Jukka hat im Wald eine Höhle gefunden, doch während die Erkundung verläuft nicht ganz nach Plan: Jukka verirrt sich. Doch schließlich taucht eine geheimnisvolle Fremde auf, die den Weg nach draußen kennen will - doch irgendetwas ist nicht so, wie es sein sollte...
Eigentlich hat Schnee gar keinen Geruch, stellte Jukka fest, als er bedächtig durch den Wald knirschte. Es roch nach Holz, und nach Kälte, aber nicht nach Schnee. Jukka sah an den Kronen der uralten finnischen Bäume empor, und erblickte Wolken, die die Sonne wie ein Schal verdunkelten. Einen Schal, den hätte er jetzt auch gut gebrauchen können. An alles hatte er gedacht, die warme Jacke, Handschuhe, Mütze und ein paar andere Kleinteile, nur den Schal hatte er vergessen. So fror er sich durch den Forst. Obgleich es erst später Mittag war, warf die tiefe Sonne bereits lange Schatten durch das Gehölz, jedenfalls dann, wenn die Wolken mal eine Lücke ließen. Typisches Wetter so nah am Polarkreis. Mit einer Handbewegung fegte Jukka den Rieselschnee von seinen Schultern, der bei jedem Luftzug von den Tannen fiel. Der Eiswind fuhr schneidend durch den Wald, aber nichts und niemand würde ihn davon abhalten sein Ziel zu erreichen. Schon gar nicht dieser elende Schneemann Vili.
„Du wirst sie nicht finden“, hatte er gesagt, sein Stahllächeln im Gesicht. Kiitos, aber darauf konnte er verzichten. Dieser Paskiainen würde schon sehen, was er davon hatte. Ein Jukka Antonsson gab niemals auf.
Einige Zeit später befand er sich, zitternd vor Kälte, an dem Ort den er gesucht hatte: Hier inmitten des Läppischen Waldes befand sich hinter einer Ansammlung von Schneewehen eine echte Eishöhle. Weiß hatte der Eingang beim letzten Mal gestrahlt, als ob ihn jemand einladen wollte. Heute war der Schnee von einem schmuddeligen grau.
„Dann wollen wir mal“, murmelte er und legte seinen Rucksack ab. Als er ihn öffnete kamen ein Hammer, ein Eispickel, seine Taschenlampe, die Kamera seines Vaters und einiges an Verpflegung zum Vorschein. Er nahm den Hammer und schlug vorsichtig gegen die Eiswand. Letztes Mal hatte er keinen Hammer gehabt, und mit dem Stein den er gefunden hatte konnte er nicht genügend Kraft aufbringen.
Mit drei kräftigen Stößen brach er das Eis und schaffte ein Loch, groß genug für seinen Kopf. Muffige Luft stieg ihm entgegen, erstaunlicherweise aber wärmere als die des Kältewetters draußen. Jukka vergrößerte das Loch mit den behandschuhten Händen. Das Eis fühlte sich brüchig an ein seinen Händen und es ließ sich nun, als einmal eine Bruchstelle da war, leichte auseinanderbrechen.
Einen Moment lang verharrte er, sog die Kalte, noch immer nach Holz riechende Luft von draußen ein, hörte auf das Pfeifen des Windes und schloss die Augen. Wilde Vorstellungen durchzuckten seinen Geist, von glitzernden Höhlen, weißen Kavernen und ähnlichen Dingen.
Er öffnete die Augen und trat ein, in Neptuns gefrorenes Reich.
*
Vorsichtig tastete er sich durch das Eis. Innerhalb der vergangenen zwei Stunden hatte Jukka sich öfter auf die Nase gelegt, als in den vergangen 19 Jahren seines Lebens. Trotzdem war er fasziniert von dem weitläufigen Höhlensystem, dass sich um ihn erstreckte. Über zweihundert Fotos befanden sich bereits auf seiner Kamera, als er plötzlich durch einen Durchbruch schlich und sich unversehens in einer gigantischen Kaverne wieder. Von allen Seiten blitze und blinkte es, während Jukka auf einem schmalen Balkon aus Eis stand, kaum drei Meter im Quadrat groß und aus puren Eis geformt. Die Kaverne hatte die Form einer Kugel, und er stand fast genau auf halber Höhe. Er schätzte, bis zum Scheitelpunkt des Eisdoms müssten es mindestens dreißig Meter sein, vom Boden aus. Von oben schien weißliches Licht herein, dass dem ganzen einen gespenstischen Einschlag verlieh. Quer gegenüber konnte Jukka eine Art Tunnel ausmachen, sowie einen schmalen Pfad, dessen Stufen aus dem Eis herausgehauen schienen. Jukka nahm seinen Eispickel aus dem Rucksack. Dabei spürte er, dass es wieder wärmer geworden war. Das Eis isolierte von der Kälte außen, die ihrerseits das Eis stabil hielt. Jukka fragte sich, wie dieses Kunstwerk entstanden sein konnte. Von Menschenhand schien es nicht geschaffen zu sein. Lediglich der Pfad ließ ihn daran zweifeln.
Nachdem er sich noch einmal umgedreht hatte, begann Jukka mit dem Abstieg. Er spürte das Eis unter seinen Füßen, sah das Eis, das anmutete wie das Innere einer Eisscholle, Hörte ein leichtes Tropfen von Wasser, aber vor allem seinen eigenen Herzschlag. Und den Atem, der noch immer in weißen Wölkchen vor seinem Gesicht gefror. Er fühlte den Eispickel ein seiner behandschuhten Hand, während die andere der Balance wegen ausgestreckt war. Die Luft roch noch immer leicht muffig und abgestanden. Vermutlich gab es nur wenige bis gar keine Luftdurchlässe zu diesem Höhlensystem.
Doch gerade als er dachte, nun könne nichts mehr passieren, rutschte er aus und fiel von der Treppenartigen Konstruktion. Er rutschte und schlitterte, und er schrie, vor Angst, vor Schmerz. Dann war nur noch Schwärze.
*
Ein Gesicht, das sich über ihn beugte. Ein Geruch nach Rauch und Schweiß. Der Geschmack von Kupfer. Die Arme schmerzten, ebenso sein linkes Bein, während das rechte taub war.
„Hei“ sagte eine Stimme über das prasseln von Feuer hinweg.
Mühsam bewegte Jukka seine Kiefer auseinander.
„Hei. Was… Was ist passiert?“
Eine Anstrengung zu sprechen.
„Ich hörte dich schreien. Da bin ich dem Geräusch gefolgt. Ich sah gerade noch, wie du bewusstlos zum Liegen kamst. Jumalani, das sah schlimm aus!“
Scheinbar hatte auch sie Schwierigkeiten mit dem Sprechen.
„Du hast mich gehört? Aber ich war doch… allein!“
Sie lachte ein kratziges, kehliges Lachen.
„Ich lebe in dieser Höhle seit vielen Jahren. Du bist seit langem der erste Mensch, der mir begegnet ist.“
„Du lebst hier?“
„Ich war damals neugierig und entdeckte einen Zugang zu diesem Höhlensystem. Doch als ich von meiner Erkundungstour zurückkehrte war der Eingang versperrt durch eine Schneewehe. Ich versuchte sie zu beseitigen, doch ich kam nicht durch. So fand ich mich mit meinem Schicksal ab und hoffte eines Tages würde jemand kommen um mir zu helfen.“
Jukka sah sie sich genauer an. Es konnte gut sein, dass sie schon seit Jahren hier war: Ihre Haare waren ihr bis unter die Schulterblätter gewachsen und wurden von einer primitiven Kordel zu einem Zopf zusammengehalten. Ihre Kleidung war ein vielen Stellen eingerissen oder durchgescheuert. Und sie roch wie ein Raubtier.
„Aber wie hast du überlebt?“ fragte Jukka verblüfft.
„Es gibt in einer Kaverne eine Reihe alter, abgestorbener Bäume, deren Holz alt und brüchig ist. Hin und wieder verirren sich kleine Tiere durch irgendwelche Spalten hier hinein, von denen habe ich gelebt. Und von der Hoffnung, dass eines Tages jemand kommen würde.“
Jukka lachte.
„Aber wahrscheinlich hättest du nicht damit gerechnet, dass dieser jemand dir mehr oder weniger vor die Füße fallen würde, oder?“
Sie lachte auch, ein kratziges, ungeübtes Lachen. Sie schien schon verdammt lange hier unten zu sein.
„Wie heißt du eigentlich?“ wollte Jukka wissen.
„Viivi“ sagte sie.
„Kiitos paljon, Viivi“ sagte Jukka. Vielen Dank, Viivi.
Sie lächelte etwas verlegen.
Es entspann sich eine kurze Diskussion darüber, wie es um Jukkas Bein stehe und wann er wieder gehen könne. Zum Glück war das Bein bloß geprellt und nicht gebrochen, und so konnten sie sich bereits am darauffolgenden Morgen auf den Weg nach draußen machen.
*
Jukkas Bein schmerzte mit jedem Schritt. Laut seiner Uhr war es bereits über drei Stunden her, dass sie von Viivis Lagerplatz aufgebrochen waren, und nach seiner Erinnerung hatten sie bestenfalls die Hälfte der Strecke geschafft. Sie hatten gebratene Hiirtä gegessen zum Aufbruch, doch Jukkas Magen fühlte sich an, als habe er seit Tagen nichts mehr gegessen. Als sie kurz Rast machten, zog Viivi eine weitere Portion Hiirtä aus ihrer Tasche, doch bereits wenige Minuten nach dem Essen fühlte sich Jukka wieder als habe selbiges gar nicht stattgefunden.
Kurz darauf erreichten sie eine lang gezogene Eishalle, an der der Fuß eines Berges ansetzte. Jukka wusste, dass es nun nur noch wenige hundert Meter sein würden, als er bei einer Bewegung Viivis plötzlich herumfuhr. Von seiner Position aus sah es geradezu so aus, als sei das Mädchen durch einen Stalagmiten hindurch gelaufen wäre. Als er sie darauf ansprach, reagierte sie gereizt.
„Völlig unmöglich“ schnappte sie. „Ich meine ja nur…“ meinte Jukka. Er lief zurück bis zu der fraglichen Stelle. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als er feststellte, dass es keine optische Täuschung gewesen sein konnte. Entweder sein Verstand betrog ihn, oder aber das Höhlenmädchen war gerade durch einen anderthalb Meter hohen, am Fuß dreißig Zentimeter durchmessenden Eiszapfen gelaufen.
„Das ist doch absurd, was du da erzählst. Komm lass uns gehen, damit wir endlich nach Hause kommen!“
Aber das war Jukka egal: Irgendetwas stimmte nicht. Er prüfte das Eis: Fest unmöglich da hindurchzulaufen, zu hoch um darüber weg zu steigen. Er spürte das Eis in seinen Händen, hörte das Rauschen von Blut und das Tropfen von Wasser. Sein Bein pochte und es war kalt, aber das war jetzt egal. Irgendetwas stank hier ganz gewaltig.
„Was wenn du nur eine Erfindung bist?“ fragte er schließlich. Sie schien zur Eissäule erstarrt.
„Was soll der Blödsinn?“
„Ich bin aus was-weiß-ich wie vielen Metern gestürzt, habe in der Kälte gekauert, was sagt mir, dass du keine Erfindung meines Verstandes bist?“
„Äh – Hallo? Dass ich dich gerettet habe vielleicht? Das ich dir zu Essen gegeben habe? Dass ich hier stehe vielleicht?“
„Und warum habe ich nach dem Essen genauso viel Hunger wie vorher?“
„Du redest Schwachsinn. Die Kälte macht deinen Verstand wirr!“
„Nein!“ schrie er, „Du bist bloß Einbildung, weil mein Geist einsam und verzweifelt war! Gib es zu!“
Sie setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment krachte eine Stalaktit zwischen ihnen auf den Boden. Ihr Streit hatte die Eiszapfen der ganzen Höhle in Vibration gebracht, und die Eisgeschosse fielen nun reihenweise zu Boden.
„Komm!“ schrie sie gegen das Krachen des Berstenden Eises an.
Für den Moment war der Streit Todesangst gewichen. Jukka bildete sich ein den sauren Geruch von Tod und Verwesung zu riechen und zu schmecken, während er ihre Hand ergriff und sie in Richtung Ausgang stürzten.
Hinter ihnen brach die Höhle ein. Jukka traute sich bereits nicht mehr nach hinten zu sehen, wo das Eis ineinander stürzte und die Jahrtausendealten Eis und Steinformationen zermalmte. Der Eisstaub brannte in seinen Lungen, während sein Bein schreiend protestierte. Hand in Hand mit Viivi, ob nun Kreation seines Geistes oder nicht stürzte er auf den Ausgang des Höhlensystems zu.
„Dort!“ schrie er, als es nur noch wenige Meter waren. Das Loch war noch immer da, obwohl es bereits zu einem guten Drittel mit Schnee wieder gefüllt war. Er schob Viivi voran durch das Loch, dann zwängte er sich selbst hindurch. Hinter ihm brach die Höhle ein, mit einem letzten Aufschrei splitternden Eises.
Jukka rappelte sich auf. In seiner Lunge und ein seinen Augen schmerzte die eisige Luft des finnischen Winters. Sein Bein pochte und schmerzte wie verrückt. Seine Hände waren blutig und eisbedeckt. Es roch nach Wald.
Jukka drehte sich um, um zu sehen ob Viivi wohlauf sei. Doch er stand alleine in dem unberührten Neuschnee.