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6. Kapitel: Sinti und Roma
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Als Emma am anderen Morgen erwachte waren Wilhelm und Ludolf schon lange aufgebrochen, um die Körbe an Agatha von Urslingen zu liefern.
Emma stand auf und ging zur Schlafstätte ihres Vater, um ihm den Guten Morgen Gruß abzustatten. Bei der Schlafstelle angekommen ließ die Anordnung der Wolldecken, sowie die mit Stroh gefüllten Jutesäcke einen schlafenden Menschen dort vermuten.
„Bon Jour, Monsieur le Papa“, sagte Emma kess, und stupste den vermeintlichen Rücken ihres Vater an, als sie erschrocken feststellte, dass ihr Vater gar nicht dort lag..
Sie blickte sich schlaftrunken im Lager um und stellte mit Bestürzung fest, dass auch Wilhelm und das Pferdegespann fehlten.
„Guten Morgen!“, hört sie ihre Mutter vom Rande eines Gebüschs her sagen. „Wie hast du geschlafen mein Kind?“
„Wo ist Papa und wo ist Wilhelm und der Wagen?“, will Emma wissen, da sie im ersten Moment vermutete, dass sie in letzter Nacht überfallen worden wären.
„Die sind schon sehr früh nach Ribeauvillè gefahren, um die Körbe auszuliefern! Danach wollen sie sich noch nach einem geeigneten Verkaufsstandplatz für das Pfifferfest erkundigen!“
„Oh Gott, und ich dachte, es wäre niemand mehr da! Wir sind also nicht überfallen worden?“
Wie kommst du darauf, mein Kind?“
„Ja wegen der Geschichte von gestern, die Wilhelm von den beiden Männern erlauscht hatte!“
„Nein, es ist alles ruhig geblieben. Wir haben letzte Nacht alle Wache gehalten. Nur du hast fest geschlafen!“
„Dann seit ihr wohl jetzt alle Müde?“
„Nein, es haben nur alle jeweils zwei Stunden Wache gehalten, während die anderen schliefen!“
„Ach so! Wo sind denn Oma, Opa und Marie?“
„Die sind zum Bach sich waschen gegangen!“, sagt Mutter Hedewig und kommt mit einem Blecheimer voll Wasser vom Gebüschrand zum Lager.
Jetzt bei Tageslicht sah man erst, dass das Lager gut gewählt war. Unweit des Lagers floss ein kleiner Bach in den Rhein, aus dem man frisches Wasser zum Kochen und zum Waschen holen konnte.
Lange davor machten sich Ludolf und Wilhelm auf den Weg nach Ribeauvillè.
Nachdem sich Ludolf am Bach frisch gemacht hatte, alle anderen schliefen noch, weckte er Wilhelm und teilte ihm mit, dass sie losfahren wollten um die Körbe zu liefern.. Er trug trotz der morgendlichen Frische, außer seiner Baumwollhose nur ein weißes Unterhemd. Er blies darauf die letzte Glut im Feuer wieder an und legte trockenes Holz auf. Kurz darauf züngelten die ersten Flammen empor und er legte noch einige größere Holzscheite nach. Bald war das Lagerfeuer wieder in Gang gebracht und verbreitete eine wohlige Wärme.
Wo die Katze die Nacht übergewesen war wusste man nicht. Der Hund Balduin hatte wie gewohnt unter dem Wagen zugebracht und immer wieder die umliegende Gegend erschnüffelt.
Beide Tiere kamen jetzt in die Nähe des Feuers und streckten ihre Glieder. Balduin streckte beide Vorderläufe von sich und spannte seinen Rücken. Die Katze streckte die Pfoten, fuhr ihre Krallen kurz aus, machte danach einen Buckel und rollte sich mehrmals im Gras.
„Na, ihr Beiden, seit ihr auch schon munter?“, fragte Ludolf seine Tiere. Dabei streichelte er den Hund Balduin, während Schnurli sich von Wilhelm kraulen ließ.
Nachdem die Pferde angespannt waren, und die beiden Esel am Gebüsch befestigt worden sind, machten die Beiden sich auf den Weg.
Nachdem Ludolf und Wilhelm weggefahren waren entstand kurze Zeit später Leben im Lager. Nach und nach kamen alle aus ihrem Nachtquartieren hervor. Großmutter Notburga hatte bereits aus dem Wagen alles Essbare hervorgeholt und stellte das gemeinsame Frühstück auf dem roh gezimmerten Holztisch bereit. Dann ging sie zum nahegelegenen Bach, um sich zu waschen. Gunther begleitete seine Frau und trug die Handtücher und ein Stück Kernseife hinterher.
„Vadder“, sagte Notburga auf dem Weg, „Du solltest den Kindern schon etwas mehr über unsere Vorfahren, die Pfeifer erzählen. Deine Geschichte von Gestern hat in ihnen ein ganz neues Gefühl geweckt!“
 „Ich weiß, es ist an der Zeit, dass sie mehr über die Vergangenheit unserer Familie erfahren! Vielleicht finde ich Gelegenheit dazu nach dem Frühstück!“
Überall wo die Wittichs im Land herum kamen, tauschten sie die unterschiedlichsten Waren ein, die für ein Leben unterwegs gebraucht wurden. Sie besaßen somit auch richtigen Bohnenkaffe den sie bei einer Durchreise, in der Hansestadt Hamburg direkt im Freihafen von einer kleinen Privatrösterein gekauft hatten.
Nachdem alle am Frühstückstisch saßen, durchzog kurze Zeit später das Aroma von frischem Kaffee das Lager.
„Wenn ich die Geschichte von gestern richtig verstanden habe“, begann Maria das Gespräch mit ihrem Großvater Gunther“ ,hat unsere Sippe den Herren von Rappoltstein sehr viel zu verdanken!“
„Ja, jedoch von denen lebt leider keiner mehr!“, antwortet Gunther. „Die Herren von Rappoltstein sind inzwischen alle ausgestorben!“
„Es werden bestimmt welche überlebt haben, auch wenn sie keine Grafen mehr sind, vielleicht heißen sie heute anders“, meinte Emma. „Ich jedenfalls glaube, dass es noch Nachfahren gibt. Wenn ich einem der Nachfahren der Rappoldsteins begegne, werde ich ihn sofort heiraten“, lachte Emma. „Oder doch nicht?“ Sie musste bei ihren Worten an Frederik denken.
„Das tue, mein Kind!“, nickte Opa Gunther seiner Enkelin Emma zu. Doch er selbst glaubte nicht, dass von den Rappoltsteiner Herren noch jemand lebte. Er kannte schließlich ihre Geschichte.
„Erzählst du uns ein bisschen mehr von den Rappoltstein und den Pfeifern?“, bat Maria ihren Großvater. „Ich konnte deswegen die halbe Nacht nicht schlafen, weil ich an die Geschichte unserer Vorfahren denken musste! Habe sogar geträumt, ich wanderte mit einer Flöte von einem Ort zum andern und erzählte Geschichten!“
„Das tust du auch so schon immer!“, lästerte Emma und lachte ihrer Schwester frech ins Gesicht.
„Ja, und du willst gleich einen Rappoltsteiner Grafen heiraten!“, konterte Maria. Dies war so ein Geplänkel, welches die Beiden, als Geschwister des Öfteren ausfochten.
 „Also gut“, sagte Gunther. „Bis Ludolf und Wilhelm wieder zurück sind haben wir Zeit.
Also es war so:
Im frühen Mittelalter war das Lesen Privileg der Gelehrten und Geistlichen. Wir Spielleute übernahmen die Aufgabe, das Neueste und Wichtigste in Lied und Wort der Bevölkerung bekannt zu geben. Was den Rittern damals die Minnesänger, den Städtern die Meistersinger, waren für die Landbevölkerung wir, als wandernde Musikanten. Den heimkehrenden Kreuzfahrern hatten sich damals Scharen von Sängern, Spielleuten, Possenreißern und Taschenspielern angeschlossen. Heimatlos zogen diese umher und besangen die Abenteuer der Helden der Kreuzzüge. Unsere Ahnen waren als fahrende Musiker, die in Konkurrenz zu den einheimischen Spielleuten traten, keiner Obrigkeit und keinen Regeln unterworfen. Wir waren deshalb bei Adel und Geistlichkeit verachtet und geringgeschätzt. In alten Chroniken wurden wir häufig „varende lüte, Pfiffer und andere erlose, onechte lüte“ genannt.
Um dem Treiben der Pfiffer Einhalt zu gebieten, wurden schließlich alle Fahrenden für rechtlos erklärt. Damit einher ging auch der Ausschluss aus der Kirche. Es lag ab sofort ein kirchlicher Bann auf unserem Volk!“
„Das ist ja schrecklich!“, hielt sich Maria bestürzt darüber, dass ihre Sippe dem Bann unterworfen wurde, die Hand vor den Mund.
„Wurden unsere Vorfahren als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt?“, will Emma wissen.
„Nein, davor blieben unsere Ahnen zum Glück verschont“, spricht Opa weiter. „Um diese haltlosen und die, die betroffenen 'ehrsamen' Spielleute diskriminierenden Zustände zu beenden, nahm Kaiser Karl IV. 1355 die Fahrenden, zu denen auch unsere Vorfahren zählten unter seinen Schutz, gab ihnen ein eigenes Wappen und ernannte Johann den Fiedler zum - Rex omnium histrionum.
Der deutsche König, als Schutzherr über diese Bruderschaften, vergab das Patronat als Reichslehen an mächtige Regionalherrscher. So ernannte sich zum Beispiel auch der Erzbischof von Mainz 1385 einen „König farender Lüte!“
„Ja, weil er dadurch wieder Macht ausüben wollte!“ Warf Hedewig ihre Bemerkung dazwischen.
Opa und die Anderen nickten ihr beistimmend zu.
„Um die gleiche Zeit scheinen sich auch die elsässischen Spielleute zur Bruderschaft zusammengeschlossen zu haben. Schutzherren wurden dann die Herren zu Rappoltstein!
„Wo kann man etwa über diese Geschichte nachlesen, Opa?“, fragt Maria.
„Ich habe über jener Zeit ein altes Buch bei meinen Sachen liegen, dort steht alles über unsere Vorfahren und die Rappoltstein drin! Notburga, würdest du mal das Buch holen, dass sich in meiner Kiste befindet?“, fragt Gunther seine Frau.
„Da musst du warten bis Ludolf und Wilhelm wieder da sind. Sie sind mit dem Wagen unterwegs!“
 Opa hatte ganz vergessen, dass die Beiden nicht da waren. Also beendete er seinen Bericht über das Erbe der Rappoltstein.
Nach dem Frühstück gehen Emma und Maria am Rheinufer spazieren. Sie wollten Ausschau halten und sehen, wann Ludolf und Wilhelm von Ribeauvillè zurückkehrten. Da erblicken sie Stromaufwärts und Stromabwärts sehr, sehr viele Wohnwagen und Gespanne, die dort am Rheinufer halt machten und ebenfalls ihr Lager im Forèt Domaniale de Marckolsheim aufgeschlagen hatten.
„Gestern war hier noch niemand zu sehen!“, sagt Maria zu ihrer Schwester. Die werden wohl letzte Nacht hier angekommen sein!“
„Bestimmt kommen die alle hierher, um in Ribeauvillè am Pfifferfest teilzunehmen!“
„Bestimmt!“, antwortet Maria.
„Es könnten vielleicht unsere Freunde, die Sinti sein, die angekommen sind!“, sagt Emma. „Lass uns doch mal zu deren Lager hingehen, vielleicht ist ja jemand bekanntes von uns in den Lagern!“
Gemeinsam machen sie sich auf den Weg, zu dem von ihnen nächstgelegnen Laberplatz. Beim Näherkommen erkennen sie das alte windschiefe Fuhrwerk von Raoul dort stehen. Dieser hatte sich abseits der anderen Fahrensleute nahe des Weges aufgestellt.
„Siehst du das Fahrzeug dort? Ist das nicht der Fremde, der uns berauben will?, flüstert Emma ihrer Schwester zu.
„Ja“, nickt diese. „Komm, lass uns hier in den Büschen verschwinden, sonst sieht er uns noch!“
Beide dringen links in die Büsche ein, die hier etwas weiter auseinander standen und pirschten sich langsam Richtung Lagerplatz. Von Büschen verdeckt beobachten sie das Treiben der Schausteller und fahrenden Leute. Vom Wagen Raouls aus konnten sie hier nicht entdeckt werden. Man sah dort überall braungebrannte Gesichter mit braunen Augen und pechschwarzem Haar.
„Das sind Zigeuner, die wir kennen, es sind die Roses!“, stößt Maria. Ihre Schwester an.
Schau mal Maria, da ist ja einer der Söhne aus der Sippe der Familie Rose!“
„Und sieh mal, das ist Maralda meine Freundin. Lass uns zu ihr hinübergehen!“
Maria wollte schon fort, um ihre Freundin zu begrüßen, da hält Emma sie am Rock fest und sagt schnell:
„Warte noch, da kommt dieser fiese Fremde genau in unsere Richtung!“
Raoul war aus seinem Wagen gestiegen und näherte sich den Beiden in den Büschen. Schnell zogen diese sich tiefer ins Gesträuch zurück und versteckten sich dort. Sie sehen, wie sich Raoul an den Rand des Gesträuchs stellt, um dort zu pinkeln. Danach kehrte er langsam schlenderndes Schrittes zu seinem Wagen zurück und verschwand darin.
Wie zufällig kommt die Zigeunerin Maralda nahe an dem Gebüsch vorbei, wo Maria und Emma versteckt sitzen.
„Psst, Maralda!“
„Wer ist dort drin?“, springt die Angesprochene erschrocken ein paar Meter vom Busch zurück.
„Ich bin’s, Maria Wittich!“
„Maria?“
Maralda schiebt die Äste des Gebüschs ein wenig auseinander, und sieht Maria und Emma auf einer Grasnabe kauern.
„Was macht ihr denn Hier?“, fragt sie erstaunt ihre Freundinnen hier zu sehen. Wie kommt ihr hierher?“
„Wir lagern mit unserer Sippe einige hundert Meter Flussabwärts!“
„Ah, dann war das Euer Lager welches wir letzte Nach gesehen haben, als wir hier um Mitternacht ankamen?“
„Psst, nicht so laut. Komm herein zu uns, wir müssen dir was erzählen!“
Maralda blickt sich kurz um, ob sie auch keiner beobachtet und schlüpft zu den beiden hinter das Gebüsch.
„Was gibt es denn?, fragte Maralda neugierig.
„Kennst du den Mann mit dem alten Kastenwagen dort drüben?“
„Nein, der kam in der letzte Nacht von der Stadt heraufgefahren, gerade als wir hier ankamen und unser Lager aufgeschlagen hatten. Er fragte, ob er mit seinem Kumpel die Nacht bei uns campieren könne. Seinen Kumpel, den anderen Mann kenne ich. Er nennt sich Marcel Herzberger und behauptet, dass er zur Sippe der Familie Herzberger gehöre. Doch ich glaube ihm das nicht. Er war zwar ein paar Mal mit unseren Freunden und Brüdern von den Herzbergern beisammen, daher kenne ich ihn auch, aber für mich ist er ein ausgesprochener Ganove! Was habt ihr denn mit diesen Leuten zu tun?“
„Unser Bruder Wilhelm hat die Beiden gestern belauscht und gehört, dass sie es auf uns abgesehen haben! Der Eine hat sich uns in Trier angeschlossen. Vermutlich haben die Beiden sich für unterwegs verabredet. In der Stadt Trier hatten wir, wie sagtest du heißt er, Herzberger auch schon gesehen, als er mit dem anderen sprach und danach in einer Kneipe verschwand!“
„Macht euch keine Sorgen, ich werde meinen Brüdern Bescheid sagen, dass sie die Beiden aus dem Lager verjagen. Mein Vater, der Zigeunerkönig, ist in die Stadt gefahren. Wenn er zurück ist, weiß er was zu tun ist. Ãœbrigens, die Sippe der Herzberger campen einen halben Kilometer Flussabwärts von euch. Geht ihr mal ruhig zu euerem Lager zurück, ich komme später nach, euch zu besuchen. Vater wird sich bestimmt freuen euch zu sehen!“
Damit verschwand sie wieder zurück zu ihren Leuten. Emma und Maria ging zurück zu ihrem Lagerplatz. Dort erzählten sie ihrer Mutter und den Großeltern, was sie gesehen hatten und wen sie getroffen haben.
„Ha“, lachte da Mutter Hedewig sarkastisch. „Da werden die beiden Gauner sich aber wundern, diese Dinnelos und Nabelos. Jetzt geht es ihnen an den Kragen!“
Dinnelo und Nabelo waren Ausdrücke, die der Zigeunersprache entliehen sind und soviel bedeuten wie: Dummkopf und Teufel. Nabelo war dem griechischen Begriff Diabolos entnommen.
Eine Stunde später kam Maralda mit einem ihrer Brüder zum Lager der Wittichs.
„Das ist mein Bruder Marco, der weiß Bescheid. Ich hab ihm erzählt, was ihr mir gesagt habt und er hat die beiden Gatsch (Kerle) den Weg gewiesen!“
Dieser gibt allen die Hand und sagt: „Wir haben die Gatsche vom Feld verjagt. Der eine Gatsch muckte zwar auf, da hab ich ihm aufs Maul gehauen und ihm mit der Kubatsch eine übergezogen. Diese Nabelos lassen sich so schnell nicht wieder in unserem Lager blicken!“
„Marco! Gehe du mal wieder in unser Lagere zurück und achte dort auf Ordnung solange Papa nicht da ist“, sagte Maralda, der es peinlich war, wie ihr Bruder sich ausdrückte.
Maralda, Maria und Emma hatten sich lange nicht gesehen und viel zu erzählen und so blieb Maralda im Lager der Wittichs, während ihr Bruder Marco zu ihrem Lager zurückkehrte.
„Wie gesagt“, erklärte Maralda, „unsere Sippe kam letzte Nacht in der Dunkelheit hier an und sahen Euer Lager nur Schemenhaft auf diesem freien Platz zwischen den Büschen!“
„Wir sind schon gestern Nachmittag hier angekommen, wir kamen von Luxemburg herüber!“, erklärte Maria ihrer Freundin.
„Vor einer Woche haben wir die wilde Siedlung, Köln Schwarz-Weiß-Platz verlassen! Unser Vater will zum Glück auch nicht mehr dorthin zurückt!“
Wo wollt ihr denn hin?“, fragte Emma.
„Das wissen wir noch nicht. Aber wir werden bestimmt etwas besseres finden, als dieses ehemalige Nazilager in Köln!“
Man sah es der kleinen Zigeunerin Maralda regelrecht an, wie erleichtert sie darüber war, dass sie nicht wieder nach Köln in ihr Zigeunerlager zurück mussten. Ein Barackenlager, das im Dritten Reich als Sammelstelle für Deportation galt.
„Haben wir dir eigentlich erzählt Maralda, dass unsere Sippe schon im 14. Jahrhundert erwähnt wurde und hier im Elsass ihre Wurzeln hatten?“
„Oh, das ist bestimmt sehr interessant, erzähl!“
Und so saßen sie beisammen und Maria erzählte ihrer Freundin Maralda von dem, was ihr Großvater gestern über die Rappoltstein und die Pfeifer berichtet hatte. Auch die Urkunde ließ sie nicht unerwähnt. Maralda hörte aufmerksam zu, war sie doch auch so wie Maria an alten Geschichten und Mystischem interessiert.
Gegen Mittag kommen Wilhelm und Ludolf mit dem Pferdegespann wieder den Uferweg entlang gefahren und biegen auf ihren Lagerplatz ein.
„Brr!“, kommandiert Ludolf die beiden Pferden, worauf diese mit dem Wagen am alten Ort im Lager stehen blieben.Â
„Hier alles in Ordnung!, fragt er und blickte in die Runde. Da sieht er Maralda bei seinen Töchtern stehen.
„Ach so was, die Maralda Rose, sei mir Willkommen!“, begrüßt er das Mädchen. Deinen Vater habe ich dir gleich mitgebracht“, lachte Ludolf. „Wir haben uns in der Stadt getroffen!“
Der alte Zigeunerkönig klettert aus dem Wagen und begrüßt die anderen sehr herzlich.
„Euer Vater hat mir schon von den beiden Ganoven erzählt!“, sagte Ferdinand Rose und begrüßte alle Anwesenden der Sippe nacheinander recht herzlich.
„Die beiden Dinnelo kommen bei unsereinem auch nicht sonderlich weit!“ erklärte er. „Die Zwei sind inzwischen auch gar nicht mehr in unserem Lager, wir haben sie an uns vorbeifahren gesehen. Sie hatten es auf einmal so eilig, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her!“, lachte Ferdinand vergnügt. „Werde noch erfahren, was da los war!
Was machst du hier, Maralda?“, fragt er seine Tochter.
Maralda erklärte ihrem Vater kurz, wie sie Maria und Emma getroffen hatte und das ihr Bruder die beiden Strolche davongejagte. „Das war sehr gut, ein guter Grund unser Wiedersehen zu feinern!“, wendet er sich an Ludolf.
Ludolf schickte darauf Wilhelm und Maralda los, die anderen Sippschaften, die der Herzberger, die inzwischen auch angekommen waren und die Roses zu einem Lagerfest einzuladen.
Als alle drei Sippen versammelt waren, wurde ein großes Feuer angezündet und ein Hammel gebraten, den der Zigeunerkönig zur Feier des Tages spendiert hatte.
An diesem Nachmittag sah man lauter buntgekleidete Menschen bei Geigen und Gitarrenmusik, im Forèt Domaniale de Marckolsheim, um ein Feuer tanzen.
Beim Essen fragt da Mutter Hedewig ihren Ludolf:
„Wie ist es in der Stadt gelaufen?“
„Oh, zum aller Besten! Wir haben beim Pfifferfest, dank einer Frau von Urslingen, direkt einen Standplatz vor dem Tor des Schlossparks. Dort müssen die meisten Leute beim Fest vorüber. Au weia, wenn ich daran denke, das wird in diesem Jahr ein gutes Geschäft werden!“, rieb sich Ludolf vor Freude in die Hände.
Natürlich freuten sich die Mitglieder der Familie Wittich über diese Nachricht, nur Emma schien in ihren Gedanken wieder ganz woanders zu sein.
Da besann sich Emma an das Versprechen von Opa, dass dieser ja noch etwas über die Rappoltsteins vorlesen wollte und erinnerte ihre Schwester Maria auch daran.
„Opa, du wolltest uns noch etwas vorlesen!“, erinnerte Maria nun ihren Großvater an sein Versprechen. Großmutter Notburga geht in den Wagen und brachte ein altes Buch mit, ein Antiquariat.
Großvater Gunther nimmt das Buch und begann daraus vorzulesen. Vieles darin war in der Sprache des Mittelalters verfasst. Auch Maralda saß mit am Feuer und lauschte aufmerksam Opa Wittichs Worte:
„In einer Urkunde vom 10. April 1431, die über eine Streitschlichtung zwischen Ulrich VIII. von Rappoltstein und der Stadt Colmar durch die Pfalzgrafen bei Rhein und Herzöge in Bayern berichtet, ist erstmals von dem Pfeiferrecht der Herren von Rappoltstein die Rede. Ulrich lässt bei der Anhörung durch seinen Vertreter darlegen, dass „Smaßman, sin bruder, vnd er den wiltfang zuschen Hagenauwer forste vnd dem Hauenstein, dem Rine vnd dem gebirge vnd auch einen pfiffer kunig zuseczen von dem Riche zulehen hetten.“ Obwohl eine Beschwerde des Rates der Stadt Straßburg vom 4. Dezember 1430 Smassmann I. und die Pfeiferbruderschaft bereits in einen Zusammenhang stellt, ist 1431 erstmals beurkundet, dass den Herren von Rappoltstein Jagd- und Pfeiferrecht als Reichslehen übertragen sind. Gleichzeitig ist das Gebiet, auf das sich beide Lehen beziehen, abgegrenzt: von Hauenstein im nordschweizerischen Jura im Süden bis zum Hagenauer Forst im Unterelsass im Norden und vom Rhein im Osten bis zum Vogesenkamm im Westen. Kaiser Friedrich III. bestätigt 1481 auf Bitten Wilhelms I. „daz vnns der edel vnnser vnd des Reichs lieber getrewer Wilhelm herre zu Rappoltzstein diemuticlich hat anruffen vnd bitten lassen, daz wir im von sein selbs vnd als lehenstrager des edeln vnnsers vnd des Reichs lieben getrewen Schmaßmans herren zu Rappolczstein, seines bruders, wegen die lehen vnd herlickeiten streyt jags vber land zu jagen von den Hawenstein bis in Hagenawer forst vnd zwischen dem Reine vnd der First, auch die diensten vnd oberkeit der spillewt in demseben bezirckh, so von vnns vnd dem heiligen Reich zu lehen rueren, zulehen zuuerleihen gnediclich geruchten.“ Friedrich verlangt als Gegenleistung, dass die Brüder Wilhelm und Smassmann vor dem Abt von Murbach den Lehnseid ablegen müssen, „gehorsam vnd gewerttig zusein, zu dienen vnd zu tund, als sich von solhen lehen gebueret.
Nach dem Tode Friedrichs bestätigt 1495 Kaiser Maximilian auf Wilhelms Bitten hin die Dauerhaftigkeit der Reichslehen des Jagd- und Pfeiferrechtes. 1664 erlässt Johann Jacob, Graf von Rappoltstein, der letzte männliche Herrscher, ein Dekret, in dem es u.a. heißt: „... bey uns der von Römischen Kaiseren und Königen approbirten Spielleuth Bruderschafft ... wir zu handthabung deren von ohnverdenklichen Zeitten, hero unseren Vorfahren, und jetzo uns deswegen acquirirten Kaiserl. privilegien und freyheiten, remedieren und der sachen rath schaffen möchten.
Wilhelm I. von Rappoltstein schreibt am 22. September 1456 im Namen seines Bruders Kaspar, „der yetz nit inlenndig ist“ den Meistern der Schlettstädter, Straßburger und Rosheimer Bruderschaft, dass sie sich am 17. November („vff mittwuch nach sant Martins tag“) zu Rappoltsweiler einfinden sollen, um dem Lehnsherren (lehentreger) und dem neu ernannten Pfeiferkönig, dem Trompeter Georg Baumann (trumpter Jorge Buwman) zu huldigen.“
An dieser Stelle beendet Großvater Gunther den Bericht und legte das Buch beiseite. Da meinte Maralda Rose ganz begeistert:
„Viele Worte aus dem Mittelalter sind auch heute noch in unserer Sprache der Roma und Sinti enthalten!“
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