Beschreibung
Für die druckwütige Lesefraktion hier noch mal die gesammelten drei Kapitel meiner jüngst aufgewärmten und zugleich neuen Geschichte. Besten Dank an alle bisherigen Leser und an alle, die's noch werden wollen.
(Cover: © Lukas Breusch / pixelio.de; www.pixelio.de)
Unterwegs aufgehalten
Als er erwachte, hatte Henry das Gefühl, als hätte er für immer und einen Tag geschlafen. An den Albtraum von zuvor konnte er sich jedoch nur allzu gut erinnern. Die Kopfnuss, dann das Dunkel. Was war passiert? Sein Schädel brummte gewaltig. Konnte nur der selbst verschuldete Kater sein. Und Linda, dieses elende Miststück, schien es für angebracht gehalten zu haben, einen vollen Eimer Wasser über ihn zu ergießen, um ihn zu wecken, statt ihn einfach nur wach zu rütteln. Damit dürfte sie das gesamte Wohnzimmer eingesaut haben. Die Sauerei würde sie gefälligst selbst wieder beseitigen. Dann, als er allmählich wieder zu sich kam, spürte Henry schlagartig seine unbequeme Haltung bis in alle Glieder, und ihm wurde klar, dass er für gewöhnlich nicht aufrecht auf der Couch schlief und somit ziemlich sicher auch gar nicht auf der Couch lag.
Ruckartig riss er die Augen so weit auf, wie sein kontinuierlich pochender Schädel es zuließ. Sein rechtes Auge brannte wie Feuer. Hastig wischte Henry mit der Hand darüber. Blut! Es klebte Blut an seiner Hand. Warum Blut, dachte er kurz angebunden und ging im Staccato die logischsten Erklärungen durch, die ihm spontan einfielen, ohne jedoch auch nur im Ansatz zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Geschockt sah er sich um und erkannte endlich, was er eben noch für einen Eimer Wasser gehalten hatte.
Es war tatsächlich Wasser. Wasser im Auto. Wasser, das ihm bereits bis zum Bauchnabel stand. Überall war Wasser! Und nun spürte Henry auch endlich die Kälte in seinen Beinen. Seine Füße jedoch, fühlten sich seltsam warm an. Wie lange hatte er hier gelegen?
Jetzt weniger benommen, dafür jedoch zutiefst orientierungslos und einer kolossalen Panik nahe, schaute Henry durch die Windschutzscheibe, konnte bei aller Dunkelheit jedoch nichts erkennen. Das Licht der Scheinwerfer war aus. Auch der Motor. War er mit etwas zusammengestoßen? Vielleicht mit einem Wildschwein? Einem Schild?
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Von einem Fenster zum nächsten warf Henry hektische Blicke und sah doch überall nur das gleiche Bild: Dunkelheit. Wabernde Dunkelheit, und wenn schon im Innenraum des Autos Wasser war, dann konnte auch das Wabern nichts anderes bedeuten als Wasser. Wasser, das offensichtlich das gesamte Auto umgab. Langsam, doch fortwährend, musste es ins Fahrzeuginnere gesickert sein. Doch wie konnte das passiert sein? Wie war der verdammte Mercedes von der Straße ins Wasser gelangt? Eine Erklärung für die prekäre Lage suchend, beugte Henry sich im Sitz nach vorn, spähte über dem Armaturenbrett nach oben durch die Windschutzscheibe und konnte den Ansatz der Brücke erkennen, die er entweder verfehlt hatte oder aber von der er gestürzt war. Es war zu dunkel, um deuten zu können, wo genau er sich befand. Doch letztlich war das auch völlig belanglos, denn in jedem Fall, das war Henry klar, saß er mächtig und unwiderruflich in der Scheiße. Und das nur, weil offensichtlich weder das Autoradio, noch stetiges Wachrütteln des eigenen Kopfes einen Nutzen gehabt hatten. Er war also doch eingeschlafen. Eigentlich gab es nur eine Brücke in der Gegend, nur einen Fluss. Es konnten demzufolge nur noch zehn Kilometer bis nach Hause gewesen sein. Eine plötzliche Wut auf sich selbst mischte sich in die Hysterie, die Henry sowieso bereits umgab.
Mit einer zittrigen Bewegung presste er sich wieder zurück in den Sitz, atmete keuchend, versuchte der Panik zu entfliehen, die nun bereits penetrant an die Pforte seines Verstandes klopfte und um Einlass zum nächtlichen Verbleib bat. Alkohol ist ein Feigling, dachte Henry zusammenhanglos. Kaum saß man in der Patsche, verdrückte er sich schleunigst aus dem Kopf und ließ einen völlig nackt und hilflos zurück. Mit vor Schmerz und Schreck flatternden Augen versuchte Henry, das bedohliche Gewässer zu fixieren, von dem ihn nur der ihn umgebende Mercedes trennte. Außen stand das Wasser bereits höher als innen, was bedeuten musste, dass er sank! Er sank, und das Auto war kein Schutz, es wurde ein Grab! Instinktiv griff Henry zur Tür, die sich – natürlich – nicht öffnen ließ.
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»VERDAMMTE SCHEISSE«, brüllte Henry und trommelte wütend mit den Fäusten abwechselnd auf das Lenkrad und gegen das Autodach. »WARUM HAT DIE DÄMLICHE KISTE KEIN SCHIEBEDACH?«
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Er schlug die Hände vor das Gesicht und startete einen neuen Versuch, sich zu konzentrieren und alles, was er an nützlichen Gedanken zusammenbekommen konnte, zu bündeln. In diesem Augenblick kamen ihm weder Jenny noch Linda in den Sinn. Henrys gedanklicher Horizont ging derzeit tatsächlich nicht über die Fahrerkabine seines Mercedes hinaus, was jedoch scheinbar genug Platz für seinen Verstand zu sein schien, um ein paar schwindelerregende Runden zu drehen. Und doch musste er sein Geisteskostüm ausbremsen, musste klar im Kopf werden, klar, um die Situation richtig einschätzen zu können. Um handeln zu können.
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Wenn er von der Brücke gestürzt war, dann musste er eine Absperrung durchbrochen haben. Irgendjemand würde das doch entdecken müssen, würde das Auto im Wasser erkennen und Hilfe rufen. Vielleicht war die Hilfe längst unterwegs. Andererseits war die Straße um diese Zeit so gut wie nie befahren. Es konnte genauso gut Stunden dauern, bis überhaupt jemand vorbeikam. Dann wäre es völlig egal, ob sein Unfall deutliche Spuren hinterlassen hatte oder nicht. Es war also, wie es so oft war: Henry würde selbst der Mann sein müssen. Er dachte weiter. Sein Verstand wurde allmählich schärfer, was bedeuten musste, dass seine Überlebensinstinkte sich endlich zu Wort meldeten. Immerhin ein Anfang, auf dem sich vielleicht aufbauen ließ.
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Tür öffnen war nicht drin, das hatte er ausprobiert. Henry versuchte, die Scheibe herunterzulassen, doch auch das funktionierte nicht. Vor einigen Minuten hätte es vermutlich noch geklappt, doch jetzt stand das Wasser zu hoch, und der Druck presste wie ein Ringkämpfer ohne Erbarmen von außen gegen das Glas. Wütend hämmerte Henry gegen die Scheibe, als könnte er einzig mit seiner Faust gegen die unendlichen Wassermaßen ankämpfen. Spar deine Energie, flüsterte ihm jedoch seine Vernunft, das Chaos in seinem Kopf durchschneidend, zu. Henry ließ verzweifelt die Hand sinken und ins Wasser platschen. Und erst jetzt bemerkte er, dass der Wasserspiegel innerhalb des Autos inzwischen bereits deutlich gestiegen war. Das Wasser reichte ihm bis knapp unter die Brust.
Raus hier!
»Druckausgleich«, platzte es aus Henry heraus, als wäre ihm augenblicklich die Lösung zu dem verdammten Kreuzworträtselbegriff in den Sinn gekommen, an dem er bereits den ganzen Tag knobelte. Ihm fiel ein, dass er genau zu dieser und zwar genau zu dieser Situation vor längerer Zeit die nächtliche Wiederholung eines Fernsehberichtes gesehen hatte. Er war an jenem Abend spät aus dem Büro gekommen und hatte sich, wie so oft, wie ein gefällter Baum auf die Couch fallen lassen, um noch etwas fernzusehen und Linda nicht ertragen zu müssen, die sich an diesem Abend, wie auch an den meisten anderen, früh ins Bett begeben hatte. In dieser Sendung, wie auch immer sie geheißen haben mochte, wurde behauptet, dass Autotüren nur zu öffnen seien, wenn Innen- und Außendruck gleich seien. Klang eigentlich ziemlich logisch, sofern Henry das jetzt noch beurteilen konnte. Seine Anspannung ließ augenblicklich um einige Nuancen nach, war doch so etwas wie Rettung in Sicht. Er würde lediglich etwas warten müssen und dann doch noch rauskommen. Alles bestens, kein Problem.
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Doch Mist, er musste schließlich auch atmen. Wie sollte das jetzt bitte funktionieren? Nach kurzem Überlegen hatte Henry einen groben Plan zusammengeschustert. Er würde sich ans Dach des Autos pressen, im letzten Moment die Luft anhalten und dann die Tür öffnen, sobald es ihm möglich war. Das Wasser berührte inzwischen bereits sein Kinn. Erschreckt hielt Henry inne. Und schon kurz darauf stand ihm das Nass bis zur Unterlippe. Das Auto lief schneller voll, und es sank auch schneller, als noch vor einigen Minuten. Jetzt, da er bewusst darauf achtete, bemerkte Henry, dass er beim Blick durch die Windschutzscheibe nur noch am oberen Rand einen schmalen Streifen Luft erkennen konnte, der jedoch sichtbar dünner wurde, um schon kurz darauf gänzlich von den todschwarzen Wassermassen verdrängt zu werden.
Es wurde also brenzlig! Blitzschnell sauste Henrys rechte Hand ins Wasser, um den Gurt zu lösen. Wie auf Kommando erhob er sich aus seinem Sitz, worauf sofort stechende Schmerzen in seine Glieder schossen. Der Aufprall muss es in sich gehabt haben, dachte Henry kurz. Dann presste er seine linke Gesichtshälfte an die Innenseite des Autodachs, die Augen zur Windschutzscheibe gerichtet, welche nun ein gänzlich schwarzes Bild zeigte, als wäre sie nicht anderes, als eine Mattscheibe. Mit blinden Händen tastete Henry am Türgriff herum, versuchte sie zu öffnen, während der Wasserspiegel im Innenraum erbarmungslos anstieg. Keine Chance!
Nur wenige Augenblicke später berührte das Wasser Henrys rechte Wange. Raus hier, raus hier, kreischten ihm sämtliche Gedanken dissonant und ständig wiederholt in einem chaotischen Chor entgegen. Gleich würde das letzte bisschen der kostbaren Luft verschwunden sein, um sich dem stillen, heimtückischen Wasser zu ergeben, und spätestens dann würde er die Tür öffnen müssen. Viele Versuche hatte er definitiv nicht. Nie zuvor in seinem Leben hatte Henry sich so sehr nach dem sonst so selbstverständlichen Gut namens Freiheit gesehnt, nach Luft, nach Bewegung. Nie zuvor hatte er -
Es war so weit! Der Wasserstand würde im nächsten Augenblick das Dach des Autos erreichen. Henry sog so viel von der verbliebenen Atemluft ein, wie seine vom Aufprall gequetschten Lungenflügel ihm gestatteten. Sein Herz hämmerte wie andauerndes Trommelfeuer. Er stieß sich mit den Händen vom Autodach ab und ging in die Hocke, um die Füße am Beifahrersitz abstützen zu können. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Autotür, während der den Türgriff hochgezogen hielt.
Doch die verflixte Tür wollte sich partout nicht bewegen lassen. Tödliche Panik breitete sich in Henrys Kopf aus. Er würde ersticken müssen, falls er hier nicht heraus kam. Oder ertrinken. Beides war ihm in dieser Sekunde so grausam nahe, dass sein Vorstellungsvermögen sich weigerte, diese Gedanken als Konsequenz seiner Situation zu akzeptieren. Der gesamte Augenblick war surreal geworden, nicht echt, einfach nicht wirklich. Schließlich las man von solchen Unfällen höchstens in der Zeitung, sah sie sich kopfschüttelnd, mit der Tageszeitung auf dem Schoß und einer Tasse Kaffee in der Hand, im Fernsehen an oder akzeptierte sie als Spannungselement eines Groschenromans, dessen zerlesenes Exemplar man zum Verkürzen von Wartezeiten immer mal wieder aus der Aktentasche zog. Und meistens dachte man, dass der Typ in dem Wagen doch ein ziemlicher Idiot sein musste. Nun war es an Henry, der Idiot zu sein.
Mit aller Gewalt presste er sich jetzt in immer neuen Schüben gegen die Tür, die sich noch immer nicht regen wollte. Ein Gedankenfetzen schoss ihm plötzlich durch den Kopf. Sie musste verklemmt sein, musste es einfach, schließlich war das Auto kurz vor dem Sturz ins Wasser mit irgendeinem Hindernis kollidiert. Vor Henrys geistigem Auge erschien nun der rettende Gedanke: Die Beifahrertür!
Hastig drehte Henry sich herum, stieß sich von der Fahrertür ab und ging an der Beifahrertür wieder in Stellung. Da er sich, scheiße auch, deutlich zu lange an der Fahrertür aufgehalten und dort seine gesamte Kraft zum Einsatz gebracht hatte, enthielten seine Lungen jetzt nur noch letzte Luftreserven. Henry hatte bereits das Gefühl, als würden seine Augäpfel im nächsten Moment aus den Höhlen quellen. Unter Aufbringung aller ihm verbliebenen Kräfte presste er sich gegen die Beifahrertür. Die Schwärze vor seinen weit aufgerissenen Augen wurde in dieser Sekunde durch großflächige, bunte Punkte verdrängt, die im Takt seines hämmernden Pulses größer und kleiner wurden, wild miteinander tanzten, fusionierten und schließlich wieder auseinander stoben. Er musste dringend an die Wasseroberfläche kommen, sonst würde dieses Auto sein Sarg werden. Der Gedanke war so unausweichlich wie die drohende Gefahr selbst. Henry gab sich selbst nur noch wenig Zeit. Es eilte, und jede Millisekunde konnte jetzt entscheidend sein.
Tatsächlich war an der Beifahrertür weniger Kraft nötig, als Henry befürchtet hatte. Die Fahrertür musste also wirklich leicht verklemmt sein. Aus dem Inneren des Autos war das eben nicht auf Anhieb zu sehen gewesen. Selbstverständlich war ihm dieser lebenswichtige Gedanke auch kein Stück früher in den Sinn gekommen. Aber nun ließ sich immerhin die Beifahrertür, wenn auch mit sehr viel Nachdruck, gähnend langsam aufdrücken.
Jetzt endlich, bot die Tür einen rettenden Spalt, der Henry ein Entkommen ermöglichen würde. Sein Körper schwächelte bereits erheblich unter dem grässlichen Luftmangel, denn alle Reserven waren aufgebraucht, doch schaffte er es trotz der wahnsinnigen Panik, die ihn im Würgegriff hielt, nun ganz langsam, durch den Spalt zu rutschen.
Sofort, nachdem Henry aus dem sinkenden Autowrack geschlüpft war, versuchte er, seine lahmen, kraftlosen Gliedmaßen zu Schwimmbewegungen zu zwingen, um an die rettende Oberfläche zu kommen. Die bunten Farben vor seinen Augen hatten ihre Feier unterdessen beendet und ließen eine zunehmende tödliche Schwärze zurück. Sollte er jetzt ohnmächtig werden, dachte Henry gerade noch geistesgegenwärtig, wäre dies hundertprozentig sein Ende.
Kaum hatte zu Ende gedacht, da realisierte Henry, dass sein Kopf tatsächlich dabei war, die rettende Wasseroberfläche zu durchstoßen. Hektisch brachte er sein Gesicht über Wasser, riss den Mund auf, so weit er konnte und ließ köstliche Luft in seine Lungen strömen. Sofort spürte er, wie sämtliche Lebensgeister aus dem Scheintod erwachten, wie eine Woge der Erleichterung über seinen Verstand und seine Sinne hereinbrach und die Panik mit Pauken und Trompeten vertrieb. Für diesen wunderbaren Moment genoss Henry das unbezahlbare Privileg, atmen zu dürfen, nicht mehr in den mörderischen Stahlsarkophag eingesperrt zu sein, der nun still einige Meter unter ihm lag, sondern frei zu sein, frei, um die Arme auf dem Wasser ausbreiten zu können, frei, um sich an der lebensspendenden Luft gütlich zu tun, frei, sich dem Rausch der Ungezwungenheit eines ganzen Lebens hinzugeben, frei zu lachen, zu schreien, zu -
Ein plötzlicher Ruck riss Henry aus diesem letzten, glücklichen Ohnmachtstraum zurück in die grausame, düster trübe Gegenwart. Orientierungslos und tödlich geschwächt sah er an sich herab und konnte in der Dunkelheit vage erkennen, dass sein rechter Fuß durch den geöffneten Spalt noch immer in das Auto hineinragte. Er hing fest! Er war unter der Wasseroberfläche gefangen, während sein vermaledeiter Verstand ihm die wunderbare Erfahrung der Rettung vorgegaukelt hatte.
Mit einem mikroskopisch kleinen Rest an Kraft versuchte Henry, in einer resignierten Schüttelbewegung seinen Fuß zu befreien. Ohne Erfolg.
Der Gurt! Es musste der verdammte Gurt sein, in dem er sich verfangen hatte. Henry versuchte, seinen Oberkörper noch einmal herabzubeugen, um sich mit den Händen aus der tückischen Schlaufe zu befreien, doch noch im Ansatz seines verzweifelten letzten Selbstrettungsversuches verschwand die düstere Unterwasserszenerie vor seinen Augen, um einer schnellen Abfolge von Bildern Platz zu schaffe, die Henrys Erinnerungsschatz entstammten und sich nun völlig aus dem Zusammenhang gerissen abspulten: Er sah Jenny, die sich auf seinem Schreibtisch vorbeugte, ihren vulgär weiten Ausschnitt präsentierte, sah, wie sie sich vor ihm räkelte. Er sah Linda und sich, sah das gemeinsame Hochzeitsfoto, sah ihr Gesicht, ihr Lächeln, wenn er mit ihr geschlafen hatte, sah sie während all der Streitereien, die sie gehabt hatten. Er sah seine Kinder, deren Probleme des Lebens noch darin bestanden, sich ständig wegen kleinster Lappalien in die Haare zu kriegen. Er sah seine Eltern, die im Garten auf der Hollywoodschaukel saßen. Er sah seinen Bruder, der im Alter von 14 bei einem Verkehrsunfall gestorben war, sah die Beerdigung, er sah alles, sah ein ganzes Leben, und es war so, wie es immer beschrieben wurde: ein selbst ablaufender Film. Schnelldurchlauf. Die rasanten Bildabfolgen verschwammen ineinander, wurden dunkler und verschwanden schließlich in einem unendlichen Meer der finalen Finsternis.
Es war vorbei. Keine Kraft, keine Hoffnung, kein Morgen. Henrys Verstand hatte resigniert, das Handtuch geworfen. Jetzt würde alles ganz schnell gehen. Ohne einen weiteren Gedanken öffnete Henry den Mund und tat, was nun einzig blieb: er ließ das Wasser in seine Lungen strömen. Stechende Schmerzen. Kamen. Ließen nach. Gingen. Alles bestens, kein Problem.
Die Heimfahrt
Der Mittelstreifen der im Schlund der Nacht verschwindenden Landstraße, der das Licht der Autoscheinwerfer in abhebendem Weiß reflektierte, bog sich willkürlich vor Henrys Augen abwechselnd von links nach rechts, tanzte wie eine Schlange unter dem Flötenspiel eines Fakirs. Hier und da begann er, sich zu spalten, schien in zwei Richtungen zur gleichen Zeit auseinanderdriften zu wollen, um im Duett in nächtlicher Ungewissheit zu entschwinden.
»Mist«, entfuhr es Henry aus einem Reflex heraus, und er befahl seinem ermatteten Kopf augenblicklich, sämtliche Konzentrationsreserven zu bündeln, um sich aus der verführerischen Umarmung des Sekundenschlafs zu befreien, der ihn sachte gepackt und ihm geheuchelte Gutenachtküsse geschenkt hatte. Henry schüttelte wild den Kopf, rollte mit den Augen und schaute dann nach vorn durch die Windschutzscheibe, um beruhigt festzustellen, dass der Mittelstreifen wieder das tat, was er sollte: die linke von der rechten Straßenseite trennen. Alles bestens also, kein Problem.
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Lange müsste er das Müdigkeitsmartyrium jedoch ohnehin nicht mehr bekämpfen. In knapp einer halben Stunde würde er daheim angekommen sein, sich auf Zehenspitzen ins Haus schleichen und auf der platzspendenden Wohnzimmercouch den Schlaf des Gerechten finden, den Rausch eines wilden Abends kurieren.
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Natürlich würde Linda die verräterischen Überbleibsel seines Alkoholatems noch am nächsten Morgen überall in der Wohnzimmerluft riechen, und selbstverständlich würde sie wissen, dass ihr Mann keine Überstunden im Büro geschoben, sondern die Nacht zusammen mit einer unlängst erratenen »Arbeitskollegin« mindestens auf dem Tanzparkett, höchstwahrscheinlich jedoch eher beim Stelldichein verbracht hatte. Und selbstverständlich würde sie ihm vorwurfsvolle, giftige Blicke zuwerfen. Doch keinesfalls würde sie nach der Wahrheit bohren, würde keine Anstalten machen, Fragen zu stellen, denn Henry und Linda hatten sich schon seit Jahren nur noch das Nötigste zu sagen, und das Nötigste umriss für gewöhnlich vorwiegend die Aufteilung des Haushaltsgeldes. Denn spätestens, seit das Schreckgespenst namens Normalität begonnen hatte, Einzug in ihr Eheleben zu halten, hatten beide nur noch nebeneinanderher gelebt, hatten die Liebe zum weiteren Einstauben in den Schrank verkommener Gefühle gesperrt, um sich fortan mit Gleichgültigkeit zu umgeben. Und nun war der Behemoth im Gewand der »Zweckehe« geweckt, unterhalten um der beiden Kinder willen, die das heimische Nest noch lange nicht verlassen würden und um ihnen ein unbeschwertes Aufwachsen zu ermöglichen und vielleicht auch aus Furcht vor dem drohenden Einsamkeitskater nach einer Scheidung.
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Henry bog den Rückspiegel seines Mercedes so zurecht, dass er sein mitgenommenes Äußeres darin begutachten konnte. Die vom Zigarettenqualm und der langen Nacht blutunterlaufenen Augen konnte er trotz Lichtmangel mehr als deutlich erkennen. Das schummrige Glimmen der Innenbeleuchtung tat sein Übriges und zeichnete unbarmherzig die dunklen Ringe unter Henrys Augen nach. Er richtete den Rückspiegel etwas weiter nach oben aus. Vom Schweiß der Nacht dicksträhniges Haar hing ihm tief in die Stirn. Henry hob die Hand und wischte es flüchtig zur Seite. Wenn Linda ihn so sehen würde, dachte er, bräuchte er nicht einmal versuchen, zu lügen. Seine geschundene Erscheinung schrie förmlich heraus, dass er seinen Abend und mindestens die halbe Nacht nicht mit dem Herumschubsen von Aktiva und Passiva an seinem Schreibtisch verbracht hatte. Immerhin kein Lippenstift am Hemdkragen, dachte Henry und konnte sich ein zynisches Grinsen ob dieses Gedankens nicht verkneifen.
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Bezüglich einer Sache hatte er in früheren Erklärungsversuchen immerhin nicht gelogen, versuchte er sich selbst zumindest halbherzig immer wieder gern zu beschwichtigen: Jenny war tatsächlich seine Arbeitskollegin. Nun gut, sie war seine Praktikantin, in erster Linie angestellt, um Berge von Akten zu sortieren und alte oder unangenehme Papiere zu vernichten. In zweiter Linie allerdings, war sie vor allem blutjung und außerordentlich attraktiv, was beim Vorstellungsgespräch kein ganz unerhebliches Kriterium für ihre anschließende Einstellung gewesen war. Henry war der, wie er fand, lolitahaften Jenny fast um zwanzig Jahre voraus, hätte also, was das betraf, ebenso ihr Vater sein können. Doch war er nicht ohnehin ein vorzüglicher Wein, der im Alter ausschließlich besser wird? Die nicht eben negativen Reaktionen der meisten Frauen auf seine Person schienen ihm seit jeher Recht zu geben, so auch die der Praktikantin seiner Wahl, die er heute Nacht nicht zum ersten Mal ausgeführt hatte. Im Prinzip, dachte Henry, war das, zumindest heute, seiner Frau gegenüber nur unwesentlich verlogen. Er hätte es mit Jenny schließlich auch einmal mehr nach Feierabend im Büro auf seinem ausladenden Schreibtisch treiben können, statt, wie heute, nur mit ihr tanzen zu gehen. Alles bestens also, kein Problem.
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Henry war gerade dabei, seine von kaltem Schweiß nasse Stirn mit der Handfläche trocken zu reiben, als sein Gesicht plötzlich hell ausgeleuchtet wurde. Er schaute wieder auf die Fahrbahn und erkannte in der Ferne zwei Scheinwerfer, die direkt auf ihn zuhielten. Ein überrascht klingender Laut entfuhr seinem zusammengekniffenem Mund, nachdem er nun endlich bewusst festgestellt hatte, dass er seit offensichtlich geraumer Zeit auf dem Mittelstreifen dahinfuhr. Ohne große Hektik schwenkte er das Lenkrad des Mercedes nach rechts und hielt wieder auf die richtige Fahrbahnseite zu. Drei kleine Biere und einige Schnäpse nach Feierabend, dachte er, waren wohl doch ein wenig mehr, als ein vorzüglicher Wein wie er mit Mitte Vierzig noch problemlos verkraften konnte. Dann war das entgegenkommende Auto auch schon an ihm vorübergezogen. Glücklicherweise keine Polizei. Allein sein Aussehen hätte ausgereicht, um ihm freundlich das Röhrchen zu reichen. Und Linda mochte zwar nicht mehr viel Relevantes zu sagen haben, doch speziell in diesem Fall wäre sie zweifelsohne mit größtem Vergnügen über ihn hergefallen wie eine Hyäne, allein schon, da sie wüsste, dass ihr Recht dieses Mal unwiderlegbar wäre.
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Das Autoradio, dachte Henry plötzlich, worauf der unangenehme Gedanke an Linda verpuffte. Er hätte es schon längst anstellen können, was seiner Müdigkeit sicher entgegen gewirkt hätte. Hastig arbeitete sein Zeigefinger sich nun durch das spärliche Repertoire an Sendern, doch wirklich erweckende Musik schien um diese Uhrzeit wohl keine so rechte Zielgruppe mehr zu finden. Und so blieb das Radio schließlich auf irgendeinem Sender, der seine Hörer mit psychedelischen und eintönigen Elektroklängen besäuselte. Wohl für die LSD-Fraktion. Passende Zielgruppe um diese Uhrzeit, wie Henry fand. Wäre nicht alles rings um die Straße eine einzige schwarzgraue Suppe gewesen, so würde er vielleicht auch ohne die Hilfe von »Radio Hörschaden« wach bleiben. Doch manchmal musste man eben nehmen, was man kriegen konnte, zumal der Alkohol in Henrys Blut noch immer seine besten Überredungskünste einsetzte, um ihn baldmöglichst von einem gemütlichen Nickerchen zu überzeugen.
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Es musste nicht erst viel Zeit ins Land ziehen, da schien die Straße sich einmal mehr schlangengleich zu winden, als wollte sie Henry mit ihren rhythmischen Bewegungen hypnotisieren. Gerade noch bei Sinnen, schüttelte er erneut den Kopf, um wieder klar zu werden. Und schon folgte die Straße wieder der ihr zugedachten, und vor allem geraden, Bahn. Doch waren die wahrgenommenen Windungen nicht auch eine hervorragende Assoziationsgrundlage? Waren sie nicht irgendwie wie Jenny gewesen? Wie sie getanzt hatte? Wie sie sich überhaupt bewegte? Dass er heute Abend nicht mit ihr ins Bett gestiegen war, bedeutete schließlich nicht, dass er keine Lust auf sie gehabt hätte. Sie hatten es nur nicht geschafft, die passende Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen, wie das manchmal eben so ist.
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Was Jennys »Softskills« betraf, war Henry zwar nicht gerade der Meinung, dass sie das Prädikat »Granate« verdient hätte (da hatte er schon ganz andere Kaliber erlebt), doch diese rhythmischen Bewegungen ihres jungen, festen Körpers, wenn sie auf ihm ritt, waren sein Opium gewesen. Sein Garant für detonierende Orgasmen. Allein schon die Tatsache, dieses Bild vor dem inneren Auge ablaufen zu sehen, ließ Henrys in sexuelle Erregung geraten. Er sah Jenny nun deutlich vor sich, wie sie majestätisch auf ihm saß, ihren zierlich geformten Körper kreisen ließ, dabei den Kopf lustvoll nach hinten warf und ihre Brüste nach vorn presste, um sich sodann zu ihm herunterzubeugen, ihn leidenschaftlich zu umschlingen und ihre Zunge in seinen Mund zu pressen. Er sah sie, wie sie sich von ihm erhob, ihn mit vor Erregung glasigen Augen und geröteten Wangen anschmachtete und-
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-sich blitzartig in Linda verwandelte, die ihn zähnefletschend und mit geschärften Messern in den Augen anstarrte. Sie durchbohrte ihn mit diesem hasserfüllten Blick, bis sich ihr Gesicht plötzlich wie flüssiges Wachs verformte und zu einer grässlichen Fratze verzog. Still und drohend hielt sie für einen Moment inne, als wäre sie erstarrt. Dann begann sie, ihren Mund zu öffnen, weiter und weiter, bis Ober- und Unterkiefer fast auseinanderzureißen schienen. Als wäre sie eine Riesenschlange, die sich anschickte, ein großes Beutetier herunterzuwürgen, ein Beutetier, das Henry hieß. Doch inzwischen besaß diese Linda gar keinen Mund mehr. Stattdessen klaffte in dem Teil, der vorher ein Gesicht gewesen war, ein riesiges schwarzes Loch, aus dem sie augenblicklich einen dröhnenden, metallisch schrillen Schrei ausstieß, der in einem ohrenbetäubenden Krachen mündete. Und plötzlich schossen gewaltige Wasserfontänen aus dem Maul dieses Dings auf Henry herab. Panikartig versuchte er, das Monster, das noch eben Linda und zuvor seine Jenny gewesen war, von sich zu stoßen. Doch schon im nächsten Augenblick hämmerte das Ding seinen grotesk verformten Kopf, in dem ein Gesicht nicht mal mehr zu erahnen war, mit brachialer Wucht gegen Henrys Stirn. Ein gewaltiger Schmerz fuhr augenblicklich durch seinen gesamten Körper. Dann folgte ein schreckliches Schwindelgefühl, und gleichzeitig verblasste die Welt zu einer schwarzen Mattscheibe.