Kurzgeschichte
Ehrlich währt am längsten

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"Ehrlich währt am längsten"
Veröffentlicht am 19. Oktober 2010, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Ehrlich währt am längsten

Ehrlich währt am längsten

Acht Uhr in der Früh, an einem verregneten Montagmorgen.
    »Guten Morgen, Frau Steinmann«, begrüßte ich meine Arbeitsvermittlerin, als ich ihr kleines Büro nach einer Wartezeit von zehn oder fünfzehn Minuten betrat.
    »Morgen Herr Meintke«, konterte die etwas gestresst wirkende Dame Mitte vierzig, ohne ihren Blick aus den vor ihr liegenden Unterlagen zu erheben. »Es tut mir leid, dass ich keinen späteren Termin für Sie frei hatte. Ich hoffe, Sie haben gut hierher gefunden.« Erst jetzt suchte sie den direkten Augenkontakt und legte ein unnatürlich wirkendes Lächeln auf.
    »Ach was, ich stehe ja jeden Morgen um sechs Uhr auf. Bin zwar etwas durchnässt, aber was einen nicht umbringt...«
    »So sehe ich das auch«, erwiderte Fräulein Steinmann. In der Ecke hinter der Tür stand ihr Regenschirm, noch feucht. »Gibt es denn gute Nachrichten zu vermelden, Herr Meintke?«
    »Allerdings, ja. Ich habe endlich eine Arbeitsstelle gefunden, nach einem Jahr der ergebnislosen Suche. Ist zwar nur ein befristeter Job bei einer Zeitarbeitsfirma, aber immerhin.«
    »Glückwunsch. Das wurde aber auch Zeit. Schließlich ist das Ihr letzter Monat, in dem Sie noch Leistungen beziehen können. Ab Dezember...«
    »...säße ich sonst mit leeren Händen auf der Straße, ich weiß«, fiel ich ihr ins Wort. »So verdiene ich jetzt immerhin 900 Euro im Monat. Und muss dafür nur fast neun Stunden arbeiten, sechs Tage die Woche.«
    »Na sehen Sie, geht doch. Ist es denn weit von Ihrem Wohnort entfernt?« Sie bekam ihr aufgesetztes Grinsen nicht mehr aus ihrem Gesicht.
    »Es geht. Eine halbe Stunde Fahrt. Wenn besonders viel Verkehr ist, muss ich noch mal gute 20 Minuten dazurechnen.«
    »Super. Dann bin ich ja froh, dass wir Ihnen dann am Ende doch noch helfen konnten. Bevor Sie aber nun wieder gehen, habe ich noch eine Bitte«, und lag mir einen Hefter mit massenhaft kopierten Fragebögen vor die Nase. »Die Agentur für Arbeit versucht natürlich kontinuierlich ihren Service zu verbessern. Daher ist uns die Meinung unserer Kunden - vor allem unserer erfolgreich vermittelten Kunden - sehr wichtig. Ich bitte Sie dieses kurze Fragenformular auszufüllen. Wahrheitsgemäß natürlich, sonst bringt das alles nichts.«
    Nickend nahm ich auch diese Hürde und machte mich an die Arbeit. Nach fünf Minuten Schreibarbeit war ich fertig und übergab das Ergebnis.
    »Dann wollen wir doch mal sehen.« Frau Steinmann überflog den Bogen und las einige Zeilen laut vor.
    »Wie zufrieden waren Sie mit Ihrer persönlichen Betreuung durch Ihre/n Arbeitsvermittler/in? - Sehr, sehr, sehr zufrieden. Ich kann Ihnen nicht genug für Ihren Arbeitseifer danken. Dass Sie sich alle zwei Monate zehn Minuten Zeit für mich genommen haben, werde ich Ihnen niemals vergessen. Nur dank Ihrer netten, zuvorkommenden, kompetenten Art habe ich heute meinen Traumjob gefunden.«
    Freudestrahlend schaute sie mich an. Ein leichter Hauch von Verlegenheit lag in der Luft. Als wolle sie sagen »Keine Ursache, ist doch mein Job«, und sich dabei selbst auf die Schulter klopfen. »Das ist sehr nett, vielen Dank.«
    »Gerne. War es das?«
    »Jawohl, wir hätten dann alles. Sie dürfen gehen. Ich wünsche Ihnen dann viel Freude bei Ihrem neuen Job.«
    Ich rutschte mit dem unbequemen Stuhl ein Stück zurück, erhob mich und schloss den Reißverschluss meiner Jacke, als die aufmerksame Dame ein gefaltetes Papier auf dem Tisch liegen sah.
    »Was ist das?«, fragte sie verdutzt.
    Meine Augen folgten ihrem ausgestreckten Zeigefinger, der wiederum auf das Stück Papier deutete. »Oh, das. Ja. Beim Ausfüllen Ihres äußerst lächerlichen Fragebogens habe ich ein schlechtes Gewissen bekommen. Ich hatte dummerweise erst alle Fragen ehrlich beantwortet. Da ich aber gut erzogen wurde und Ihre kunterbunte Traumwelt nicht erschüttern wollte, habe ich mir ein paar nette Worte aus den Fingern gesogen.« Ich schob ihr das gefaltete Stück Papier zu. »Tun Sie sich einen Gefallen und schmeißen Sie es weg.«
    Das aufgesetzte Lächeln verschwand urplötzlich auf dem Antlitz der erfahrenen Dame.
    »Auf nimmer Wiedersehen«, waren meine letzten Worte, als ich das kleine Büro wieder verließ und die Tür hinter mir schloss. Und ich sollte Recht behalten.

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Winston

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Quatscha +++++ - Jo, nette Umschreibung einer überaus kompetenten Spezies aus der Arbeitswelt, die sich zu 90% fälschlicherweise auch noch dieser zugehörig fühlen, lol.
Bis denne
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