse zu diesem Thema erzeigt habe: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,514382,00.html

Sowohl den Damm, wie auch den Rest gibt es wirklich und es wird befürchtet, dass bei einem (jederzeit eintretbaren) Brechen des Dammes etwa 500 000 Menschen sterben würden.


Habe ich mir schon so gedacht, dass es wahre Begebenheit ist. Ich werde sicherlich später mal reinschaun. Danke für den Link man!
LG Norbert
Vor langer Zeit - Antworten
Myshkin Re: Deine Geschichte - Da hast du Recht, ich habe zwar versucht, recht flapsig zu schreiben, aber der Satz ist echt vermurkst.
übrigens, falls ich interesse zu diesem Thema erzeigt habe: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,514382,00.html

Sowohl den Damm, wie auch den Rest gibt es wirklich und es wird befürchtet, dass bei einem (jederzeit eintretbaren) Brechen des Dammes etwa 500 000 Menschen sterben würden.
Vor langer Zeit - Antworten
NorbertvanTiggelen Deine Geschichte - hat mir gut gefallen. Kleiner Makel:

"während das Land da oben zwei Kriege verliert,"

dieser Satzteil hört sich irgendwie etwas Plump an !!!
Ansonsten wirklich schön, und auch lehrreich geschrieben wie ich finde.

LG Norbert
Vor langer Zeit - Antworten
Rehmann Kreisschluss - Spannende Story, sehr gut zu lesen.
LG
H. Rehmann
Vor langer Zeit - Antworten
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