Beschreibung
Die "andere" Geschichte, die bereits in einer Geschichte angekündigt wurde
Die andere Geschichte
Draußen wabert Nebel und verschluckt nach und nach die das Haus umrahmende Straße. Durchbrochen wird er einzig und allein durch den Regen, den sie jedoch kaum sieht, als mehr hört. Es ist wie ein Rauschen aus aufeinanderprallenden Meereswellen wenn die Tropfen gegen die Scheiben prallen. Sie sitzt auf der Heizung am Fenster und blickt hinaus, ohne irgendetwas erkennen zu können. Dann zerreißt der erste Blitz die Außenwelt und damit auch ihre Wahrnehmung von selbiger. War bislang insbesondere ihre vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen und Dingen etwas, dass ihre Persönlichkeit ausgemacht hatte, so konnte man nun aufrichtiges Interesse in ihren Augen vorfinden. Ihr Blick schweift zwischen den vom Wind gebogenen Bäumen zu den wenigen Autos, die sich noch darum bemühen eine sichere Zuflucht vor dem Wetter zu finden und dabei derart langsam fahren, dass man nebenher laufen könnte. Ihr Blick heftet sich auf einen kleinen roten Corsa, der unterhalb ihres Fensters einen Parkplatz sucht und wild blinkt, ohne sonderlich erfolgreich zu sein. Es amüsiert sie, dass dieses winzige Vehikel dennoch den Naturgewalten trotzt die um es herum toben. 'Ein wenig ist es wie ich.' denkt sie. 'Es ist in einer Welt in die es nicht gehört aber es besteht trotzdem.'
Das Telefon schellt und sie steht langsam auf, ihr linker Fuß knickt zur Seite, er war offensichtlich eingeschlafen und hat ihr Gewicht nicht tragen können. Fluchend schleppt sie sich weiter und hebt den Hörer ab nur um von einem Freizeichen begrüßt zu werden. Der Anrufer hat offensichtlich aufgelegt. Sie wirft das Telefon auf die Couch, wo es sofort wieder anfängt zu klingeln. Dieses Mal hebt sie rascher ab, meldet sich mit Namen – Auf der anderen Seite hört sie ein kehliges Lachen, dann wird erneut aufgelegt. 'Er schon wieder.' Sie schmunzelt, denn offensichtlich ist der noch immer der Meinung, dass sie nicht wüsste wer er ist. Aber sie weiß es und plant bereits seit einiger Zeit was geschehen soll, wenn sie sich eines Tages gegenüberstehen werden. Sie nimmt ihren Beobachterplatz auf der Heizung wieder ein, dieses Mal setzt sie sich jedoch so, dass ihr Fuß nicht abgeklemmt wird und das Blut frei zirkulieren kann. Der Abend zieht dahin, ohne dass sie sich bewegen oder irgendetwas seltsames geschehen würde.
Am nächsten Morgen führt sie der erste Weg ins Bad. Der Nebel ist zwischenzeitlich einer kaum wahrnehmbaren Sonnenstunde gewichen, abgeschirmt von einigen tiefhängenden Wolken, die die Temperatur deutlich nach unten zwingen. Sie putzt sich die Zähne, perfekte drei Minuten, ein Vorbild für jedes vom Zahnarzt gescholtene Kind. Anschließend spritzt sie sich kaltes Wasser ins Gesicht, geht in ihr Schlafzimmer und öffnet den Kleiderschrank. Sie lässt die Träger ihres Kleides von den Schultern rutschen und es fällt unbeachtet zu Boden. Anschließend wirft sie sich ein T-Shirt und eine Jeans über, greift die Handtasche die auf einem Bügel hängt. Mit eiligen Schritten verlässt sie das Haus, ein Blick auf ihre Armbanduhr die sie am rechten Handgelenk trägt bestätigt ihr, dass es Viertel vor 8 ist und sie damit bestens in der Zeit liegt. Beschwingt pfeift sie eine Melodie, die sie in ihrem Kopf hört, beinahe so, als hätte sie Kopfhörer in den Ohren, aber die Töne entspringen alleine ihren Ideen. Sie liebt es sich neue Lieder einfallen zu lassen und sie schätzt auch die Blicke der Passanten, die sie eventuell für verrückt halten. Aber das ist sie nicht, sie ist bloß anders als jene Menschen, die täglich ihrem Beruf nachgehen und Abends ihre Frauen schlagen und ihren Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen.
Als sie schließlich vor der grün-grauen Haustüre steht und ihren Blick über die Klingelschilder schweifen lässt, fragt sie sich, woran sie den richtigen Namen wohl erkennen soll. Er hat ihn ihr nie genannt und da er auch noch nie mit ihr gesprochen hat, kann sie nicht einschätzen ob er beispielsweise einen Akzent hat. Aber sie ist nicht dumm, sie hat die richtigen Fragen gestellt und so steht sie nun vor der Haustüre und wartet. Aus ihrer Handtasche zieht sie ein Foto, es zeigt einen jungen Mann, etwa 24 oder 25 Jahre alt, seine blonden Haare sind verstrubbelt und in seine blauen Augen blicken dem Betrachter spitzbübisch entgegen. Ein Teil des Bildes fehlt, deutlich erkennt man die Schnittspuren an der linken Seite wo offensichtlich vorher eine weitere Person abgebildet gewesen war, denn ein Stück ihrer Finger ist noch auf der übriggebliebenen Seite abgebildet. Sie atmet tief durch, verschluckt sich dabei und bekommt einen Hustenanfall. Als es ihr wieder besser geht drückt sie wahllos sämtliche Klingeln. Schließlich meldet sich eine Frauenstimme durch die Sprechanlage. Sie spricht nur sehr gebrochenes Deutsch und es ist einfach auf ihre Frage wer gerade geklingelt habe mit einem schlichten "die Post" zu antworten. Ein Summen ertönt und sie drückt gegen die Türe, die prompt nachgibt und ihr Zutritt in gewährt. 'Er ist jung, vermutlich hat er nicht soviel Geld.' Daraus schlussfolgert sie, dass er vermutlich weiter oben im Haus wohnen wird. Es ist nahezu immer so, dass die jungen Menschen weiter oben wohnen, für sie stellen Treppen noch kein unüberwindbares Hindernis dar. Sie geht zur ersten Wohnungstür und klopft an, eine perfekte Mischung aus Forderung und Frage vereint in einem Moment in dem die Fingerknöchel auf das Holz treffen. Es dauert eine kurze Weile ehe sich diese öffnet und eine alte Dame sie durch ihre dicken Brillengläser anblinzelt. "Kann ich Ihnen helfen?" "Ja, ich suche diesen jungen Mann." Sie zeigt ihr das Foto. "Ja, natürlich. Er hilft mir manchmal mit den Einkäufen. Ein sehr freundlicher junger Mann. Woher kennen Sie ihn?" Es ist immer wieder erstaunlich wie leicht es ist bei älteren Menschen Informationen zu bekommen. "Wissen Sie, das ist eine witzige Geschichte. Wir haben uns im Internet kennengelernt und uns geschrieben. Naja, er weiß nicht, dass ich hier bin, es soll eine Überraschung sein. Können Sie mir sagen ob er Zuhause ist?" "Naja, er studiert. Sie müssen einfach bloß nach ganz oben gehen und klopfen, er freut sich mit Sicherheit." "Vielen lieben Dank." "Ach Kindchen, gern geschehen. Und viel Spaß." Beim letzten Satz zwinkert sie ihr zu, dann schließt sie die Türe wieder. Sie geht die Treppen nach oben, ihr Herz pocht ihr nun beinahe bis zum Hals. Zumindest hat sie das Gefühl es dort zu spüren anstatt in ihrer linken Brust, wo es eigentlich schlagen sollte. "57, 58, 59" Flüsternd zählt sie die Stufen mit die es braucht um zu seiner Wohnung zu gelangen. "64" – erstaunlich wieviele Stufen in dieses kleine Haus passen. Dann ist sie endlich oben, die Hand bereits zur Faust geballt um an seine Türe zu klopfen. Es vergehen einige Sekunden, ehe sie endlich die Entschlossenheit aufbringt die es braucht. Beinahe als hätter er sie erwartet öffnet er die Türe. Um seine Hüften hat er ein Handtuch geschlungen, ansonsten ist er vollkommen nackt. Nicht ohne Bewunderung lässt sie ihren Blick über seinen trainierten Oberkörper schweifen. Die Hände hat er hinter dem Rücken verschränkt. "Kann ich Ihnen helfen?" Seine Stimme klingt genau so, wie sie sie sich vorgestellt hat. "Äh ja, ich glaube dass sie bei mir angerufen haben." Innerlich bemerkt sie wütend, dass ihre Stimme leicht gezittert hat bei ihrer Antwort. "Das kann schon sein." Sein schiefes Grinsen sieht beinahe so aus, als würde er schmollen. "Ich will wissen warum." "Weil es mir gefallen hat. Einen anderen Grund gab es nicht. Willst du reinkommen?" Warum er vom sie zum du gewechselt hat weiß sie nicht, aber es ist eigentlich auch nicht von Bedeutung. "Ja, das würde ich gerne." Er schiebt mit dem Fuß die Türe weiter auf, es wundert sie, dass er die Hände auch weiter hinter dem Rücken hält. 'Vielleicht hält er dort das Handtuch fest.' überlegt sie als sie die Wohnung betritt. Zielstrebig durchquert sie den Flur und steht in seinem Wohnzimmer. Es ist geschmackvoll eingerichtet, aber für ihren Geschmack zu puristisch. Eine Couch, eine Glasvitrine mit ein paar dekorativen Schalen darauf, ein schmaler Designertisch auf dem ein paar Kunstblumen stehen. Seltsam, die Blumen wollen nicht so recht zum Rest der Wohnung passen. "Möchtest du dich setzen? Soll ich dir einen Kakao bringen? Oder Tee oder Kaffee?" "Kakao wäre prima." Sie nimmt auf der Couch platz die sich seltsam kalt anfühlt.
64 Stufen sind es bis in die unteren Etage. Er hat der alten Dame die Blumen mitgebracht, die kurz zuvor noch auf seinem Couchtisch gestanden haben und eine Schachtel Pralinen. "Sie war sehr leise dieses Mal." Sie lächelt ihn an. "Danke für die Geschenke." "Ja, sie hat kaum geschrieen. Als ob sie es gewusst hätte." "Hast du schonmal daran gedacht aufzuhören?" "Ja, aber ich kann nicht."
Ihre braunen Locken streifen sacht über den Boden, als sich der Wind der durch das angelehnte Fenster hereinweht in ihnen verfängt. Die Zungenspitze liegt neckisch auf ihrer Unterlippe, wenn ihre Nerven noch funktionieren würden könnte sie den Geschmack des Kirschlipgloss wahrnehmen den sie am Morgen aufgetragen hat. Ihr pinkfarbenes Top ist nach oben gerutscht, gerade weit genug um zu zeigen, dass ihre Brüste langsam zu wachsen begonnen hatten. Blutflecken zieren die am Morgen noch frisch angezogene Kleidung. Der Schnitt über ihrer Kehle ist dünn, beinahe so, als seie er ein Versehen und nicht das Ergebnis eines fest zugezogenen scharfen Drahtes.