die rosendose
Elvira lebt schon mehr als zehn Jahre im Haus ihrer verstorbenen Tante. Nun hat sie sich entschlossen, den Speicher und Keller zu entrümpeln und alles Unbrauchbare weg zu werfen. Die anderen Sachen will sie bei der nächsten Gelegenheit auf dem Flohmarkt verkaufen. Bei den Flohmarktartikeln befindet sich auch eine winzige Dose aus sehr hartem Holz, deren Deckel eine Rosenblüte darstellt. Sie lag in einer Schublade des alten Sekretärs, den heute noch in der Früh ein Kunsthändler abholen will.
Als der Mann endlich da ist und das Möbel
besichtigt, wird er plötzlich nervös und beginnt, jeden Winkel des Sekretärs aufs Genaueste zu inspizieren. Schließlich fragt Elvira, ob sie ihm helfen kann. Doch der Mann verneint und wirkt augenblicklich sehr verschlossen.
Nach längerem hin und her und bei einer Tasse Kaffee spricht er endlich darüber, dass er das Möbel nur kaufen wird, wenn ihm Elvira auch den Rest überlässt. Als sich Elvira nach dem "Rest" erkundigt, beginnt der Mann schließlich folgende Geschichte zu erzählen:
„Ich bin häufig bei meiner Großmutter gewesen. Durch sie hat sich mein späterer Berufswunsch des Kunsttischlers und mein Interesse an besonderen Möbelstücken
entwickelt. Heute arbeite ich auch als Kunsthändler. Meine Großmutter besaß einen Sekretär, den sie stets verschlossen hielt und dem wir Kinder uns nicht einmal nähern durften. Ihr erster Ehemann Serafim hatte ihn von einer seiner vielen Reisen ins Ausland mit gebracht. Natürlich wollten wir Kinder immer wissen, was es mit dem Möbel auf sich hatte, doch Großmutter schwieg beharrlich.“
Bei diesen Worten betrachtet der am Kauf interessierte Mann Elvira so aufmerksam, dass es ihr auffällt. Auch sie betrachtet ihn jetzt genauer und ist verwirrt wegen der Entdeckung, die sie eben gemacht hat. Der Mann nimmt gerade seinen Bericht wieder auf:
„Als meine Großmutter starb, war der Sekretär nicht mehr vorhanden. Ich hatte damals meine Lehre schon abgeschlossen und war auch einige Jahre in der Welt herum gereist, arbeitete hier und dort und hatte viel Berufserfahrung gesammelt. In jener Zeit begannen mich diese seltsamen Träume heim zu suchen. Sie fingen immer damit an, dass ich mich im Hause meiner Großmutter befand und endlich den Sekretär bewundern und seine vielen Fächer und Schubladen untersuchen durfte. In der hintersten Ecke einer gut versteckten Schublade fand ich dann ein aus besonders hartem Holz geschnitztes Döschen, dessen Deckel einer Rosenblüte nachempfunden war. Natürlich war ich neugierig, konnte es aber nicht
öffnen. Nach jedem Traum wurde mein Wunsch stärker, dieses Döschen zu finden und sein Geheimnis zu lüften. Wie aber findet man einen solchen Gegenstand? Zunächst zeichnete ich es sorgfältig.“
Er legt eine Zeichnung auf den Tisch und Elvira erschrickt. Das Döschen! Ihre Regung ist ihm nicht entgangen, doch er erzählt ruhig weiter:
„Soll man solche Träume ernst nehmen oder sie für Aberglauben halten? Ich wusste es nicht. Schließlich kamen die Träume häufiger und irgend wann einmal konnte ich das Haus erkennen, in dem ich das Döschen zum ersten Mal gesehen hatte. Doch es war nicht das Haus, in dem meine Großmutter gelebt hatte, sondern es war genau dieses Haus, in
welchem wir uns jetzt befinden. Ich habe es meinen Träumen entsprechend aufgezeichnet.“
Bei diesen Worten zieht der Mann wirklich ein neues Papier aus der Brieftasche, auf dem dieses Haus – das Haus ihrer Tante – aufgezeichnet ist. Er erzählt weiter:
„Nun musste ich nur noch die Stadt finden. Sobald ich etwas Zeit hatte, begann ich meine Heimat zu erkunden, doch nichts. Meine Träume kehrten zurück. Heftiger wurde mein Wunsch. Nun änderten sich meine Träume. Ich fand mich immer wieder beim Zeitunglesen und zwar die Verkaufsanzeigen von alten Möbeln. Und den Rest kennen sie ja.“
Elvira hatte wirklich in der überregionalen
Zeitung inseriert, dass der alte Sekretär zum Verkauf stand. Sogar ein Foto hatte sie beigefügt. Dann der Telefonanruf. Es ist aber der Einzigste, den sie überhaupt erhält. Und nun diese verrückte Geschichte.
Dann holt der Mann noch ein paar Zettel aus der Tasche und legt sie vor Elvira auf den Tisch. Es sind Skizzen von der Aufteilung des Möbels und seiner vielen Schubladen und sogar eines Geheimfaches, welches sie nicht einmal entdeckt hat. Beide gehen noch einmal zum Sekretär. Elvira öffnet ihn und ist überrascht. Der Mann findet vor ihren Augen das Geheimfach, öffnet es und es ist nicht einmal leer. Elvira spürt instinktiv, dass der Mann der wahre Eigentümer des Möbels sein muss.
Sie nehmen das Schreiben heraus, das in dem Fach liegt. Es ist dicht beschrieben in einer Schrift und Sprache, die beide nicht entziffern können. Am Ende des Textes aber befindet sich ein Siegel, das genau dem Deckel von Elviras Döschen entspricht.
Wieder schauen sich beide an, diesmal noch prüfender als zuvor. Der Mann zittert am ganzen Leib, Elvira ist total verwirrt und zugleich verunsichert über das, was sie glaubt gesehen zu haben. Was nun? Dann gibt sie sich doch einen Ruck und holt das Döschen. Aber es lässt sich nicht öffnen. Bei genauer Betrachtung sieht man jedoch im Herz der Rosenblüte ein winziges Loch, dem sicher eine bestimmte Bedeutung inne wohnt.
Elvira und der Mann beschließen, dass sie
nun gemeinsam das Geheimnis lüften wollen, zumal der Kunsthändler mittlerweile erkannt hat, dass das Döschen auf dem Boden auch einen Schriftzug aufweist, der dem auf dem Zettel ähnelt. Er glaubt, dass es sich um arabische Schriftzeichen handelt.
Elvira, gut bekannt in der Stadt, schlägt vor, zu Ibrahim Sarafsani zu gehen. Er ist Goldschmied und kommt ihres Wissens aus einem Land, in dem jeder auch Arabisch lesen und schreiben lernt.
Elvira, das Döschen umklammernd, der Mann mit dem Zettel in der Hand, so stehen sie in Ibrahims Laden. Der sagt, er habe sie schon erwartet. Elvira und der Mann schauen sich höchst erstaunt an. Ibrahim bietet ihnen süßen Tee an und während man ein wenig
plaudert, betrachtet Ibrahim aufmerksam die Gesichter seiner Besucher. Als sich die erste Anspannung gelegt hat, fragt Ibrahim nach dem Döschen und dem Zettel. Höchst erstaunte Blicke von Elvira und dem Kunsthändler. Dann legen sie ihre Kostbarkeiten doch auf den Tisch. Sogleich fragen beide nach, woher Ibrahim das alles weiß. Der aber lächelt nur und meint: „Allahs Wege sind unergründlich, aber Familienähnlichkeit und Träume können doch viel erklären.“
Wieder schaut Elvira den beiden Männern überrascht ins Gesicht. Dann plötzlich weiß sie, was sie gesehen hat und auch jetzt wieder sieht: Augen und Nase ihrer Tante finden sich beim Kunsthändler als auch bei
Ibrahim. Es ist noch leichter zu erkennen, als Ibrahim ein Foto zeigt, das ihn ohne Bart darstellt. Schließlich entdecken sie bei genauem Hinsehen immer wieder und mehr Ähnlichkeiten untereinander und mit ihren Vorfahren.
Nun nimmt Ibrahim das Döschen, holt eine Nadel und sagt:
„In dem Kästchen liegt ein kostbarer Ring. Er besteht aus Silber und trägt einen großen grünen Edelstein. An seiner Innenseite ist arabisch eingraviert: "In ewiger Liebe Sefi". Das hat mir meine Mutter oft erzählt. Und sie sang mir immer wieder das Lieblingslied meiner Großmutter vor, das diese beim Betrachten des Ringes sang. Es ist ein arabisches Liebeslied und sie hat den Text für
ihren Geliebten aufschreiben lassen und mit der Rose gesiegelt. Und Sefi ist die Koseform von Serafim. So hieß der fremde Geliebte meiner Großmutter. Das ist auch das Zeichen auf dem Dosenboden. Mit einer Nadel öffnet er geschickt das Rosendöschen. Und wirklich liegt hier der Ring wie beschrieben und in seinem inneren Rand die Gravur sagt alles.
Es gibt viel zu erzählen über Familien und Vorfahren. Bald finden sie heraus, dass Elviras Tante die Schwester von Serafim war, dem ersten Ehemann von der Großmutter des Kunsthändlers. Dieser erste Ehemann war also der Großvater Ibrahims. Seine Großmutter wurde wegen des Alters ihres Ehemannes zu früh Witwe, aber da war sie
schon schwanger von Sefi. Niemand wusste von ihrem Fehltritt und so war es auch keine Schande.
Und der Sekretär, die Rosendose und der Text des Liebesliedes hatten viele Irrfahrten machen müssen, um eine Familie zusammen zu bringen.
©HeiO 09-2010