Das 22. Jahrhundert. Die Welt ist in vier Machtsektoren aufgeteilt. Die Isolated Scientific Union of African Capitals (kurz: ISAAC) ist "Erzeuger" einer neuen menschlichen Lebensform. Den Highly-Advanced Triplex Embryon (kurz: H.A.T.E). Sie eignen sich dafür, den Brennstoff auf einem neuen Kontinent abzubauen. Abgeschottet von jeglichem Kontakt zur Außenwelt leben die H:A.T.E in einem Netz aus Lügen und Unterdrückung. Doch eine Lüge hält nicht ewig.
§1 Kein menschliches Leben hat den gleichen Wert.
»Name? «
»Lord Kalvin von Campbell «
»Entschuldigt Mylord, ich wusste nicht dass- «
»Schon gut. Lassen Sie diesen Unterwerfungsquatsch. Ich will hier einfach nur durch. «
»Jawohl, Mylord. Einen schönen Aufenthalt in Distrikt 9 «
»Name? «
»Marquis le Cuvier «
»Was eine Überraschung. Ich hatte Sie mir immer etwas exquisiter vorgestellt. «
»Und ich mir Distrikt 6 immer etwas sauberer. Beide Erwartungen wurden leider nicht erfüllt, also lassen Sie mich durch! «
»Wie Sie wünschen – Mylord «
»Name? «
»Baron Siegfried von Hohenheim. «
»Ah, ich hatte Sie schon erwartet. Männer, festnehmen! «
»Was!? Aber, nein lassen sie mich los. Verdammt, so knapp vor dem Ziel…«
§2 Die grundlegenden Rechte gelten nur in relativer Art zum Wert eines Menschen.
»Ethlin? «
Die Stimme ihrer Mutter versetze Ethlin einen Stich der Enttäuschung. Schon wieder war ein weiterer Tag vergangen. Schon wieder versank die Sonne am Rande der Erde, nur um am morgigen Tag wieder auf der anderen Seite aufzutauchen.
Wenn es soweit war, würde die Welt, die jetzt in einen roten Schimmer eingetaucht, wieder in vollem Glanz erstrahlen. Die leichte Brise, die eine Ahnung von Meer mit sich brachte würde ihre Haut umstreicheln. Dann würde sie wieder die Ebene hindurch hinunter zum Fluss laufen. Der Morgentau würde sie leicht an den Füßen kitzeln und ersten Sonnenstrahlen würden in ihren noch müden Augen leicht brennen, bevor sie ihre Haut sanft wärmten.
»Ethlin? Du bist ja noch hier…«
Tag ein, Tag aus würde Ethlin hier sitzen. Sie würde diese Prozedur immer wieder von neuem beginnen. Jeden Tag.
»Komm mit. Du hast für heute genug gearbeitet. «
Jeden Tag, solange sie lebte, würde Ethlin an diesem Fluss sitzen und ihr Tagewerk verrichten. Genau so, wie sie es von den Göttern auferlegt bekommen hatte.
Das Haus von Ethlins Familie war eine kleine Holzhütte. Zwar keine Unterkunft, in der es angenehm war mit einer größeren Anzahl an anderen Leuten zu leben, aber eine, die genügend Schutz zum Schlafen und eine gemütliche Atmosphäre beim Essen bot.
Es wäre ohnehin nicht nötig gewesen, das Haus zu vergrößern. Der Großteil der Familie war von Morgens bis Abends mit der Arbeit beschäftigt und sollte man einmal freigestellt sein, so wollte man seine Freizeit lieber mit dem Genuss der freien Natur verbringen, als eingesperrt zu sein.
Außerdem war Ethlins Familie eine angenehme Partie von Personen. Ihre Mutter und ihr Vater waren sehr ruhige Menschen, die mit gezielter strengen ihre Kinder unter Kontrolle hatten. Ethlins sechs Geschwister waren alle älter als sie selbst, sodass es keine unter ihnen gab, die noch das Instrument des Kindergeschreis benötigten, um sich aufmerksam zu machen.
Von den Großeltern war niemand mehr übrig geblieben.
»Kinder, kommt doch bitte alle an den Tisch, sonst ist das Essen wieder kalt, bevor ich euch alle beisammen habe. «
»Ja, Mutter «, rief Ethlin gemeinsam mit ihren Geschwistern in einem Chor, so wie sie es immer taten.
Und so wie ihre Mutter es immer tat, hatte sie aus dem Wenigen, was die Familie besaß, ein wunderbares Essen gezaubert.
Alles in allem konnte Ethlin, so dachte sie zu jener Zeit, sich glücklich schätzen.
Jeder aus ihrer Familie hatte Arbeit, konnte ernährt werden und war gesund. Mehr brauchte man nicht zum Leben.
So war es gut. So soll es immer bleiben, dachte Ethlin, als sie einen Löffel der heißen Suppe nahm.
§3 Die Formen des rechtlich angesehen Lebens werden in dem von der Charta definierten Drei-Stufen-System dargelegt und auf jeden Menschen angewandt.
»Letzte Meldung. Zum 50. Jubiläum der American British Federation lädt das Königshaus die vier Häuser Europas und die gesamte Noble-Schicht der Nation zu einem riesigen Bankett ein. 50 Jahre nach Kriegsende- «
»Das ist doch echt zum kotzen, oder was hältst du davon «
»Ich finde es zu allererst einmal zum Kotzen, dass du einfach bestimmt, wann du meinen Fernseher an und ausschaltest, Nick! «, Jenna funkelte ihn böse an.
»Warum interessiert es dich eigentlich, wo oder wie die Oberschicht sich die Futterlucke voll haut? «
»Weil«, dabei stieß sie Nick die Fernbedienung aus der Hand und schaltete diesen erneut ein, »Es romantisch ist. Die Noble Feste besitzen doch immer einen besonderen Charme. «
»Nach Aussagen des Prinzen Leonard, sollen weiterhin Botschafter aus den drei weiteren Nationen an diesem Tag- «
» Du meinst, zu viel Gold auf zu engem Raum? «
Jenna schlug Nick gegen den Hinterkopf.
»Jungs, wie du, verstehen das natürlich nicht. «
Jenna stand auf und blickte verträumt in die Leere. Dabei beachtete sie Nicks gelangweiltes Seufzen nicht. Wie immer erkannte er das besondere Etwas nicht. Aber so kannte sie ihren Bruder. Er war kindisch und unreif. Kein Mann von Welt. Deshalb war es kein Wunder, dass er mit 19 noch nicht eine einzige Freundin gehabt hatte. Wer mehr Wert auf seinen Körper, als auf sein Köpfchen legte, hatte im 22 Jahrhundert einfach keine Erfolgschancen.
»Ich meine natürlich, die Kleider, den Schmuck, die Tänze, das Essen. Alles einfach. Ach, es wäre so traumhaft, wenn ich nur einmal auf diesen Festen mit dabei sein könnte. «
Betrüb ließ sich Jenna wieder auf ihr Bett sinken und starrte an die Decke. Nicht einer aus ihrer Familie hatte jemals Kontakt mit einem der Noble gehabt. Es wäre ihr also unmöglich gewesen überhaupt den Hauch einer Chance auf eine Einladung zu bekommen und doch blieb der letzte Funken Hoffnung stets wie ein heller Stern in ihrem Inneren. Leider wurde er seit Einzug ihres Bruders andauernd ausgetreten, wie ein kleines Waldfeuer.
Sie mochte ihren Bruder, das hätte Jenna niemals geleugnet. Allerdings war ihr Bruder ein strenger Realist und Feind des Klassensystems. Was für Jenna unbegreifbar war, da er ja noch zur angesehenen Mittelschicht, den Citizen, gehörte. Wäre er ein Underground gewesen, hätte sie Nicks Hass gegenüber den Noble verstanden, aber als Citizen war man der Oberschicht nur im finanziellen Sinne unterlegen.
»Kann es sein Nick, dass du einfach nur neidisch bist? «
»Worauf? Das ich nicht so tanzen darf, als hätte ich einen Baumstamm im - «
»Jetzt noch eine Eilmeldung!«
Sowohl Nick als auch Jenna drehten sich abrupt um.
»Mach doch mal lauter!«
»Vor wenigen Minuten kam es auf der Landenge zwischen Nord- und Südamerika zu einem Anschlag der in Südamerika stationierten Rebellengruppierungen. Zwar konnten keine Gefangen zu diesem Vorfall befragt werden, der Anschlag wurde aber ohne größere Verluste auf unser Seite abgewehrt. Als Verantwortliche wird die Rebellin Atama Chlan angegeben, auf die bereits mit 16 Jahren ein Kopfgeld von mehr als fünfhunderttausend Dollar ausgesetzt worden ist. Experten beurteilen - «
Jenna stieß mit ihrem rechten Fuß die Schulter ihres Bruders an.
»Na komm, sag´s schon. «
»Was denn? «, flötete er verspielt.
»Sie ist doch in jeder Hinsicht dein Fall. «
§4 System niedrigere Stände haben sich den im System höheren Ständen in Recht und Würde zu unterwerfen.
Die Ketten um sein Handgelenk schienen Lyon’s Durchblutung nicht gerade zu fördern. Im Gegenteil stellte sich mittlerweile ein leichtes Taubheitsgefühl in seiner linken Hand ein. Diese ganze Situation war einfach nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.
Er seufzte leise, weil nach seinem letzten lauten Aufstöhnen die Wachen ihn fast ohnmächtig geschlagen hätten, und ließ den Kopf hängen.
Diese ganze Prozedur wäre um einiges angenehmer, wenn wir uns schneller bewegen würden, ärgerte sich Lyon. Stattdessen musste er, einem breitschultrigen Mann mit kurz geschorenem Haar und leichtem Bartfuchs folgen. Das Schwert, das seinen Gurt zierte, schien aus keinem sehr stabilen Metall zu sein, sodass Lyon überlegte, ob es überhaupt Etwas schneiden konnte.
Lyon folgend bildete ein schmächtiger junger Mann mit hellblauen Augen und wenig fester Bekleidung das Schlusslicht des Trios.
Zusammen glichen sie eher einem Männerausflug in die Berge, wären da nicht das Klirren der Ketten gewesen, die Lyon daran hindern sollten, zu fliehen.
Schritt für Schritt führte die Wache ihn nun schon seit geschätzten zwanzig Minuten durch den zweiten Distrikt. Zu Beginn hatte Lyon noch Interesse gezeigt, als die hochgewachsenen Fachwerkhäuser und das durchdacht angelegte Grün den Distrikt in prächtigen Farben schmückte, mittlerweile hatte sich das Staunen aber in Überdruss verwandelt.
»Ich störe unsere gemeinsame Seelenruhe ja nur ungern, aber mir ist langweilig. Könnten wir nicht ein Wanderlied singen, oder was ihr Krieger immer auf euren Märschen macht? «
Lyon fing sich für diese Frage nur einen Schlag mit einem Holzstock auf den Hinterkopf, ausgehend vom schmächtigeren Jungen, ein und ein brummiges Geräuschen vom großen Krieger.
»Also keinen Humor, verstehe «, erwiderte Lyon und zog eine Grimasse.
Ihm war klar, dass man diese ganze Prozedur mit ihm nur durchführte, um ihn an den sprichwörtlichen Schandpfahl zu stellen, nur leider waren zu dieser Zeit alle Bewohner der Distrikte bei ihrer Arbeit, sodass die Lebensbereiche der Distrikte so gut wie leer waren.
Er war immer noch ziemlich darüber verärgert, dass sein eigentliches Vorhaben nicht geklappt hatte. Wenn man bedenkt, wie primitiv die Bewachung der einzelnen Distrikte in technischer Hinsicht war, war es bemerkenswert, wie unglaublich genau es das Personal hier nahm.
Für seine neuen Forschungen hatte er sich vorgenommen die Bevölkerung von New-Atlantica zu beobachten und deren Verhalten zu studieren. So zumindest sollte sein offizieller Bericht lauten. In Wahrheit war er allerdings hinter etwas viel Größerem her, etwas, dass für die meisten Menschen etwas nicht Fassbares war. Etwas, das die Bewohner dieses neuen Kontinentes Götter nannten.
Er hatte sich also vor einer Woche von der Provinz Spanien eine Mannschaft gesucht, die ihn gegen ein kleines Entgelt zu den Häfen einer der äußeren Distrikte fuhr und hielt sich für die ersten Tage dort auf.
Da der äußere Ring des ovalförmigen Kontinents eher verarmt und rückständig lebte, war auch die Arbeitsmoral der Wachen eher gering. Von den sechs äußeren Distrikten, Vierzehn bis neun, war eben Distrikt neun am vorteilhaftesten, da es direkt der Provinz Spanien gegenüber lag. Lyon hatte es für Zeitverschwendung gehalten, die halbe Insel zu umfahren, nur um mögliche Verfolge zu verwirren. Niemand würde ihn verfolgen und selbst wenn, hätte dies nur den Spaßfaktor erhöht.
Nachdem er glaubte genug Aufzeichnungen angefertigt zu haben, um später behaupten zu können, sich wirklich intensiv mit der Bevölkerung beschäftigt zu haben, entschied er sich in den inneren Ring einzuwandern.
Distrikte acht bis sechs ähnelten eher bürgerlichen Vierteln mit Unmengen an kleinen Geschäften, die einen Hauch von Altertum boten.
Lyon hatte es nicht wirklich schwer gehabt die Grenzen zu passieren, da die Patrouillen vor adligen Namen einen enormen Respekt hatten.
Seine Taktik ging leider nicht mehr auf, als er in den adligen Ring der nächsten vier Distrikte eindringen wollte. Anscheinend schien man hier sehr wohl darauf zu achten, wer raus und wer rein kam und genau dieser Umstand wurde Lyon le Cuvier zum Verhängnis und hatte ihn in seine momentane Lage gebracht.
Während Lyon über die kürzlichen Geschehnisse nachdachte, hätte er fast nicht bemerkt, dass sein Führer stehen geblieben war, sodass es fast zu einer unangenehmen Konfrontation gekommen wäre.
Hierbei wäre es hauptsächlich für mich unangenehm geworden, überlegte Lyon, als er den Körpergeruch des kräftigen Mannes wahrnehmen konnte.
»Halte ab jetzt deinen Mund! Wir betreten in Kürze -«
»Na ist das denn wahr? Ihr habt mich tatsächlich in die Stadt der Götter geschleppt! «
§5 Im Falle eines Rechtsstreits fällt das Urteil begünstigend für die rechtsstärkere Partei aus.
»Bald wird die Sonne wieder untergehen «, murmelte Ethlin vor sich hin, während sie das Sieb ein weiteres Mal durch das klare Wasser schwenkte. Kleine Tropfen sprengten ihr ins Gesicht und kitzelten sie an der Wange, was sie dazu verleitete, das Gesicht leicht zu verzerren.
Die Person, die ihr am nächsten Stand, Darnia, war ihr Name, kicherte leise.
»Das du immer so traurig wirst, wenn ein Tag zu Ende geht «, sagte Darnia.
Ethlin funkelte sie böse an. Es war nun einmal ihre Art den Tag in seinen vollen Zügen zu leben. Und wenn das jemand nicht tat, so war es seine eigene Schuld, wenn das Leben zu abrupt endete.
»Ich weiß halt auch die kleinen Dinge zu schätzen «, provozierte Ethlin ihre Freundin.
Darnia war in etwa ihrem Alter. Sie hatte langes rotes Haar und sehr blasse Haut, obwohl sie, wie Ethlin auch, täglich in der Sonne arbeitete. Beide kannten sich durch ihre Mütter, die ebenfalls gut befreundet waren und sich ab und an zu einer Tasse Kräutertee verabredeten, wenn der Tag es zuließ.
»Ich tadle dich ja nicht. Mir soll’s ja recht sein. Oh sieh mal, ich glaube, du hast da was! «
Ethlin sah verwundert auf ihr Sieb. Während sie so über Darnia nachgedacht hatte, hatte sie gar nicht mitbekommen, wie sich die letzten Schmutzreste aus ihrem Sieb gelöst hatten und nun einen goldroten Staub und einige kleine Steinchen in derselben Farbe freigaben.
Ethlins Herz schlug ein wenig schneller.
»Glückwunsch, hatten ja schon lange keine Erfolge mehr! «
Ethlin überhörte vor innere Freude die Glückwünsche ihrer Freundin und wusste zuerst nicht richtig zu handeln.
Das, was sie dort in ihrem Sieb hielt, war kein einfacher Edelsteinrest oder irgendein Metall. Es war etwas viel Kostbareres.
»Ethlin? Willst du dir nicht deine Belohnung von einem Wächter holen? «
Ethlin sah zu ihrer Freundin auf, die sie nun fragend anstarrte.
»Ich meine, wenn du nicht willst… Es gäbe da schon die ein oder anderen Dinge, die ich mir mal wieder leisten könnte…«
Ethlin war zu aufgeregt, um auf die schnippische Antwort ihrer Freundin zu reagieren. Schnell eilte sie los, dabei das Sieb fest umklammert, auf der Suche nach einem Wächter.
Nicht stolpern, ganz ruhig, mahnte sie sich.
Es wäre zu schade gewesen, jetzt ihren Fund zu verlieren oder durch einen Windstoß davon fliegen zu sehen. Sie verlangsamte also ihr Tempo und sah sich noch einmal in Ruhe um. Kein Wächter zu sehen.
So stand sie nun hilflos auf der Erhebung vor dem Fluss und sah sich außerstande etwas zu tun. Noch nie hatte sie etwas gefunden. Für gewöhnlich dachte sie, das würde nur anderen passieren. Doch jetzt war sie selbst in der Situation.
Ihre Gedanken überwarfen sich. Wie viel Geld würde sie dafür bekommen? Könnte sie vielleicht sogar einer anderen Tätigkeit nachgehen? Auf diese Frage folgte ein Stich von Bedauern. Dann würde sie nie wieder ihre Freundinnen sehen. Aber sie würde sicher neue finden.
»Ethlin? «
Sie drehte sich erschrocken um. Darnia stand jetzt neben ihr und grinste.
»Keine Angst, ich will dir schon nichts wegnehmen. Ich zeig dir mal, wie wir das machen, wenn wir was finden…«
Dann nahm Darnia zwei Finger in den Mund, holte tief Luft und ließ einen lauten Pfiff ertönen, der Ethlin in den Ohren wehtat.
Ohne Vorbereitung hatten sich zwei Wächter genähert. Ethlin nickte ihrer Freundin dankend zu und kam einen der Wächter entgegen.
Wie alle Wächter trug er eine eiserne Uniform, kunstvoll mit Pelz verziert. Zwar trug jeder von ihnen eine Waffe, aber Ethlin hatte noch nie von einem Vorfall gehört, in dem es zu einer Waffenhandlung gekommen wäre.
»Soso«, brummte der etwas dickere Wächter schwer atmend, » Also was gefunden, meine Kleine?«
Der Wächter blickte an Ethlin herab.
»Dann lass uns mal sehen.«
Ethlin reichte dem großen Mann ihr Sieb und sah in erwartungsvoll an. Das war bisher das erste Mal, dass sie wirklich etwas gefunden hatte. Zwar waren ihr kleinere Funde in die Hände gefallen, doch ihre Kameradinnen hatten es immer so vereinbart, als wäre es nicht ihr Fund gewesen. Nun aber, am späten Tag, wo die Sonne schon fast am Horizont verschwunden war und viele der älteren Arbeiterinnen schon den Heimweg angetreten hatten, da war es Ethlin endlich einmal vergönnt ihren Fund für sich selbst zu beanspruchen.
»Unnütz«
Als Ethlin diese Worte hörte, begriff sie nicht. Ihre Augen weiteten sich, weil in ihrem Inneren ein Gefühl aufloderte, das ihr Verstand nicht zu glauben schien.
»Diese kleine Menge ist Unnütz für uns, verstehst du mich? Schon ein Wunder, dass du das überhaupt aus dem Wasser lösen konntest.«
Jetzt schien etwas in ihrem Inneren zu brechen. Vielleicht war es die Barriere, die Bewusstsein vom Unterbewusstsein trennte. Vielleicht war es ihr guter Glaube an Gerechtigkeit. Vielleicht war es auch einfach ihr Herz, das nun brach. Die Enttäuschung, oder vielmehr ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, überlief sie so schnell, dass ihr schwindelig wurde.
Warum? Wollte sie fragen. Doch ihr gelang es nicht auch nur ein Wort hervorzubringen. Sie würgte.
»Jetzt fang nicht gleich an zu heulen. Siehst du? Ich kann diesen wertlosen Staub einfach so in die Luft pusten.«
Er tat es. Wider jeglicher Achtung versprühte er ihren Fleiß in der Luft. Für nichts. Doch – für die Genugtuung. Enttäuschung, so würde Ethlin später lernen, konnte allzu schnell zu einem Gefühl führen, dass man als rachsüchtige Wut bezeichnete. Ein Affekt, dessen Konsequenzen aus Reue bestanden. Zu damaliger Zeit aber erlebte Ethlin das Gefühl in vollem Ausmaß, ohne den Puffer der Vernunft.
Wenn man seit der ersten Erinnerung die Routine vor Augen hat. Wenn die Mühe unbelohnt bleibt. Wenn die Hoffnung fortbesteht. Dann ist die Welt in Ordnung.
Doch bricht einer dieser Säulen, so wie es in diesem Moment geschah, entdeckt man die andere Seite der Medaille.
»Ich will meinen Lohn«, brachte sie letztendlich mit apathischer Mimik hervor.
Der Wächter aber blickte ungläubig drein.
»Du willst-? Wofür?«
Ethlin zitterte. So ein Gefühl hatte sie noch nie erlebt. So Etwas hatte sie noch nie erlebt. Wie in einem Rausch durchströmte sie dieses Gefühl. Es schien ihr endlose Kraft zu verleihen. Es schien sie zu entfalten.
»Ethlin? Lass es einfach, ja?«
Darnia. Sie hatte Darnia ganz vergessen. Ihre Freundin stand neben ihr. Darnia hatte die Hand auf ihre Schulter gelegt. Aber sah sie denn nicht, welch eine Ungerechtigkeit in diesem Moment geschah?
Ungerechtigkeit.
In genau diesem Moment, an genau diesem Tag, erkannte Ethlin den Zustand, in dem sie sich befand. Die Erkenntnis ist eine Sünde.
§6 Das Recht auf Existenz ist nur durch das in der Charta dargelegte Drei-Stufen-System zu rechtfertigen. Kein Leben ist in seiner Existenz von Natur aus gerechtfertigt.
Die Stadt der Götter war eine der prachtvollsten Plätze dieser Erde. So hätte wahrscheinlich ein Romantiker gedacht. Lyon allerdings sah hinter die Fassade der mystischen Bauten. Er erblickte die Wahrheit hinter dem präzise angelegten Vorgarten, den aristokratischen Herrenhäusern, dem riesigen Anwesen und dem Tempel, aus dem wie ein Schandpfahl der Turm emporwuchs. Lyon ließ sich nicht blenden. Er sah die Wahrheit. Und die Wahrheit war primitiv.
Man hatte ihm verboten zu sprechen, weshalb es ihm mittlerweile langweilig geworden war immerfort einen Seufzer abzugeben. Seine Erwartungen wurden nicht erfüllt und diese Tatsache machte seine jetzige Situation noch bedauernswerter.
Die Stadt der Götter hatte nichts weiter als einen renaissanceartigen Charme.
Altmodischen Schein hätte ich auch zuhause sehen können, ging es Lyon durch den Kopf.
Er war betrübt. Nun gut, was hatte er erwartet? New-Atlantis war kein Kontinent der mit Technik ausgestattet war, aber grade an diesem Ort war das Potential so groß.
Und doch war nicht ein Funken Technik zu erblicken.
Erst als er und die Wachen weiter in die grünen Vorgärten vorgedrungen waren und sich auf dem symmetrisch angelegten Kiesweg bewegten, erblickt Lyon das Potenzial, das dieser Kontinent barg.
Um ihn herum schmückten grün schimmernde Apfelbäume den Weg, die in geometrischer Anordnung kleine Reihen bildeten. An den Abzweigungen des Kiesweges, führten Teiche zu verschiedenen Pavillons, die durch die kräftigen Farben blühender Blüten betont wurden.
Dieses gesamte Gebilde wurde in seinem riesigen Ausmaße zu einem parkähnlichen Körper, dessen Wege allesamt in die Mitte seiner Fläche liefen.
Wie durch mathematische Genauigkeit geplant, erstreckte sich hier der Tempel der Götter, ein aus klarem weißem Stein gebauter Turm, der die Höhe von mehr als 100 Metern erreichte, über den ganzen Kontinent und warf seinen drohenden Schatten über die Bewohner.
Dann erregte eine kleine Bewegung Lyons Aufmerksamkeit.
Zwei in weißen Gewändern gekleidete Gestalten huschten zwischen den durchdacht angelegten Baumreihen hindurch und beschnitten die Bäume in graziler Anmut. Nicht etwa durch körperliche Betätigung – das hätten ihre langen Gewänder nicht zugelassen- sondern mit sanften rhythmischen Handbewegungen. Jede so durchdacht wie die andere, schienen sie in wellenförmigen Linien durch die Luft zu gleiten. Dabei verloren die Bäume ihren wilden Wuchs und passten sich dem Willen ihrer Herren an.
Blatt für Blatt, Ast für Ast, verlor jeder der grünen Gewächse ein Stück seiner selbst und reihte sich in exakter Anordnung zu dem Nachfolger ein. Diese präzise Arbeit, so wusste Lyon, war kein Werk, das Menschenhände hervorbringen konnten, denn dort hätte ein gut geschultes Augen auch nach noch so exakter Arbeit eine Unebenheit entdeckt, sondern das Potenzial dieser Insel. Der wahre Grund seiner Forschungsreise.
Die Magie der H.a.t.e. .
§7 Die Freiheit des Glaubens und jeglicher Meinung wird nur dann akzeptiert, wenn sie nicht gegen das Verständnis des Friedens verstößt.
Ethlin gehörte zum Distrikt 9 und lebte somit im äußeren Bereich des Landes. Ihr war nie wirklich klar gewesen, weshalb der Bereich, in dem sie lebte, Distrikt 9 genannt wurde. Was sie aber wusste war, dass sie es liebte hier zu leben. Der Wind brachte immer den salzigen Geruch des weiten Meeres mit sich und um sie herum waren die Düfte der Blumen zuhause. Niemals hätte sie gedacht, dass es etwas gab, was diese Idylle hätte zerstören können, niemals hätte sie gedacht, dass sie in ihrem Leben jemals so denken würde.
Dieses Gefühl, was sich in ihrem Körper und ihrer Seele ausbreitete, hatte sie bis zu diesem Moment noch nie gespürt. Und dieses Gefühl verlieh ihr Kraft. Und mit der Kraft kam der Mut. Mut kann Blind machen.
»Ich würde dir raten Kleine, dass du das nächste Mal wenn du einen Wächter rufst, auch etwas Vorzeigbares zu bieten hast.«
Der kantige Mann drehte sich um, warf Ethlins Sieb, den er ihr aus der Hand gerissen hatte, zur Seite und schnaubte laut.
Dann ertönte ein Grunzen. Der Wächter lag regungslos am Boden.
»Ethlin!«, kreischte Darnia, »Hör auf damit! Du darfst nicht- Nein!«
Doch Ethlin hörte ihre Freundin nicht. Sie hörte nur das Wasser rauschen. Das Wasser, welches sich um ihren Körper schlang, das sie wie ein fädriger Schutzschild umgab. Es war das Wasser, mit dem sie den Wächter niedergestreckt hatte und welches sie nun in kleinen Schüben mit voller Härte auf ihn eindreschen ließ. Wie kleine Keulen preschten die Wassermassen gegen seinen Körper uns ließen ihn stöhnen, während sich sein Körper gegen die Schlage wandte und sich immer stärker durchnässte.
»Ethlin«, schrie eine Stimme erneut, dann wurde Ethlin zu Boden geworfen. Ihre Gedanken schwebten und alles um sie herum war nur nebliger Schein. Sie schloss ihre Augen, um sich zu fassen. Das fremde Gefühl in ihr verebbte. Ein weiteres nahm seinen Platz ein. Dieses Gefühl kannte sie. Es war Trauer.
Sie weinte. Ethlin weinte unter ihrer Freundin, die nun über ihr zusammengesackt war und mit weit aufgerissenen Augen zu ihr hinab sah.
»Was hast du da getan«, fragte Darnia mit erstickter Stimme. Es war fast nur ein leises Hauchen.
»Was im Namen der Götter hast du da getan, Ethlin!?«
Ethlin wusste es nicht. Sie wusste nicht einmal, was sie getan hatte.
Sie wusste, dass sie es getan hatte, aber sie konnte nicht glauben, dass die Bilder, die ihre Erinnerungen waren, von ihr selbst handelten.
Das rote Haar Darnias fiel Ethlin ins Gesicht und kitzelte sie, doch zum Lachen war ihr nicht. Sie sah in die Augen ihrer Freunden und wagte es nicht ein Wort zu sprechen. Geschweige denn zu atmen.
»Ethlin! Jetzt sag mir, was mit dir nicht stimmt«, ihre Freundin schrie sie nun unter Tränen wie eine Furie an.
»Weißt du, in was du uns für eine Lage da gebracht hast!«
Ethlin wusste es. Und sie wusste es doch nicht.
Er jetzt schien allmählich das vernünftige Denken in Ethlins Körper zurückzukehren. Sie neigte ihren Kopf zur Seite, wo sich der schemenhafte Umriss des Wächters auf dem Boden erstreckte – und nicht bewegte,
»Ist – Ist er tot?«, hörte Ethlin es sich selbst stottern.
»Das interessiert doch jetzt gar nicht. Wenn du nicht abhaust, wenn wir nicht gleich hier abhauen, sind wir tot! Ethlin, du dummes Stück!«
Dumm.
Das was sie getan hatte war dumm. Es war unüberlegt, aber, und das konnte Ethlin sich zu damaliger Zeit nicht erklären, es fühlte sich gut an. Wie ein Geschenk, das man ihr noch nie gemacht hatte. Sie fühlte sich überlegen.
Ich bin ihnen überlegen. Dieser Gedanke schockierte und erregte Ethlin gleichermaßen.
Soweit sie wusste, hatten die Wächter keine magischen Gaben. Nicht wie sie und all ihre Freunde und Verwandten. Alle hatten spezielle Fähigkeiten, die sie einsetzten, um die Arbeit für die Götter rechtmäßig auszuführen. Doch wie konnte es sein, dass diese Wächter keine Gaben besaßen, obwohl sie über diejenigen die Gaben besaßen, wachen sollten?
Ethlins Gedanken drehten sich im Kreis. Dieser kleine Moment hatte ihre komplette Ansicht auf ihr Leben verändert und ein stechender Schmerz in ihrem Kopf sagte ihr, wie einfältig ihr Denken bisher gewesen war. Die Möglichkeiten die ihr und allen anderen offen standen. Die Macht die sie trugen. Aber das war so einfach.
Wieso sollte ausgerecht ihr dieser einfache Gedanken als Alleinige kommen. Es musste doch andere geben, die so dachten. Wo waren sie? Lebten sie irgendwo in diesem Land?
Die Gedanken überschlugen sich und ließen die Umgebung um sie herum erneut verschwimmen.
Sie fühlte sich, wie an einem anderen Ort, sie ließ ab, auf die flehenden Bitten ihrer Freundin zu hören, sie merkte, wie sie dem Bewusstsein entglitt. Ihr Blickfeld verringerte sich.
Dann eine unerwartete Erleichterung, die sie erschreckte. In ihr schellten alle Alarmglocken. Die Leichtigkeit kam nicht aus irgendeinem neuen Gefühl heraus. Nein, ihre Freundin hatte sich von ihr erhoben.
Sie sah zu Darnia hinauf. Und obwohl Ethlin noch immer unscharf sah, bemerkte sie den Schrecken in Darnias Gesicht. Die flehenden Augen, die starr in eine Richtung blickten und der zitternde Körper, der unter ihrem Gewicht zu zerbrechen drohte.
Vergebens versuchte Ethlin ihren Mund zu öffnen, doch sie merkte, dass sie keinen Ton hervorbrachte. Auch waren ihre Lippen zu trocken, um überhaupt eine Kontrolle, über die Laute zu bekommen.
Darnia trat einen Schritt zurück.
Mein Kopf tut mir weh, ich will nach Hause. Übelkeit stieg in Ethlin auf, als sie versuchte sich aufzurichten. Ihr Körper war nicht annähernd in der Lage sich auch nur einen winzigen Spalt zu erheben. Wie gelähmt lag sie hilflos auf dem Boden. Den Blick starr auf ihre Freundin gerichtet, die wiederum etwas sah, das sie erstarren ließ, doch außerhalb des Blickfeld Ethlins lag.
Darnia wimmerte. Nein, nicht.
Das Gras unter Ethlins Körper bebte. Der ganze Boden bebte. Wind zog auf und die Sonne schenkte der Welt kaum noch ihr Licht. Das Licht, was sie gebraucht hätte, um zu sehen, was in diesem Moment mit ihrer Freundin geschah.
Darnia sank zu Boden.
Ethlin spürte etwas. Sie spürte das Existieren von etwas. Ethlin spürte Magie. So, wie es jeder spürt, der in ihrer Nähe ist. Doch für gewöhnlich war dieses Gefühl eine Nebensächlichkeit oder allemal ein angenehmes Prickeln. Dieses Mal aber schmerzte dieses Spüren. Es schien förmlich in ihrem ganzen Körper zu brennen. Dann schien sogar ihre Haut zu brennen. Letztendlich brannten ihre Augen. Als gleißendes Licht über ihren Körper hinweg zog, Licht, das eine enorme Hitze innehielt, durchfuhr nur ein einziger Laut Ethlins Körper. Das gequälte Glucksen ihrer Freundin. Dann ein Geruch von verbranntem Fleisch.
§8 Friedliche und waffenlose öffentliche Versammlungen sind nur dann gestattet, wenn sie innerhalb der ausgewiesenen Zeiten stattfinden.
»Wie jetzt? Das ist doch ein Kerker!«
Lyon sah entsetzt in den großen grauen Raum, der durch Gitter abgetrennt und mit einer Vielzahl von eisernen Ketten geschmückt war. Nur einige kleine Löcher in den Wänden, die wohl eine Art Fenster sein sollten, ließen Licht und frische Luft in das Gemäuer. Lyon und seine zwei Begleiter befanden sich nun halb Unterirdisch unter dem Tempel der Götter. Dass es hier einen Kerker gab, wunderte Lyon nicht, immerhin waren solche Methoden in alter Zeit an der Tagesordnung gewesen, was ihn wunderte war, dass er nun hier stand.
»Wirklich - schöne Einrichtung. Wollen wir weiter?«
Er sah der größeren Wache fragend in die Augen. Diese schüttelte allerdings nur verneinend den Kopf.
»Mir ist der Geruch hier nicht ganz geheuer«
Während Lyon dies sagte, sah er sich nach einer Quelle dieses Gestanks um und erblickte sie zu seinem eigenen Bedauern allzu schnell. In einer der dunkleren Ecken der Zellen lag ein altes Skelett und, seine Augen mögen ihn getäuscht haben, eine kleine Ratte, die wohl noch die letzten Reste Essbarem von den Knochen nagten.
Der Stille in dem Kerker zu urteilen war nicht allein dieser Person dort in der dunklen Ecke ein solches Schicksal zuteil geworden und der Gedanke, der nun Lyon durch den Kopf ging, ließ ihn das Gesicht verziehen.
»Das könnt ihr nicht machen. Ich gehöre zur oberen Noble-Schicht. Ich habe Rechte!«
»In deiner Welt vielleicht«, antwortete die größere Wache spöttisch, »Doch hier gelten unsere Regeln«
Mittlerweile schien dieser Mann nicht mehr auch nur einen Funken an Respekt gegenüber Lyon zu haben. Was am Anfang noch eine angenehme Zurückhaltung war, hatte sich auf dem Weg zum Tempel in respektloses Schwätzen verwandelt und das gefiel Lyon nicht.
Natürlich war rein vom Körperbau Lyon derjenige, welcher in einem Kampf, zwischen dem bärigen Wächter und ihm, unterlegen gewesen wäre. Als Forscher legte man sein Augenmerk weniger auf Muskeln und mit seinen 1,70 war er auch nicht grade als ein großer Kämpfer geboren worden. Trotzdem hätte Lyon mit der richtigen Ausrüstung sicher dem großen Kerlchen einigen Schaden zugefügt.
Doch all diese Träumereien halfen nicht, als Lyon nun einen kleinen Stoß von hinten bekam.
»Ich habe euer Rechtssystem studiert. Ihr könnt mich nicht einfach-«, Lyon stockte.
»Ach doch, ihr könnt«, gab er dann resigniert zu.
Ein weiterer Stoß und Lyon befand sich in einer weiträumigen Zelle. Nun trennte ihn ein Gitter von seinen ehemaligen Wandergefährten. Er konnte nicht wirklich sagen, dass er ein Gefühl von Bedauern verspürte und doch winkte er der kleineren Wache zum Abschied.
Beide verließen den Kerker durch eine massive Holztür und ließen Lyon in seiner Einsamkeit. Er sah sich missmutig um. Zwar war er jetzt dem Gestank der Wächter entkommen, doch der Verwesungsduft war keine bessere Alternative.
Soll ich hier jetzt auf etwas warten oder einfach sterben, fragte sich Lyon in Gedanken. Es macht ihn unsicher, wenn er keinen Weg fand, um seine Fragen zu beantworten.
Er sah auf seine Handgelenke hinab und bemerkte erst jetzt, dass er den Fesseln entkommen war. Geistesabwesend rieb er sich die Knöchel und starrte an die hohe Decke des Kerkers. Um ihn herum gab es keine Möglichkeit den natürlichen Bedürfnissen freien Lauf zu lassen, was also einen unangenehmen Aufenthalt versprechen würde. Auch gab es keine Waschmöglichkeit, was Lyon etwas stutzig machte. Das, was Lyon aber am meisten verärgerte, war, dass e niemanden hatte, um sich zu unterhalten.
Lyon hasste es Zeit sinnlos zu verschwenden. Darunter fiel für ihn auch das Warten.
Im Institut der Royal Academy in England war er fast durchgehend mit seinen Forschungen beschäftigt. Studenten wagten nur selten bei Fragen zu ihm zu kommen, was ihm ganz Recht war, denn die Probleme der Jugendlichen waren immer von sehr peripherer Natur.
Jetzt aber wünschte er sich, er hätte einen der liebeskranken Studenten hier, um wenigstens etwas Spaß zu haben.
Bei dem Gedanken grinste er in sich hinein. So einigen Studenten und auch Professoren würde eine Nacht in einem solchen Kerker sicher gut tun. Aber man wünschte ja niemandem das Unglück an die Kehle.
Lyon löste seinen Blick von der Decke und versuchte etwas Abwechslung an einer anderen Wand zu finden. Wie sich herausstellte eignete sich die Wand, an die er sich nun gelehnt hatte, perfekt für eine Unterhaltung. Kleine Kerben in der steinernen Massive ließen auf ehemalige Insassen schließen, denen man wohl sogar ein Stück Kreide verwehrt hatte, um ihnen zu ermöglichen die Tage zu zählen. Einer dieser Insassen hatte Lyons Interesse erregt.
Denn auch er hatte zu Lebzeiten wohl versucht die Tage zu zählen und hatte sich damit beholfen, die Kerben als Ersatz für einen Kreidestrich zu machen. Als Lyon ein kleines undefinierbares Stückchen in der Wand erblickte schritt er langsam zu eben dieser Auffälligkeit und erkannte, dass es sich, nachdem er es aus der Wand genommen hatte, um einen Fingernagel handelte.
Lächelnd ließ er diesen Fallen und rieb sich die Fingerspitzen.
»Das muss aber wirklich weh getan haben«
Er schüttelte den Kopf und begab sich auf eine weitere Forschungsreise in seiner Zelle.
Erst als die das Licht in seiner Zelle schwächer wurde und Lyon seine Umgebung nur noch schemenhaft wahrnahm, fragte er sich, ob man ihn vergessen hatte. Sein Magen meldete mittlerweile ein unangenehmes Gefühl von Hunger, was nicht zu guter letzt daran lag, dass er seit diesem Morgen nichts mehr gegessen hatte.
Eine Diät brauche ich eigentlich nicht, überlegte er sich.
Er sank gelangweilt auf einen Fleck Boden seiner Zelle von dem er sich überzeugt hatte, dass er nicht mit Urin- oder Kotresten verschmutzt war und fing an sich zu überlegen, wie er aus dieser Situation wieder herauskam.
Ein Handy hatte er nicht dabei, weil es sinnlos gewesen wäre, auf diesem Kontinent nach Empfang zu suchen. Aus einem unbekannten Grund wurden jegliche technischen Empfangssignale blockiert. Eine Gruppe von Wissenschaftlern hatte vor einiger Zeit eine Studie zu diesem Umstand durchgeführt und einige Beweise für die Hypothese gefunden, dass es an der Orichalkcum-Wolke über diesem Kontinent lag. Das energiehaltige Metall schien die Signale der Satelliten zu absorbieren und auf ungeklärte Weise zu speichern.
Orichalcum war für Lyon eines der wichtigsten Anhaltspunkte seiner Forschungen. Seinen Erkenntnissen zu urteilen, musste Orichalcum einer der wichtigsten Stützpfeiler für die magischen Gaben der H.a.t.e. sein. Diese Vermutung wurde vor allem durch die Tatsache unterstützt, dass H.a.t.e.s in ihrer DNA Spuren von diesem Metall aufwiesen.
Lyon hatte sich schon seit fast zehn Jahren mit dem Verfahren der H.a.t.e.-Zeugung beschäftigt und empfand jedes Mal eine unterdrückte Erregung, wenn er die Stellen in der Fachliteratur las, in denen es hieß, dass die magischen Gaben ein ungeklärter Nebeneffekt der entstandenen Embryonen sei.
Für Lyon zählte allerdings nicht die Thematik um die Lebewesen, sondern um die Tatsache, wie er ebendieses Potenzial der Magie aus dem Orichalcum locken konnte und es auf Maschinen und Waffen übertragen konnte.
Seit seinem letzten Erfolg waren fünf Jahre vergangen und das Haus Hohenheim erwartete neue Ergebnisse, sonst würde man ihm jegliche Finanzierungen streichen.
Dieser Gedanken ließ Lyon stöhnen. In diesem Kerker zu sitzen und darauf zu warten, dass irgendwer kam und ihn herausholte, damit er seine Studien fortsetzen konnte, war schlichtweg verlorene Zeit und das ärgerte ihn.
Doch innig hoffte Lyon, dass niemand erfahren würde, dass er hier war. Einmal davon abgesehen, dass es eine zu große Schmach gewesen wäre, als Forscher von primitiven Lebensformen in einen muffigen Keller gebracht zu werden, würde er sicher vor Gericht kommen. Denn eigentlich war es –besonders Forschern- nicht erlaubt New-Atlantis zu betreten. Nur zu einer Zeit, die man Säuberung nannte, war es Außenstehenden erlaubt, die unbekannte Welt zu erkunden. Natürlich in aller Diskretion, versteht sich.
Als Empfangskomitee dienten bei solchen Veranstaltung seit geraumer Zeit die sieben selbsternannten Götter von New-Atlantis. Und bei dem Gedanken an diese Wesen erkannte Lyon, dass ihm doch noch ein Recht offen lag.
»Wenn mich irgendjemand hören kann, so verlange ich mein Recht des Sterbenden!«
§9 Das Schulwesen unterzieht sich der Aufsicht der Nation und ist verpflichtet Schülern die allgemein rechtmäßige Weltanschauung zu vermitteln.
»Mein sündiges Kind, was hast du da deiner kleinen Freundin nur eingebrockt«
Ethlin war trotz ihrer Benommenheit von tiefer Erfurcht erfasst. Sie kannte die Stimme, die zu ihr sprach und doch erfüllte sie dieser Klang nicht mit Freunde sondern mit Furcht. Es war keine Furcht vor einer Gefahr, es war die Furcht, die man verspürte, wenn man einem Wesen gegenübertrat, dessen Macht keine Grenzen kannte. Es war keine Furcht vor dem Unbekannten, sondern vor dem Bekannten. Es war die gefahrloseste Furcht von allen und doch barg sich zu diesem Zeitpunkt für Ethlin in dieser Furcht die größte Gefahr dieses Lebens. Die Gottesfurcht.
Endlose Leere erfüllte Ethlin und schien ihre Seele zu verschlingen. Sie hatte einen Wächter getötet. Sie hatte getötet. Ihre Seele war zu einer klebrigen Schwärze geschmolzen, durch den Hass der in ihr brannte. So wie der Leib ihrer Freundin brannte, nicht mehr erkenntlich die Augen, nun nur noch ein schwarzer Klumpen. Wie eine bleierne Bürden erdrückte sie die Schuld an dem Tod ihrer Freundin, fraß sie auf und ließ sie fallen. In die Dunkelheit.
»Du kleines Miststück fällst mir jetzt nicht in Ohnmacht«
Ein schmerzender Stich in die Seite, dann der Druck, der sie zur Seite warf. Ihr Augenlicht verschwamm, die Umrisse waren nur eine wage Unerkenntlichkeit. Die Sonne war schon fast untergegangen. Ein neuer Tag würde bald hereinbrechen. Doch vorher würde sie die dunkle Nacht begraben. So wie auch ihre Seele durch die Nacht begraben wurde.
Ethlin fühlte sich noch nie wohler unter dem schwärzlichen Himmel.
Jemand zerrte an ihren Haaren. Sie verlor den Boden unter ihren Füßen. Sie schwebte. Ein seltsames Gefühl, das Ethlin zum kichern hätte bringen können, wenn nicht ihr Kopf so geschmerzt hätte, an dem die Haare zu reißen drohten.
Sie blickte in das Gesicht ihrer Peinigerin. In das Gesicht der Mörderin. In das vollkommene Gesicht einer Göttin.
»Ah, wie ich sehe, hat dein Köpfchen verstanden, wer hier vor dir steht«
Ethlin wurde auf den Boden geworfen. Ein seltsamer Geschmack breitete sich für den Bruchteil einer Sekunde in ihrem Mund aus und verschwand wieder.
»Na los, verbeug dich schon, wie es sich bei dem Besuch einer Göttin gehört!«
Ethlins Instinkte schrien danach zu fliehen, ihr Kopf kämpfte darum, dass sich der Körper zu der befohlenen Tat aufraffen konnte doch der Körper selbst sehnte sich danach zu sterben.
Ihr Kopf gewann. Sie richtete sich zitternd auf die Knie und ließ ihren Kopf untergebend auf den Boden fallen. Ihr Haar war voller Dreck.
»Superbia, meine Göttin, ich habe gesündigt«
Ethlin war sich nicht sicher, ob diese Worte überhaupt ihren Mund verlassen hatten, oder nur ein Produkt des Echos in ihrem Kopf waren. Sie war starr. Ihr Körper wehrte sich gegen jeden Instinkt. Ihre Welt bestand nur noch aus einem Meer aus Schmerzen. Schmerzen und einer Stimme, die zu ihr sprach.
»Was soll ich denn jetzt deinen Eltern sagen, Liebes? Hättest du noch eine Woche warten können? Jetzt muss ich mir wieder den Geruch von verbranntem Fleisch antun. Weißt du, wie lange es dauert, diesen Gestank aus der Robe zu kriegen?«
Ethlin nahm die Worte der Göttin war, doch sie erkannte ihren Sinn nicht. Jede Sekunde erschien ihr wie ein endloser Moment, in dem ihr klar wurde, dass sie etwas Falsches getan hatte. Und dann kam die Sorge um ihre Familie. Würde die Göttin ihren Eltern und ihren Geschwistern etwas antun?
»Nicht…Eltern«, brachte Ethlin hervor und übergab sich.
Dann erklang ein helles Lachen.
»Du armes Wesen. An deiner Familie mache ich mir doch nicht die Finger schmutzig. Ich habe genug zutun«
Dann kam eine kurze Pause, die Ethlin wie eine Endlosigkeit vorkam.
»Dich muss ich allerdings töten. Ich glaube das verstehst du?«
Es war keine Frage, die Ethlin beantworten musste. Sie hätte auch nicht gekonnt.
»Ich denke«, begann die Göttin, »Ich zerfetze dich gleich, dann stinkt es nicht so«
Ethlin nahm wieder dieses Gefühl am Rande ihres Bewusstseins wahr. Zuerst prickelte es leicht in ihrem Körper, dann überflog sie ein vibrierender Schleier und letztendlich brannte ihre Haut wie Feuer.
Sie erwartete Angst, aber sie spürte nichts als Leere.
Und dann erstrahlte helles Licht.
§10 Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis werden zur Sicherung der Nation von ausgewählten Hilfsorganen teilweise beschränkt.
Noch zwanzig Kopien der Sicherungsberichte. Zehn Stühle für den Versammlungsraum auftreiben. Dreißig belegte Brötchen schmieren. Ein Kaffee für den Chef.
Jenna ließ den Kopf in die Hände fallen. Sie hatte nicht einmal mehr als zwei Stunden Zeit und musste noch eine Unmenge an Vorbereitungen erledigen. Wirklich gar nichts schien heute in der geregelten Routine zu laufen. Alles war durcheinander. Ihr Schreibtisch sah aus, als hätte man ein Laubgebläse seine Arbeit machen lassen und in der gesamten Abteilung liefen eifrig Sekretärinnen mit zu hohen Absätzen von A nach B und hinterließen dabei ein ohrenbetäubendes Klackern. Bei all diesem Lärm sollte sich Jenna nun konzentrieren und die Vorarbeiten für das heutige Treffen des Sicherheitsrates ausführen.
Für gewöhnlich war die Versammlung des Sicherheitsrates immer eine entspannte Angelegenheit. Die oberen Ränge der nationalen Politik ließen sich sechs Stunden in einen Raum einsperren, taten so, als würden sie wichtige Entscheidungen treffen, kamen dann zu dem Schluss, dass man über endgültige Entschlüsse beim nächsten Mal nachdenken sollte und ließen die Angestellten einen Tag lang nicht unter ihrer schlechten Laune leiden. Als Sahnecreme kam dann, als obligatorische Aufsichtsperson, immer noch ein Abgesandter der Adelshäuser hinzu, meist zwar nur aus niedrigem Rang, aber immer ein Hingucken wert.
Am heutigen Tag war allerdings alles anders. Die vier Oberhäupter der europäischen Königshäuser hatten sich angekündigt und das hieß für alle Angestellten einen zusätzlichen Arbeitsaufwand von plus zweihundert Prozent.
Sie, so dachte Jenna, während sie ihre Kolleginnen an sich vorbeieilen sah, konnte sich glücklich schätzen, dass sie nur einen einfachen Sekretärinnenjob in der Aufsichtszentrale besaß. So waren ihr zumindest Arbeiten zugeteilt worden, die keine penible Genauigkeit beanspruchten. Zwar würde ihre Arbeit wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen werden, aber sich den ganzen Tag an die Richtlinien halten zu müssen, die einem sagten, wie man sich gegenüber einem Adligen verhielt, war ihr doch zu anstrengend.
Natürlich träumte sie insgeheim von dem altertümlichen Leben einer Adligen. Lange Kleider, biedere Frisur und der Charme der britischen Etikette, verzauberten Jenna immer wieder aufs Neue und doch bereitete es ihr Kopfschmerzen, an die ganzen Regeln denken zu müssen, die sie sich einmal aus dem Internet geholt hatte, nur um spaßeshalber einmal die Verhaltensregeln an ihrem Bruder auszuüben.
Wo sie nun darüber nachdachte, tat er ihr ein wenig leid.
Sie kicherte leise vor sich hin und versuchte eine Struktur in das Chaos zu bekommen, dass einmal ihr Schreibtisch gewesen war.
»Entschuldigung«, eine zurückhaltende knabenhafte Stimme erklang vor Jenna.
Da sie in ihre Kopien vertieft war und verzweifelt nach einer Reihenfolge suchte, gab sie nur ein unsicheres »Ja?« von sich und schob einen größeren Stapel Akten auf die linke Seite ihres Arbeitstisches.
»Man hat mir gesagt, Sie würden im Besitz der Teilnehmerliste sein. Ich wollte sie eigentlich nur fragen, ob es Ihnen möglich wäre sie mir kurz-«
»Ich weiß nicht wie weit Sie in der Lage sind, die Augen aufzumachen«, begann Jenna leicht gereizt, während sie einige Papiere mit einer Heftklammer verband, »Aber sieht es für Sie wirklich so aus, als würde man mir die Teilnehmerliste anvertrauen?«
Jenna zog nun die Augenbrauen hoch und hob das Gesicht, um dem jungen Mann, der ihr gegenüberstand und seinen rechten Ellenbogen leicht auf eine der Ablagen ihres Tisches gestützt hatte, einen abschätzenden Blick zuzuwerfen, als sie innerlich zusammen fuhr.
Vor ihr stand ein elegant gekleideter Mann mit markantem Gesicht. Sein blondes Haar war fein wie Seide und schmiegte sich mit geziemter Frechheit über seine Stirn. Er hatte einen anmutigen und disziplinierten Körperbau und das Lächeln, welches er ihr in diesem Moment zuwarf, hätte Jenna dahin schmelzen lassen, währe sie nicht bereits von den tiefblauen Augen gefangen gewesen.
Der junge Mann, der grade mal 20, also nur ein Jahr jünger war als Jenna, hatte die Ausstrahlung eines abenteuerlichen Jungen, gepaart mit der gewissen Eleganz eines reifen Erwachsenen und ergänzte diese Symphonie mit der gewissen Prise von respektvoller Zurückhaltung, die Jenna in diesem Moment den Atem raubte.
Vor ihr stand die vollendete Symphonie eines Mannes. Ein Erbe des europäischen Adelsgeschlechts.
Ansgar von Hohenheim.
§11 Die Berufswahl ist frei. Einzige Einschränkung bietet das Drei-Stufen-System.
Als die massive Tür sich mit einem ohrenbetäubenden Knarren öffnete, schrak Lyon aus seiner Tagträumerei auf, wobei er sich nicht ganz sicher war, ob es nicht vielleicht auch schon ein abendlicher Schlaf war. Die Lichtverhältnisse empfand er in diesem Kerker als schrecklich und eintönig.
Als er sich aufrichtete und einen leichten Seufzer von sich gab, um die Schmerzen, die der ungemütliche Steinboden mit sich brachte, zu überdecken, erklangen die sanften Schritte einer Frau.
»Das Recht des Sterbenden? Ist das tatsächlich dein Ernst?«
Die sanfte volle Stimme, die die Wände des Kerkers entlang schlich, schien fast greifbar zu sein. Sie umgab jeden einzelnen Fleck der Luft, schien sich mit der Luft zu verbinden, sie zu überdecken und letztendlich zu verschlingen. Diese Stimme war nicht rauchig oder tief, nicht schrill oder hoch, nicht leise oder dröhnend. Diese Stimme war einfach nur voller Sinnlichkeit. Sie war die pure Lust.
Lyon dagegen kratzte sich am Kopf und versuchte die fehlende Eleganz, die ihm irgendwo zwischen dem Kerker und Distrikt 2 abhanden gekommen war, mit niveauvollem Auftreten zu übertünchen.
»Soweit ich weiß, steht das doch in eurem-«
»Soweit ich weiß, Liebling«, die Quelle der sinnlichen Stimme trat nun in Sichtweite, »Solltest du deine grazilen Finger nicht in unserem Kodex haben.«
Nun erschien ein Meer aus blondem Haar, wie flüssiger Sonnenschein überdeckte diese Pracht den Körper der vollbusigen Frau, deren Haut wie Seide weißlich schimmerte und für deren Taille die meisten Frauen gemordet hätten. Ihre dünnen Gewänder schienen wie ein sanfter Hauch über ihrem Körper zu liegen und bei der kleinsten Bewegung verrutschen zu können. Jede Bewegung, und selbst ein einfacher Wimpernschlag, beinhaltete eine vollendete Symphonie aus reinem Schönheitssinn.
Wie lange die Genforschung wohl dafür gebraucht hat, fragte sich Lyon geistesabwesend.
»Schätzchen, ich weiß wirklich nicht, was ich mit dir tun soll. Ein Mann deines Kalibers sollte doch wissen, dass er sich nicht auf dieser Insel rum treiben darf. Immerhin wart ihr es doch, die dieses Abkommen beschlossen haben. Und jetzt brecht ihr es so einfach.«
Lyon ließ den Kopf kurz kreisen und nickte dann leicht.
»Also eigentlich bin ich alleine. Der Plural ist an dieser Stelle somit sehr unangebracht.«
Was daraufhin geschah, hätte jeden Menschen verunsichert, sehr wahrscheinlich in tiefe Furcht versetzt, Lyon allerdings spürte förmlich die Erregung aus sich heraussprudeln, als er durch die Druckwelle, die von dieser Frau urplötzlich ausging, gegen die Kerkerwand geschleudert wurde. Er keuchte kurz auf, weil ihm die Luft aus seiner Lunge gepresst wurde, rappelte sich aber umgehend wieder auf.
»Wage es nicht noch einmal so mit einer Göttin zu sprechen.«
Doch Lyon grinste nur.
Sein Plan war vollkommen aufgegangen. Zwar war er ein Mann der Wissenschaft, doch das hieß ja nicht gleich, dass man sich völlig vom Juristischen abwandte. Es war sowieso als Adliger Pflicht, sich mit dem Gesetz auseinanderzusetzen. Warum dann das gelernte nicht auch einmal anwenden?
»Du hast dein Recht verlang, du weißt, was das bedeutet?«
Doch Lyon grinste nur weiter.
Das Recht hatte er nur aus einem einzigen Grund verlangt und zwar für eben diesen Moment. Für gewöhnlich, so hatte Lyon im Kodex von New-Atlantis gelesen, war das Recht des Sterbenden denjenigen Gefangenen vorbehalten, die eine Exekution einem Urteil der Götter vorzogen und somit für eine Woche jeglichen erfüllbaren Wunsch ausleben konnte, um dann hingerichtet zu werden. Das war natürlich nicht Lyons Vorhaben gewesen.
Der Kerker konnte einen zwar in Depressionen versetzen, aber so schlimm war es dann doch nicht um ihn geschehen, sein eigenes Leben wegzuwerfen.
»Wisch dir dein lächerliches Grinsen aus dem Gesicht, du…«
Dieses Mal stockte sie, als Lyon seine Stimme erhob. Er hatte sich kurz gesammelt, um möglicht eindrucksvoll die folgende Worte überbringen zu können.
»Du hast soeben die Hand gegen einen Noble des Hauses Cuvier erhoben. Somit hast du gegen Artikel 3 des Drei-Stufen-Systems verstoßen. Mir steht es frei, eine Liquidierung gegen dich auszusprechen.«
Aus dem edlen Weiß der Göttin wurde nun ein wutroter Zorn.
»Was glaubst du…«
»Ihr Götter habt euch doch selbst so darum bemüht, als Sonderfall in das Drei-Stufen-System aufgenommen zu werden, um als Menschen anerkannt zu werden. Nun müsst ihr euch auch daran halten. Regeln sind Regeln, da habt ihr euch wohl sprichwörtlich in den eigenen Arsch gebissen.«
Während Lyon dies sagte, wackelte er belehrend mit seinem Zeigefinger.
Die Frau schwieg resigniert. Lyon wusste, dass seine Argumentation schwammig war und einzig sein Auftreten ihm den Vorteil verschafft hatte. Doch das Risiko war bei dieser attraktiven Dame sehr gering. Lyon war selbst erstaunt, wie genau die Literatur doch hier eine realitätsnahe Arbeit geleistet hatte. Zwar hatte er immer gelesen, das jeder der sieben Götter nur eine extrem ausgeprägte Charaktereigenschaft besaß, dass das aber alle anderen beschränkte, hätte er trotz der seitenlangen Quellenverweise nicht geglaubt. Nun war er aber überzeugt und zufrieden. Die Göttin Luxuria machte ihrem Namen volle Ehre.
Luxuria, die angebliche Göttin der Enthaltsamkeit war alles andere als enthaltsam. Man sagte ihr eine wilde Hurerei unter mit den männlichen H.a.t.e nach und feierte offiziell dafür als Göttin der Fruchtbarkeit.
Wie stumpfsinnig, dachte Lyon sich in diesem Moment. Wesen, die nicht fruchtbar waren, geschweige denn Kinder bekommen konnten, eine Fruchtbarkeitsgöttin zu geben. Aber das war sicher wieder auf dem Mist seiner Familie gewachsen.
»Ich hoffe, mein süßer Brillenträger«, die Göttin hatte sich wieder gefangen, Lyon bemerkte aber, dass ihre Unterlippe vor Wut bebte, »Du weißt, dass ich dich mit einem Fingerschnipp umbringen könnte.«
Luxuria glitt mit ihren Fingern durch das Meer aus Haaren und verströmte so eine Wolke von Pheromonen, die Lyon die Nase rümpfen ließen.
»Also mein Vorschlag ist, du bleibst hier unten, ich werde dafür sorgen, dass deine blaublütige Familie erfährt, dass du hier bist und danach werden sie so sauer auf dich sein, dass sie mich bitten werden, dich zu töten.«
Sie hob fragend die Augenbrauen. Natürlich erwartete sie keine Antwort.
»Na da hab ich dann wohl die Arschkarte gezogen«, flötete Lyon dennoch fröhlich.
§12 Der Wehrdienst muss nur dann wahrgenommen werden, wenn er freiwillig angetreten oder, durch den Stand begründet, verpflichtend ist.
Lauf! Lauf!
Die rote Anzeige auf dem Bildschirm verblasste. Das Ziel wurde als verloren gemeldet. Der Mann, das Menschenleben, das hinter diesem kleinen Licht auf dem übergroßen Bildschirm angezeigt worden war, war nun erloschen. Und so wie dieser eine Punkt sein Lebenslicht verlor, so verloren auch die anderen Punkte um ihn herum die Energie.
»Leutnant Piek, was ist da los?«, blaffte der dicke Mann, mit dem unrasierten Gesicht, auf dem die Stoppeln schon zu langen Gräsern gewachsen waren und dessen Augenringe ein Graben mit Tränen als angelegener Teich hätten symbolisieren können.
General Chrocker musste schon mehr als zwei Tage nicht mehr richtig geschlafen haben und das sah man ihm außerordentlich an. Sein Gesicht wirkte sogar noch aufgedunsener als sonst und seine Haltung strahlte nicht den kleinsten Funken von Disziplin ab.
In dem Licht des Hauptstützpunktes CPI-453 der American-British-Federation, meist unter dem Decknamen Das Kreuz bekannt, sahen allerdings alle Rekruten wie erst kürzlich auferstandene Untote aus.
Ansgar konnte das nur zu gut verstehen.
Als einziger Stützpunkt in Mittelamerika hatte Das Kreuz nicht nur die Aufgabe, als Grenzübergang zwischen dem nördlichen und dem südlichen Kontinent zu agieren, es musste gleichzeitig den westlichen Luftraum über New-Atlantis bewachen und zeitgleich die verstärkten Angriffswellen der Terroristen Südamerikas bekämpfen. Kein leichter Job, würde ein Durchschnittsbürger sagen, wenn dann aber noch ein wichtiger Würdenträger und Vorgesetzter im Stützpunkt einquartiert wurde, lag das Stresslevel bei über zweihundert Prozent.
»Vizekommandant von Hohenheim?«
Ansgar hob die rechte Augenbraue und sah Chrocker erwartungsvoll an.
»Ich hoffe, sie gedenken da etwas zu unternehmen, Chrocker?«
Der alte General geriet in Schweißausbrüche. Als man Chrocker vor 10 Jahren in Das Kreuz versetzt hatte, war man von seiner Führungspersönlichkeit überzeugt. Als engagierter und überlebensfähiger Rekrut der National Armee hatte man ihn im Alter zum General und Leiter des Stützpunktes ernannt. Was man bei dieser Tat allerdings nicht bedacht hatte war, dass Chrocker ein Meister des Überlebens auf dem Schlachtfeld war, allerdings nicht in der Lage taktisch kluge Ratschläge anderen zu erteilen. Er war da, wie viele Rekruten von ihm sagten, eher wie ein Computer aus dem 21. Jahrhundert. Er führte zwar Befehle aus, aber selber denken ging nicht.
»Sir? Es gab zehn weitere Verluste.«
Chrocker donnerte seine Faust auf die Lehne seines Stuhls.
»Verdammt, dann machen Sie etwas dagegen. Eine Gruppe von minderwertigen Terroristen kann doch nicht gegen die gerüsteten Kämpfer der National Armee vorgehen!«
Ansgar räusperte sich und glitt an Chrocker vorbei, hinüber zu Leutnant Piek.
»Befehlen Sie der Westfront einen Rückzug, die Ostfront soll stagnieren. Wenn unser Gegner den Köder schluckt, können wir ihn wie einen kleinen Einzeller einschließen uns zersetzen.«
Piek tat wie befohlen. Was darauf folgte, besiegelte die Schmach General Chrockers und rühmte den jungen Ansgar von Hohenheim.
»Der Gegner verfolgt die sich zurückziehende Westfront.«
»Wir durchschlagen seine Linie und können ihn nun umzingeln.«
»Feuert alles ab, was wir haben Männer!«
»Bitte Chrocker, es reicht völlig, sie zu einer Kapitulation zu zwingen.«
»Aber diese Schweine haben unsere Männer-«
»Diese Schweine haben wichtige Informationen. Der Verlust ihrer Männer geht ganz allein auf Sie zurück. Nur damit das klar ist.«
Chrocker seufzte resigniert. Er war gezwungen Ansgars Befehle anzunehmen und somit wieder einmal von einem schwächlichen Adligen vor all seinen Männern blamiert worden.
Selbst der heutige Krieg ließ sich nur noch durch Köpfchen und nicht mehr mit Kraft gewinnen. Taktisches Geschick war das einzig wahre, nur leider verstand das kaum ein Mensch außerhalb der Noble Schicht.
Die unterirdischen Gänge des Stützpunktes waren nur matt beleuchtet. Die Versorgungsrohre waren alt und schienen an den meisten Stellen fast aus den Nähten zu platzen. Die Luft war abgestanden und roch nach alten Sportschuhen. Kein Wunder, dass man Ansgar hierhergeschickt hatte. Bertram von Hohenheim traf, als Oberhaupt des 2. europäischen Adelshauses, keine für Ansgar nachvollziehbaren Entscheidungen mehr. Selbst die Medien zerrissen sich, ganz indirekt, das Maul über seinen Vater. Aber Ansgar wollte sich nicht beschweren. Als jüngster Nachfolger des Hauses Hohenheim hatte Ansgar einige Vorteile, die seinen Brüdern nicht gestattet waren. Vielleicht lag es dran, dass bereits fünf seiner älteren Geschwister im Krieg gefallen waren oder einfach bisher kein würdiger Enkelsohn geboren worden war, Ansgars Vater hatte seinen jüngsten Sohn dazu gezwungen eine komplette schulische Ausbildung zu absolvieren. Wofür ihn seine Brüder beneideten und seine Geschwister hassten, dafür hasste Ansgar seinen Vater. Bereits im frühen Kindesalter erlebte Ansgar das triumphale Gefühl eines Sieges der durch strategisches Geschick gewonnen war. Er lebte es Einheiten zu positionieren, sie zu leiten, ihnen Befehle zu geben und dann die Reaktion des Gegners abzuschätzen. Sein Geschick als Stratege war unübertroffen doch das Potenzial ungenutzt. Erst kurz vor seinem Abschluss erhielt Ansgar letztendlich die Erlaubnis seines Vaters Militärwissenschaften zu studieren und schrieb ein Jahr später seine Publikation über die Blutlose Kriegsführung.
Eine Zeit, die Ansgar bei bloßer Erinnerung Kopfschmerzen erzeugt. Kritiker zermalmten förmlich jedes einzelne Wort seiner Ausführung und streuten es fast in Zeitlupe auf die Goldwaage. »Eine Ode an den Kalten Krieg« - »Der Pazifismus besiegt die Utopie« - »Im Sandkasten war das vielleicht möglich, aber-«
All diese Titel in Fachmagazinen trugen aber letztendlich nur zur Verbreitung der Publikation und dem Anstieg von Ansgars Bekanntheitsgrad bei.
Fakt war allerdings, dass die Opferzahlen in dem vergangen Jahr um die Hälfte geschrumpft waren. Dies führte zu einem akuten und peinlichen Schweigen unter den Kritikern und nur wenige wagte es noch, diese Tatsache auf die Friedenspolitik der American-British-Federation zu beziehen.
So kam es also, dass kurz darauf die Versetzung zum Kreuz anstand. Zwei Jahre nach seinem Schulabgang war Ansgar von Hohenheim dazu befähigt über eine der aktivsten militärischen Stützpunkte der Welt zu entscheiden. Eine Verantwortung, die man einem Zwanzigjährigen wahrscheinlich nie auferlegt oder zugetraut hätte. Doch vom Schicksal war ihm dieser Weg wohl so vorherbestimmt. Aber das Schicksal bot ihm noch eine weitere große Überraschung.
»Sir, eine Nachricht für Sie, Sir«
Stramm stand der junge Rekrut am Eingang von Ansgars Zimmer. Voller Respekt und mit einem Unwohlsein in den Augen stand der junge Mann vor Ansgar und hätte keinen unmöglicheren Zeitpunkt finden können.
»Es ist Mittagsruhe Rekrut. Ich weiß, ihr habt nicht viel Licht, aber die Uhr könnt ihr doch wohl lesen.«
»Verzeiht Sir«, der junge stockte, »Ich meine Hoheit.«
Dieser Titel entlockte Ansgar ein kleines Lächeln.
»Sir reicht vollkommen. Meine Thronfolge steht in einer Entfernung, da müsste ich dreimal solange leben, damit ich vielleicht in Frage käme.«auses
Der Mund des Rekruten verzog sich zu einem sanften kurzen Lächeln, dann übermannte ihn wieder seine Disziplin. Ansgar musste schmunzeln.
»Jetzt bin ich ja sowieso wach. Also was gibt es?«
Der Rekrut räusperte sich.
»Alle Angehörigen der Adelshäuser wurden heute Morgen gebeten umgehend am Sicherheitsrat teilzunehmen.«
Ansgar sah den Rekruten verdutzt an. Der Sicherheitsrat? Seit wann wurde zu einem Sicherheitsrat die gesamte Oberschicht eingeladen?
Ansgar rieb sich am Hinterkopf.
»Da musst du dich verhört haben. Man würde die Häuser nicht zu einem jämmerlichen Sicherheits-…«, Ansgar stockte kurz. Ein Gedanke durchzuckte ihn und verschwand wieder. »…und selbst wenn, auf meine Anwesenheit wird da sicher nicht allzu großen Wert gelegt.«
Achselzuckend reckte sich Ansgar und gähnte einmal laut. Wenn er müde war verwarf er jegliche Disziplin. Besonders wenn es darum ging, dass er schlafen wollte. Und weil er das eben wollte, war er im Begriff sich wieder auf das Bett zu legen, als der Rekrut erneut ansetze. Dieses Mal mit etwas dünnerer Stimme:
»Das Begehr der Anwesenheit von Ansgar von Hohenheim hat das Oberhaupt von Hohenheim noch einmal ausdrücklich zum Ausdruck gebracht«, rezitierte der Rekrut und verfiel wieder in apathische Starre.
Ansgar seufzte.
»Warum habe ich so was schon erwartet? Wegtreten!«
Der traditionelle Schandmarsch dauerte bereits eine ganze Weile und Ethlin kam es wie eine Unendlichkeit vor, die ihre Füße sie bereits durch die Hauptstraßen der inneren Distrikte tragen mussten, nur damit jeder der anderen sehen konnte, dass sie gesündigt hatte.
Hätte sie sich gegen die Regeln aufgelehnt, wäre dieser Marsch die Strafe gewesen. Ein Diebstahl hätte ihr vielleicht noch einige Tage Strafarbeit gekostet.
Sich aber gegen eine Gottheit aufzulehnen und sie zu verletzen, war ein Verbrechen, für das der Tod keine genügende Strafe war. So wurde sie also all ihrer Kleider beraubt und an rostige Ketten gelegt, die ihr bei jeder Bewegung ins Fleisch schnitten. Unter ihren Füßen klebten der Morast und die spitzen Steine der Schotterwege und die kalte Abendluft umschwamm ihren Körper und schnürte ihr die Luft ab.
Sie zitterte und ihre Beine weigerten sich noch einen Schritt zu gehen; der Wächter hinter ihr weigerte sich ein Stoppen zu akzeptieren.
Ethlin war geschunden. Ihr Körper war völlig erschöpft. Sie hatte seit diesem Morgen nichts mehr gegessen. Von der Arbeit hatte sie keine Erholung gehabt, nein sie hatte sogar einen Wächter getötet. Ihr Kräfte waren schon verbraucht, als sie mit der außergewöhnlichen Masse an Magie der Göttin in Kontakt kam. Der Tod ihrer Freundin schien durch all diese Ereignisse nur ein Schatten aus einer anderen Welt zu sein und doch lag die Last, an ihrem Tod schuld zu sein, auf ihrer Seele, wie eine dunkle Übermacht.
All diese Ereignisse, die innerhalb eines Tages ihr Leben völlig geändert hatten. Ihr Sicht der Dinge war verschwommen und die Wahrheit schien nur ein Wort zu sein, das einer Lüge glich. Was vor ihren Augen geschehen war, konnte nicht war sein und doch war es eben passiert.
Das was geschehen war, nachdem Superbia sie wieder in den Schlamm fallen lassen hat, war nicht einmal für die Göttin selbst vorherzusehen gewesen.
Das Licht traf Ethlin. Die Hitze drückte sie zu Boden. Diese Macht hätte sie, wie auch ihre Freundin, getötet. Aber diese Macht hatte eben nicht damit gerechnet, dass Ethlin sich schützen konnte. Eigentlich hatte Ethlin selbst nicht damit gerechnet und, während sie vorsichtig ein Fuß nach den anderen entlang des Weges setzt, weiß sie selbst nicht einmal mehr, dass sie es gewollt hatte.
Ihr letzter klarer Gedanke, war der Wunsch, bei ihrer Familie zu sein. Dann wollte sie einfach nur sterben. Sie wollte, dass die Qualen endeten und sie endlich schlafen konnte. Als das Licht kam, regte sich resignierte Hoffnung in Ethlin und ein Gedanke. Ein Gedanke, der nicht ihrer zu sein schien. Der Wille zu leben bebte in Ethlin, begehrte gegen die Hoffnungslosigkeit auf und zwang ihren Körper die Luft um sie herum zu kanalisieren. Grade Rechtzeitig bildete sich um den Körper von Ethlin, kaum sichtbar aber doch ausreichend, ein kleiner Schild aus Wasser. Wasser, dass sich durch die Hitze in Dampf verwandelte, so wie es Ethlin immer sah, wenn ihre Mutter Wasser aufkochte für einen ihrer Tees.
Und als Ethlin plötzlich sah, dass genau soviel Wasser verdampfte, wie durch ihre Kraft wie zu ihrem Schild hinzugefügt wurde, als sie sah, dass die Hitze sie kaum erreichte, weil da eine Kühle war, die wie ein Segen zu sein schien, da flammte in ihr die Hoffnung auf, etwas ausrichten zu können.
»Ich glaube, die ist durch«, hörte Ethlin es wie durch eine dicke Wand. Ihre Ohren waren wie mit Watte gefüttert.
»Aber Herrin, sie bewegt sich doch-«
Die Göttin sah das aber anders. Ethlin sah während ihres Marsches ständig diese Bilder. Wie die Gestalt der Göttin leuchtend vor ihr stand. Vielleicht zehn Schritte entfernt und ihr den Rücken zugewandt dort stand. Ihr Gesicht verdeckt, durch den Dampf, der während ihres Angriffs entstanden war. Sie wunderte es nicht einmal, dass es bei Darnia nicht so gedampft hatte. Sie hat nicht einmal Mitleid mit ihr.
Nur der Wächter neben der Göttin stand erschrocken und mit weit aufgerissenen Augen da und versuchte noch ein Wort der Warnung hervorzubringen, bevor die Göttin einen Fehler beging. Aber die Göttin hatte bereits einen Fehler zuviel begangen.
»Nicht träumen, meine Kleine. Schön weitergehen. Wir möchten doch rechtzeitig-«
Sie wusste nicht einmal, dass ihre Kraft soweit ging. Sie hatte eigentlich nicht einmal gewusst, dass sie mit ihrer Kraft jemanden hätte töten können, aber trotzdem war ihr Angriff dieses Mal nicht mit einem einfachen Nass versehen, sondern das Wasser zog sich gezielt über den rechten Arm der Göttin und bevor diese merkte, wie ihr geschah, da weitete sich die Masse des Wasser und wurde fest. Es gefror. Die Göttin schrie, wie nie eine Gottheit hätte schreien dürfen. Sie schrie wie ein Tier. Wie ein einfaches Wesen. Sie schrie, wie auch Ethlin vor Schmerz geschrien hätte, wenn ihr eigener Arm eingefroren worden wäre.
Aber Ethlin schrie nicht einmal, als die Ketten um ihr Handgelenk gewunden wurden. Der heiße Dampf hatte sich verflüchtet. Sie schwitze und die Luft kühlte sie, sodass sie zitterte. Ob es wirklich an der Kälte lag, wusste sie nicht.
»Schafft mir dieses Miststück weg. Ich will sie irgendwo haben, wo ich ihr wehtun kann. Du verdammtes Stück Dreck. Ich werde dir jeden Finger Ausreißen, du wirst sehen was es heißt, sich auf das Sterben zu freuen. Du dreckige-«
Die Göttin verfiel in ein jämmerliches Heulen und verschwand an Ort und Stelle mit einem kurzen Blitz.
Nun aber war Ethlin im hier und jetzt und fragte sich nicht einmal, welche Folgen ihr Handeln wohl haben würde. Sie stellte nicht fest und sie stellte sich nicht vor. Was machte es noch für einen Sinn über etwas nachzudenken, was besiegelt war. Wenn man das Schicksal nicht in seiner vollen Breite sah, so sah man auch nicht, dass es nie so kommt, wie man denkt. Ethlin sah dies zu dieser Zeit nicht. Sie sah zu dieser Zeit nicht einmal die Gärten der Götter, die sie in diesem Moment durchquerte. Einen Ort, der für alle anderen ein Tabu war. Von dem sie sooft geträumt hatte. Wenn sie mit ihren Geschwistern gespielt hatte, dann träumten sie davon, hier zu leben und einen dieser Äpfel kosten zu dürfen, die nicht wie eine Frucht, sondern wie der Himmel schmecken sollten.
Doch an all das dachte Ethlin nicht, weil sie zu dieser Zeit gar nicht in der Lage war zu denken. Sie sah zwar durch ihre Augen, aber wirklich sehen konnte sie nicht. Sie fühlte nicht. Sie war einfach nur da und eben doch nicht.
Der Turm, der sich vor ihr erstreckte war nicht einfach ein Gebäude, es war ein Wunderwerk. Er gab nicht nur eine unglaubliche Aura ab, sondern zeigte die Motivation der Arbeiter auf dieser Welt. Aus dem Dach dieses Turmes, das fast nicht durch die dichten Wolken zu sehen war, erstrahlte der Nebel des Lebens. Dieser Neben zog sich aus dem Dach des letzten Turms, der aus der Villa der Götter hervorragte. Strahlend Weiß entwich aus ihm der goldrote Staub des Lebens, der sich über diesen Kontinent verbreitete und dessen Segen sich auf die Erde legte, um neues Leben zu gebären.
Der Grund dafür, dass er es Wert war ausgegraben zu werden. So wie es Ethlin, Darnia und alle anderen ihres Volkes taten. Sie suchten nach dem Staub des Lebens. Wenn einer von ihnen starb, so entschwand auch aus dem leblosen Körper dieser Staub und wenn er nicht aufgesammelt wurde, sie verschwand er mit dem Wind.
Da ihre Vorfahren dies nicht wussten, war das ganze Land mit diesem Lebensstaub bedeckt. Deshalb war es die Aufgabe der Bevölkerung gewesen, dieses Material zu bergen und dafür zu sorgen, dass es im Turm der Götter wieder dem Nebel des Lebens hinzugefügt werden kann.
Für Ethlin erschien das alles wie ein Nichts. Die Götter hatten diesen Auftrag erteilt. Sie kamen in diese Welt und ließen andere dafür arbeiten. War dieser Grund überhaupt war?
Was machte das noch für einen Sinn.
»Der Kerker wird dir sicher gefallen, mein süßes Kind«
Irgendwer berührte Ethlin an einer ihrer Wunde, was dazu führte, dass sie zusammenzuckte. Sie war innerhalb der Villa und stand vor einer hölzernen Tür. Dicht an sie geschmiegt stand eine Frau. Eine Göttin. Was hatte sie auch erwartet, wenn sie in die Villa der Götter gebracht wurde. Diese Göttin war ebenfalls von außergewöhnlicher Schönheit, aber einer anderen Schönheit als die von Superbia. Diese Schönheit war nicht aus der Eleganz entstanden sondern von etwas, das Ethlin nicht definieren konnte.
Die Göttin wog sich noch einmal an Ethlins Körper.
»Ich habe gehört, was du mit Superbia gemacht hast. Mir gefällt dein Mut. Etwas an dir erregt mich. Ich werde dich zu mir holen, wenn wir dich ein wenig gewaschen haben.«
Die Göttin beugte sich zu Ethlin und gab ihr einen sanften Kuss.
»Ich werde dafür sorgen, dass dir Schmerzen zugefügt werden, die dir gefallen.«
Ethlin verstand das nicht.
Nur das Knarren der Tür weckte etwas in ihr. Wahrscheinlich der letzte Rest von Überlebensdrang, der nun erweckt wurde, aber bei der Finsternis, die in diesem Raum herrschte, sofort erstarb.
Sie setzte noch einige Schritte nach vorne, hörte ein metallisches Klirren und wurde dann von der Dunkelheit verschlungen. Die Wächter schlossen die schwere Holztür und Ethlin war alleine. Sie sackte in sich zusammen und wollte weinen. Sie wollte Gefühle spüren, sie wollte, dass dieser Druck aus ihr heraus brach und sie endlich erlöste. Diese Leere und dieses Nichts, die sie zu zerreißen drohten. Sie kniete vorne über. Selbst das Erbrechen schaffte ihr Körper nicht mehr. Sie war das, was in ihr wohnte. Sie war Nichts.
Augenblick um Augenblick verschwand in dieser Dunkelheit. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und konnten trotzdem nichts sehen. Sie hätte genauso gut draußen sein können. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen und saß nun schon seit geraumer Zeit in einer starren vorne übergebeugten Pose. Ihre Muskeln waren verkrampft, ihre Haut eiskalt und ihre Knochen geschunden.
All das und trotzdem blieb ihr Atem ruhig. Warum war alles in ihr so aufgewühlt, aber die Atmung so ruhig und geregelt. Sie hörte noch einmal genauer hin. Sie hielt den Atem an und hörte – ein Atmen. In ihr brodelte es. Sie war bis zu diesem Zeitpunkt apathisch und ruhig. Aber jetzt, wo ihr nicht einmal mehr ihre eigene Atmung gehorchte bekam sie furchtbare Angst. Ethlin versuchte sich zu fassen und atmete noch einmal tief ein und aus.
Das war nicht ihr Atem, den sie hörte das war-
»Hallihallöchen«, irgendwas stand vor ihr, »Na, haben wir einen schlechten Tag?«
Eine Stimme sprach zu ihr, obwohl sie davon überzeugt war, dass sie allein war. Doch diese Stimme wurde durch die Bewegung vor ihr bestätigt. Da war jemand.
»Verzeih mir, dass ich erst jetzt anfange zu plappern, aber ich dachte erst, die haben mir irgendwas ins Essen gemischt. Du verstehst?«
Nein.
»Als du aber grad so gestöhnt hast, ist mir aufgefallen, dass ich ja gar nichts zu Essen bekommen habe und da dachte ich mir: Sag doch mal Hallo.«
Ethlin bewegte sich nicht. Sie hoffte diese Stimme würde wieder weggehen, wenn sie sich nicht bewegte. Sie hoffte, diese aufgedrehte und schräge Stimme würde wie ein schlimmer Alptraum verschwinden, wenn sie sie einfach nicht beachtete.
Aber diese Stimme blieb und wurde immer fordernder.
»Also das finde ich jetzt aber unhöflich. Wenn man schon überraschend zu Besuch kommt, dann sollte man nicht auch noch den Luxus verlangen bedient zu werden.«
Was spricht dieser Mann da für einen Schwachsinn?
»Ich meine, ich hätte ja aufgeräumt, aber es gibt hier ja auch gar nichts zum Aufräumen. An der Unordnung kann es also nicht liegen, dass du dich so unwohl fühlst.«
Ethlin versuchte dem Mann zu folgen. Aber es war schon schwer genug sein zusammenhangloses Gespräch zu verstehen, da sprach er auch noch zu schnell für sie.
»E-Ethlin«, presste sie ihren Namen hervor.
Eine kurze Pause. Dann wurde die Gestalt vor ihr größer. Er hatte sich wieder aufgerichtet und sprach nun etwas langsamer.
»Ethlin ist dein Name? Freut mich dich kennenzulernen, Kleine. Ich bin Lyon le Cuvier. Lyon reicht, ich gebe nicht soviel auf Titel und Namen. Aber das hättest du wahrscheinlich eh getan.«
Die Gestalt wurde wieder kleiner und schien sich neben Ethlin gesetzt zu haben.
»Sag mal, bist du etwa nackt? Das ist aber keine geeignete Zeit für Nacktbaden.«
Irgendwas raschelte, dann legte sich etwas Weiches um Ethlins Körper. Es war warm und Ethlin wurde plötzlich schwindelig, weil irgendwas in ihr sich gelöst hatte.
»Jetzt übergebe dich bloß nicht, Kleine. Der Kittel war teuer!«