Das Glück von Mr. Ripley
Mr. Ripley saß auf der Mauer der Hafeneinfahrt und blickte auf das Meer hinaus. Wind war aufgekommen und wirbelte sein Haar durcheinander als er seinen Kragen gegen die empfindliche Kälte aufstellte und sich eine Zigarette anzündete. Er war froh hier zu sein, um die Einsamkeit des Meeres still schweigend zu genießen, fern ab von allen gesellschaftlichen Zwängen und anderen Ausuferungen. Hier konnte er ganz er selbst sein und sich fallen lassen. Und das war auch bitter notwendig, denn die vergangenen Zeiten hatten ihm zugesetzt. Er war nicht mehr derselbe, der er einst war. Er war nachdenklich und ließ die Zeit Revue passieren. Und inzwischen war er alles andere als unglücklich, dass alles so kam wie es gekommen war. Vielmehr stellte sich ein Gefühl von Ruhe und innerem Gleichgewicht ein. Mr. Ripley blickte auf, als sich eine Möwe auf der Mole niederließ und ihr Gefieder aufplusterte, um sich gegen den rauen Nordseewind zu schützen. Freiheit. Ja, die Freiheit. Das war es, wofür es sich lohnt zu kämpfen, dachte er. Er lächelte kurz und für einen Moment, da dachte er, die Möwe konnte seine Worte verstehen, als sie ihren Kopf wendete und für einen Augenblick in Ripleys Gesicht sah.
Es war ein Montag, der ihn auf die Insel schickte. Ruhig war es um diese Jahreszeit. Lediglich die Masten der Segelschiffe konnte man aus einiger Entfernung hören, wenn sie in regelmäßigen Abständen metallisch aneinander schlugen und den unvergleichlichen Klang der Hafenromantik verkörperten, die er so sehr liebte. Es war, als würde das Wasser liebevoll mit den Schiffen spielen und sie sanft im Wasser wiegen. Das Wasser, das so sehr viel kraftvoller als alles andere dieser Welt war.
Mr. Ripley atmete tief durch und genoss die salzige Luft, die sich um ihn legte. Und während er dem Klang des Meeres und dem metallischen Klirren der Masten lauschte, musste er immer wieder an ihre Worte denken, als er sie für immer verließ. Auch wenn es ihm damals beinahe das Herz brach, so lachte er heute darüber und schüttelte verständnislos den Kopf, wenn er auf Menschen traf, deren Lebensinhalt scheinbar darin bestand "hübsch auszusehen“. Nein, für solche Äußerungen konnte er weder Verständnis noch Sympathie aufbringen. Es ließ ihn ratlos zurück, denn es erschien ihm wie Hochverrat an der Würde und am Respekt. Zeitweise überfiel ihn der Eindruck von einer Art Selektion der Moderne. Es war widerlich. Ripley zog seine Lehren daraus und verließ sie nach einer inhaltslosen Weile der Verbundenheit, um wieder zu sich selbst zu finden. Schließlich brachte es ihn hierher an die Hafeneinfahrt, die er schon seit seiner Kindheit kannte und seither sein Hort der Ruhe und Gelassenheit war.
Er lehnte sich zurück an die Kaimauern und starrte in den Himmel. Die Dämmerung war inzwischen hereingebrochen und bot ein atemberaubendes Schauspiel voller Farbenpracht und kraftvollen Wolkenbändern, die sich in den herbstlichen Abend fügten. Ein paar Augenblicke entfernt flackerten die grünen und roten Positionsleuchten der Hafeneinfahrt auf, die den Kuttern die sichere Heimkehr in den vertrauten Hafen geleiteten. Schon bald würden sie heimkehren und hoffentlich einen guten Fang gemacht haben, dachte er.
Es krächzte und Ripley drehte sich zur Seite. Immer noch saß die Möwe auf der Mole und plusterte ihr Federkleid gegen den beißenden Wind auf und machte sich mit ihren Rufen bemerkbar. Anscheinend wartete sie ebenso auf die Heimkehr der Boote, denn wenn die Schiffe in den Hafen einfuhren gab es für die Hafenbewohner stets ein stattliches Mal, dass man sich nur ungern entgehen lassen konnte. Ripley lächelte und tat seiner gefiederten Begleitung gleich und stellte den Kragen erneut auf, um sich vor der eisigen Brise zu schützen. Sie schauten gemeinsam in die Ferne des Horizonts und warteten auf die Rückkehr der Fischer.
Ein Wirrwarr aus Wolkenfetzen zierte den Himmel. In schillernden Rottönen vollzog sich der Abendhimmel und zeigte sich von seiner schönsten Seite. Vereinzelnd türmten sich unendlich hohe Berge zwischen den Wolkenfetzen und zeichneten graue Ränder, die vom reinen Weiß gefüllt von der leuchtenden Sonne verwöhnt wurden.
Für einen Moment schlossen die beiden Gefährten die Augen und tauchten in ihre Umgebung ein. Von hier unten schien das Sein bedauerlich klein, dachte Ripley noch. Dabei war das Sein ein so großartiges Geschenk, wenn man es doch teilen konnte und daraus etwas Großes entstehen ließ. Etwas, das jenseits von alltäglichen Vorstellungen geboren war. Etwas, das unendlich und rein in seiner Güte war. Und während die beiden Gefährten die See genossen, schienen beide eins mit der Umgebung zu sein. Jedes gesprochene Wort erübrigte sich. Was zählte, war der Einklang.
Dunkelheit legte sich inzwischen über den Hafen. Die Positionsleuchten der Einfahrt spiegelten sich in den schier unzähligen kleinen Wellen rund um die Molen des Kais. Immer wieder funkelte es rot, mal grün, mal verschwommen die Reflektionen zu einem bläulich schimmernden Meer, um erneut aus dem Dunkel der Wellen als leuchtende Farbe aufzuerstehen. Augenblick um Augenblick tauschten Horizont und Firmament die Rollen und kleideten die Küste in die Nacht des Nordens. Strahlte der Himmel eben noch in einem farbenfrohen Licht, so war es nun die klare Nacht, die den Wechsel der Gezeiten beginnen ließ.
Vereinzelten brannten Lichter im Hafen und deutlich konnte Ripley den Geruch von Schiffsdiesel und von Salzwasser gebeiztem Plankenholz riechen. Der Wind hatte sich gedreht und plötzlich herrschte rege Aufruhr. Lautstark machten sich gefiederte Meeresbewohner bemerkbar, die sich aus der Ferne näherten. Aus der Melancholie des Abendrotes gerissen dreht Ripley den Kopf und bemerkte, dass sich auch sein Gefährte aus dem warmen Federbett aufrichtete.
Der Moment schien gekommen, da die Boote heimkehrten und auf biblische Weise den sättigenden Fang einbrachten. Es dauerte nicht lange, da erhob sich der Gefährte imposant in die Lüfte, streckte sein Federkleid in seiner ganzen Pracht aus und wog sich geschmeidig im Wind, um das Ereignis aus luftiger Höhe zu betrachten. Es war die Freiheit der See. Der freie Geist. Voller Entfaltung und voller Unendlichkeit. Wenn ich dir doch nur gleich tun könnte, dachte Ripley und schmunzelte.
Das Horn ertönte lautstark durch die Dunkelheit. Ripley hob den Arm und begrüßte die einfahrenden Fischer. Er war glücklich. Jetzt und in diesem Augenblick.