Fantasy & Horror
In deinen salzigen Armen - Liebe, Verblendung, Rache

1.

„Jared!“, etwas Feuchtes berührte meine Nase. Stöhnend öffnete ich meine Augen. Die blaue Zimmerdecke starrte mir entgegen. In der linken Ecke ein Spinnennetz.

„Jared!“, eine grelle Stimme. In Zeitlupe setzte ich mich auf. Klara in ihrem pinkfarbenen  Disneyschlafanzug mit einem Teddy in der Hand. Keks, unser schwarzer Pudel, der mir wieder die Nase ableckte. „Mensch, Klara. Wie oft denn noch? Du sollst doch diesen Köter nicht in mein Bett lassen!“, murrte ich schlafgetrunken. Klara kicherte bösartig und verschwand. Ja, sie war der Teufel im Engel. Blonde Locken, süßes Lächeln – eiskaltes Eindringen in mein Leben. Verflixt, ich war schon siebzehn. Doch noch hatte kein einziges Mädchen es mit mir ausgehalten. Der Grund ? Meine kleine, nervende Schwester, die immer dann auftauchte, wenn man sie nicht brauchte. Doch jetzt sollte alles anders werden. Neuer Wohnort, neue Schule, tja, neues Glück. Wenn man davon absah, dass wir zu viert an einen Ort am Ende der Welt gezogen waren. Rick, mein Vater, war der Meinung, dass es uns vielleicht besser ergehen würde, an dem Ort zu verweilen, an dem unsere Mutter sich das Leben nahm. Ja, eine wirklich schöne Vorstellung: An diesem trostlosen Ort zu leben, um unserer toten Mutter nah zu sein. Wie auch immer. Ich vermisste sie. Jeden Tag. Jede Stunde, Sekunde. Doch man konnte nicht ununterbrochen jemand nachtrauern, der seinen Tod selbst gewollt hatte. Das ergab einfach keinen Sinn. Sie wollte es so, sie tat es und damit basta. Nein, nichts basta. Ich hatte sie geliebt. Richard, Klara, ja selbst Keks hatten sie geliebt. Ich verstand es einfach nicht, wieso Rick uns hier festhalten und, ja uns regelrecht aufzwingen wollte, an sie zu denken. Sie hatte ja es schließlich gewollt.

„JARED!“, schrie mein Vater aus der Küche. „Raus aus den Federn. Komm frühstücken.“ Seufzend machte ich mich für meinen ersten Schultag fertig.

Ich kam zu spät. ‚Na super‘, murmelte ich, als ich vor meiner neuen Klasse stand. Jeder starrte mich an. Undurchdringlich, kein Anzeichen von Freundlichkeit. So viel zu Neuanfang. Meine Englischlehrerin bat mich, Platz zu nehmen. Augenblicklich rutschte jeder Einzelsitzende an das Tischende, um mir den Platz zu verweigern. Da entdeckte ich das erste Gesicht des Tages, das mich nicht hasserfüllt anstarrte. Der kräftige Kerl hatte seine schwarze Kapuze übergezogen und schien von dem  Unterricht nichts mitzubekommen. Als ich mich ihm näherte, bemerkte ich auch, wieso. Gewaltsame, energische Musik drang aus seinen Kopfhörern, die er noch nicht einmal zu verbergen versuchte. Er kritzelte auf einem Block vor ihm; finstere, gefühlskalte Gestalten starrten von dem Papier zu mir hoch. Als ich mich setzte, hob er noch nicht mal den Kopf, keine Begrüßung, kein Sich-Vorstellen, nichts. Neben ihm kam ich mir vor wie ein braver, gutmütiger Junge. Ich beschloss selbst, mich vorzustellen und räusperte mich. Der Kerl stoppte sein Gekritzel. Langsam, so langsam hob er seinen Kopf. Ich vergaß den Unterricht um mich, alle Anwesenden. Alles fort. Nur dieser Kerl. Er drehte seinen Kopf zu mir. Die Kapuze bedeckte seine Augen und seine Stirn. Bei dem Anblick seiner Hautfarbe und seiner blutroten Lippen blieb mir fast das Herz stehen. Schneeweiß, mit einem Hauch von ekligem Gelb – wie der Tod. Alles klar. Ich hatte wahrscheinlich zu viele Horrorbücher gelesen. Twilight beeinflusste meiner Meinung nach zu sehr die Gedanken und die Ausdrucksweise der Menschen. Er ‚blickte‘ immer noch in meine Richtung. Ich beschloss, dass ich jetzt unbedingt etwas sagen sollte. „Ich .. ich heiße Jared.“ Sehr intelligent. „Ich weiß.“ Seine Stimme ließ mich erschaudern. Das konnte noch nicht einmal Stephenie Meyer beschreiben. So frostig. So eintönig. So … Gänsehaut einflößend. Als die Schulglocke den Unterricht beendete, sprang ich beinahe aus der Hose, so benebelt war ich. Rasch packte ich meine Sache zusammen und verschwand zur nächsten Schulstunde.

In der großen Pause setzte ich mich zu einer Gruppe von meinen Klassenkameraden auf eine Parkbank neben der Sporthalle. Ein großes brünettes Mädchen mit hochhakigen Schuhen, ein dunkelhäutiger Junge, der ununterbrochen an ihr hing, zwei eineiige Zwillinge – weiblich, zwei tratschende Mädchen, die sich so ähnlich wie Feuer und Wasser waren. Außerdem standen noch ein paar Ältere um sie herum, ein paar jüngere Geschwister waren auch dabei. Ich versuchte den Gesprächen zu folgen, doch sie alle waren ziemlich darauf bedacht, mich von ihren Unterhaltungen auszuschließen. Schließlich gab ich es auf und steckte mir Musikstöpsel in die Ohren. Ehrlich gesagt hielt ich dennoch Ausschau nach einem freundlichen Gesicht. Neben dem Haupteingang fand ich dann schließlich das hübscheste Mädchen der Schule. Sie stand mit dem Rücken zu mir. Ihr blondes, welliges Haar reichte ihr über die Schulter, während der Wind und die Herbstsonne es zum Glühen und Tanzen brachten. Sie machte den Eindruck, als ob sie jemand suchen würde. Ihr hektischer Blick wanderte über den Schulhof, registrierte jedes Gesicht. Ich blickte unauffällig ihr wunderschönes Gesicht an und betete, dass sie mich bemerken würde. Wie durch Zauberei schaute sie mir genau in diesem Augenblick mitten in die Augen. Ich sah kurz Panik in ihren Augen aufblitzen, dann verzweifelte Freundlichkeit. Hä? Was sollte das denn? Verzweifelt? Freundlich? Als müsste sie freundlich zu mir herüberblicken, was ihr total widerstrebte. Schon wandte sie sich ab und marschierte schnurstracks bei dem Gong in das Schulgebäude.

Da mir im Unterricht weder von meinen Mitschülern, noch von meinen Lehrern sonderlich viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, konnte ich meinen Tagträumereien nachgehen. Ständig hatte ich das Mädchen im Kopf. Wut packte mich. Vielleicht hatte sie auch Mitleid. Oder vielleicht war das verzweifelte Lächeln nicht an mich gerichtet. Das hoffte ich. Auch ließ ich den finsteren Typen aus der ersten Stunde nicht aus dem Blickfeld, ich beobachtete aufs Genauste jede seiner Bewegungen. Ansonsten hatte ich nicht viel Stoff zum Nachdenken. Das verleitete mich wieder dazu, an meine Mutter zu denken. Wieder empfand ich diese Gefühlskälte. Ich spürte weder Traurigkeit noch Wut. Ich spürte nichts. Nur Leere, keine entzückenden Erinnerungen an meine Kindheit mit ihr, keine Auseinandersetzungen. Nichts. Ich hielt es an diesem Ort nicht aus. Wieso?! Wieso waren wir an diesen gottverfluchten Ort gezogen, wo niemand mich beachtete und ich ständig an meine Mutter denken musste?!

Das war einfach nicht gerecht.

2.

Das Wasser war pechschwarz. Nur der Vollmond spiegelte sich schwach auf der Meeresoberfläche. Gelblicher Schaum prallte gegen die Hafenwand. Ich blickte kurz auf meine Armbanduhr. Kurz vor Mitternacht. Uuh. Ich sollte wohl besser aufpassen, dass ich keinem Werwolf begegnete. Da entdeckte ich ein zerfallenes Loch an der Hafenwand. Als ich hinunterblickte, konnte ich undeutlich eine Steintreppe erkennen, die überundüber mit Algen bewachsen war und so nah an das Wasser reichte, dass es mit der bloßen Hand zu erreichen war. Das war meine Chance. Ich hatte noch keine einzige Stelle gefunden, an der man bis an das Meer hinuntersteigen konnte. Mir schien es, als ob das beabsichtigt war, als Schutz. Vielleicht für Kleinkinder, die nicht schwimmen konnten, schließlich war das Wasser tief genug, dass ein Schiff hier anlegen konnte. Auf jeden Fall hatte ich es mir schon seit dem ersten Spaziergang an der Mauer gewünscht. Jetzt war es soweit. Es gab kein Geländer, an dem ich mich festhalten konnte, während ich die rutschigen Stufen hinunter stieg. Unten angekommen war ich stolz auf mich und berührte das für diese Jahreszeit ziemlich eiskalte Wasser. DONG – DONG – DONG -... Oh mein Gott, war ich zusammengezuckt. Die Kirchenglocke läutete ja immer zu Mitternacht. Ich Dummkopf. Bildete ich es mir gerade ein, oder fing es tatsächlich unter meiner Handfläche an der Wasseroberfläche zu blubbern an? „Was tust du hier?“, knurrte hinter mir eine Stimme. Das durfte doch wohl jetzt nicht wahr sein! Der finstere Typ stand direkt hinter mir und ich war bloß Zentimeter von dem eisigen, tiefen Wasser entfernt. Es war Mitternacht, stockdunkel. Er brauchte mir nur einen Schubs zu geben und ich wäre vor Starre im Meer ertrunken. Der Kerl hatte immer noch seine Kapuze über dem Gesicht hängen, das konnte ich im fahlen Mondlicht erkennen. „Mach das du von hier fortkommst, Freak“. Ich stolperte die Steintreppen empor, darauf bedacht, nicht rückwärts in seine Arme zu stürzen. Das wäre mein Ende, das spürte ich. Oben angekommen rannte ich geradenwegs auf die beleuchtete Straße zu, doch nicht ohne einen Blick zurück zu riskieren. Etwas Rotes erschien an der Wasseroberfläche. Der Kerl stand gebückt davor, zog die Kapuze nieder. Ich konnte nichts erkennen. Da drehte er den Kopf in meine Richtung und seine glühend feurigen Augen im gelb-bleichen Gesicht starrten mich tot an. Verschwinde von hier, ertönte in meinem Kopf. Ich rannte bloß wie um mein Leben, in der Hoffnung, endlich aus diesem Albtraum zu erwachen.

*                                                                                             

Der nächste Morgen in der Schule verlief ruhig. Der finstere Kerl war nicht erschienen -entschuldigt, dafür entdeckte ich auf meinem Sitzplatz ein Zettelchen. Große Pause, Besenkammer neben Raum 103, T. Alles klar. Dieser Zettel war eindeutig an mich gerichtet, es stand mein Name drauf. Aber ich konnte es nicht fassen. Wer war T.? Hoffentlich ein Mädchen. Eher unwahrscheinlich. Aber wir werden es ja dann sehen.

*

Raum 103. Rechts daneben das Jungenklo, link eine grünliche, verblichene Tür. Weit und breit kein Schüler oder Lehrer zu sehen. Ich nahm all meinen Mut beisammen und drückte die Klinge hinunter. Mühsam bewegte sich die Tür und ich betrat einen dunklen, nach Essigreiniger stinkenden Raum. Die Tür wurde zugeschlagen. Eine warme Hand legte sich auf meinen Mund und führte mich durch die Finsternis. Es lag keine Gewalt in der Bewegung, nur leise Ungeduld. Ein Eimer fiel bei meinem Schritt um. Die Person hinter mir stöhnte leise auf. Ein Mädchen. Wie schön. Der Griff ließ locker und plötzlich sah ich das von einer Taschenlampe beleuchtete Gesicht eines wunderschönen Mädchens. Des Mädchens auf dem Schulhof, die mit dem verzweifelten Lächeln im Gesicht. „Psst“, flüsterte sie. „Hör mir jetzt genau zu, Jared.“ Bevor ich etwas sagen konnte, legte sie mir die Hand auf den Mund. „Sei still. Du musst von hier verschwinden. Zusammen mit deiner Familie. Noch ist es nicht zu spät“ Sie schaute mir prüfend in die Augen. Ihre von hellgrüner Iris umrandete Pupille vergrößerte sich und fixierte mich. Ich empfand ein eigenartiges Gefühl. „Nein“, das Gefühl verschwand, „es ist noch nicht soweit. Du bist noch nicht betroffen“. Was redete die da eigentlich? Dachte sie ernsthaft, ich würde ein einziges Wort von all dem verstehen, was sie da so eindringlich mir zuflüsterte? „Vertrau mir, Jared, bitte. Tu einfach, was ich dir sage, bitte. Es ist zu deinem Besten“. Okay, jetzt verstand ich wirklich nur Bahnhof. Das war echt zu viel für mich. Zum ersten Mal spricht mich hier ein Mensch an, und dabei ein Mädchen, und meint, ich solle von hier zu meinem eigenen Besten verschwinden? Wie lächerlich. „Jared. Bitte. Tu es. Noch ist es nicht zu spät. Du kannst noch entfliehen. Nicht wie deine Mutter“. Was war das? Meine Mutter…war sie hier gefangen? Sie war tot. Eigenwillig umgekommen. Es klingelte zur nächsten Stunde. Sie zog mich und riss die Tür auf. Vor der Tür stand meine Englischlehrerin, die entsetzt dreinschaute, als das Mädchen mir einen Kuss auf den Mund drückte. Ich war viel überraschter. „So, so, Tethys. Hast dir sofort den Neuen geschnappt. Das bleibt unter uns.“ Sie lachte und zwinkerte uns beiden zu. Tethys presste ihre Lippen aufeinander und wagte kaum mich anzusehen. Jared. Bitte… Du kannst noch fliehen. Nicht wie deine Mutter. Ihre Worte hallten noch immer in meinem Kopf herum, als sie ohne einen Abschied davonrannte. Ich stand wie versteinert da, konnte das alles gar nicht fassen.

*

*

In dieser Nacht träumte ich das erste Mal von Tethys. Ihre blonde Haarpracht zog sich zum Boden nieder und ihr Gesicht strahlte Wärme und Freundlichkeit aus. Sie reichte mir ihre sanfte Hand und führte mich durch ein farbenfrohes Schloss. Schon im Traum wunderte ich mich, dass alles so klar und deutlich zu erkennen war. Nicht so verschwommen, wie in jenen

Träumen, in denen die Gesichter verborgen bleiben und nur die Bekannten zu erkennen sind. Wir bewegten uns gleichmäßig, im Takt mit der – Strömung? Du liebe Zeit, wir befanden uns tatsächlich unter Wasser und schwammen geradewegs an mir teils bekannten teils unbekannten Menschen. Tethys blieb vor einer vergoldeten Tür stehen. Sie öffnete sich leise doch würdevoll. Was ich dort zu sehen bekam, kann man nicht in Worte fassen. Alles glänzte und funkelte. Nicht so kitschig wie auf den Kindergeburtstagspartys von Klara. Nein, jeder Edelstein passte sich jedem Diamanten an, das Licht verteilte sich gleichmäßig und in wunderschönen Strahlen durch das Wasser, erstrahlte in allen Regenbogenfarben. Eine solche Vollkommenheit war einfach überwältigend. Doch nicht nur der prunkvolle Saal ließ mich in Stocken geraten, sondern die Frau, die inmitten des Raums auf einer Empore neben den regelmäßig verteilten Thronen saß. Ihr seidenes, schokoladenbraunes Haar wiegte sich mit der Strömung, ihre Augen strahlten Wehmut und Liebe aus. Es war meine Mutter. Ihr Unterkörper! Er war – der eines Fischs. Tja, das bestätigte bloß wiedermal meinen Traum. Tethys hielt immer noch meine Hand umschlossen, ihre Wärme erfüllte meinen gesamten Körper aus. Mutter streckte ihre Arme nach mir aus. Tiefe Traurigkeit verformte ihre liebevollen Gesichtszüge. Wie sehr ich sie doch vermisst hatte!

Plötzliche Kälte ließ mich zusammenschrecken. Schwarz wurde das Meer. Stickig. Luft. Luft. Ich brauchte Luft. Ich versuchte mich zu bewegen, ich hing immer noch an Tethys Hand. Jared, du musst fliehen. Die Finsternis näherte sich. Meine Kehle brannte wie Feuer. Luft. Wieso konnte ich plötzlich nicht mehr atmen?! Jared. Du bist zurückgekehrt. Komm, bleib noch ein Weilchen. Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Dieser Typ verdarb auch wirklich mein gesamtes Leben, er verfolgte mich sogar bis in meine Träume. Erebos stand auf seiner blassen Stirn tätowiert. Schwarz wie Ruß, mit dunklen, trostlosen Verzierungen. Seine grellen, roten Augen hielten mich gefangen, während die Welt um mich zusammenschrumpfte. Mum verschwand aus meinem Blickfeld. Ich sah nur noch die tiefgründigen, glühenden Augen von Erebos.

 Da ertönte die Titelmelodie von Spongebob: „Wer wohnt in der Ananas ganz tief im Meer…“

(Fortsetzung folgt)