Menschenmassen wuseln um mich herum, wieder rammt mir ein Anzugträger, der es besonders eilig hat, die Ecke seines Trollys in die Rippen. Mit einem leisen Fluch auf den Lippen hastet er weiter, das metallische Rattern der kleinen Rädchen geht im Getrappel der unzähligen Füße unter, im Stimmengewirr, das mich umgibt wie das statisches Hintergrundrauschen eines alten Fernsehers. Ich bin es gewohnt. So etwas wie Stille gibt es nicht mehr. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal wirkliche Stille erlebt habe. Ruhe. Frieden. Geborgenheit. Wann ich mich das letzte Mal nicht fehl am Platz gefühlt habe.
Der unbekannte Mann ist schon nach wenigen Sekunden wieder in der Menge verschwunden. Er hat sich nicht auch nur ein einziges Mal umgedreht, nicht ein Wort der Entschuldigung. Ich habe nichts anderes erwartet. Er hat mich wahrscheinlich nicht einmal bemerkt. Niemand bemerkt mich. Schon lange nicht mehr. Ich bin unsichtbar. Meine Maske hat Risse bekommen, ist mir irgendwann völlig entglitten. Meine Maske mit dem ewigen Lächeln. Mit diesem kalten, unehrlichen Lächeln, das meine Augen nicht erreichte.
Es ist kalt hier. Eisigkalt. Fröstelnd vergrabe ich mich tiefer in dem leichten Mantel, durch den der scharfe Wind hindurchfährt. Er bietet mir keinen Schutz, dieser Mantel. Schon lange nicht mehr. Wie ein einzelner Grashalm in der Wüste stehe ich inmitten der Massen und zittere, ein einsamer Kämpfer gegen den Strom. Ich bin alleine, und mir ist kalt. Es ist immer kalt hier. Ich bin schon so lange alleine, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, wie es sich anfühlt, nicht alleine zu sein. Doch auch das ist nichts Neues.
Wieder landet eine Ellbogen in meiner Seite, wieder hastete ein Mann davon, den Kopf gesenkt, ohne den Blick zu heben, ohne auch nur ein Wort der Entschuldigung. Ich weiß, was der denkt. Er versteht nicht, warum ich mich nicht mit den Massen treiben lasse. Er versteht es nicht, und er ist wütend. Wütend, weil ich ihn für den Bruchteil einer Sekunde aufgehalten habe. Wütend, weil ich ihm im Weg stand.
Manchmal möchte ich schreien. Ganz laut, so laut, dass meine Stimme das Gewusel und Geschnatter für einen Moment übertönt.
Sieht mich denn niemand?
Sieht denn niemand, dass ich hier stehe, einsam und verlassen, wie bestellt und nicht abgeholt?
Hört mich denn niemand?
Hört denn niemand meinen lautlosen Schrei?“
Natürlich weiß ich die Antworten auf diese Frage schon längst. Vielleicht bleibe ich deshalb stumm. Weil ich weiß, dass es nichts ändern wird.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, wieviele Aktentaschen an mir vorbeigerauscht sind, wieviele Menschen. Doch plötzlich lichtet sich das Gewusel vor mir. Und ich sehe in ein Gesicht, das dem meinen so ähnlich ist, dass ich überrascht nach Luft schnappe.
Er trägt keine Maske. Traurige, einsame Augen sehen mich an. Sehen mich an, wie mich schon so lange niemand mehr angesehen hat. Wissend. Verstehend. Sehen bis tief in mein Herz hinein. Auch vor seinem Mund bilden sich zarte, hauchdünne Atemwölkchen.
„Es ist kalt hier“, murmelt er leise, und ich nicke verblüfft. Er ist der erste, der das auch bemerkt. Der einzige, der nicht so tut, als nähme er den schneidenden, beißenden, eiskalten Wind nicht wahr, der seine frostigen Klauen nach meinem Herzen ausstreckt.
„Ja, es ist kalt“, flüstere ich.
„Es muss nicht kalt sein“, meint er und reicht mir die Hand, sieht mich auffordernd an.
Ich zögere. Und da lächelt er. Ein ehrliches Lächeln. Ein Lächeln, das keine Maske ist. Ein Lächeln, das seine Augen erreicht. Da lege ich meine Hand in die seine. Sicher und warm schließen sich seine Finger um die meinen. Und auf einmal ist es nicht mehr so kalt.
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