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Es ist ende August 1952. Die Familie Wittich, die überall im Land als Zigeuner bekannt sind, fahren mit ihrem Fuhrwerk die Moselauen entlang. Links und Rechts stehen die Reben in vollem grün an den Hängen der Weinberge. Doch dafür hat Ludolf im Moment keinen Blick übrig.
Er ist mit der ganzen Sippe unterwegs, die sich jetzt bei diesem Wetter im inneren des Wagens aufhält. Es regnete bereits seit den frühen Morgenstunden und ein scharfer Wind pfeift Ludolf Wittich, der auf dem Kutschbock sitzt, ins Gesicht. Heftige Regenschauer ergießen sich über seine Wetterfeste Kleidung. Die Schirmmütze hat er sich zum Schutz gegen den Regen tief ins Gesicht gezogen. So fährt er stoisch den ausgefahrenen und matschigen Feldweg entlang.
„Dieses Sauwetter!“ fluchte Ludolf vor sich hin und lässt die Peitsche über dem Rücken der Pferde knallen..
Zwei Stunden später hat er die alte römische Kleinstadt Trier erreicht. Das Regnen hatte inzwischen aufgehört und die Sonne bahnte sich allmählich ihren Weg durch die Wolken.
„In Trier werden wir eine Stunde Rast machen und die Pferde füttern!“ ruft er nach hinten in den Wagen.
In der Stadt angekommen haben eine Horde Kinder das Fuhrwerk entdeckt und laufen schreiend und kreischend hinter den Wittichs her.
„Die Zigeuner... die Zigeuner sind da!“ rufen sie laut schreiend.
„Die Zigeuner?“, wurde überall gefragt
Fenster gehen auf und man hört warnende Rufe: „Ja, es sind die Zigeuner in unserer Stadt, macht die Fensterläden dicht!“
Die Nachricht verbreitete sich rasend schnell und an den Bürgersteigen versammelten sich bereits die ersten neugierige Gaffer.
„Das sind doch die Familie Wittich!“ hört man eine Frau dazwischen rufen. „Dies sind ehrliche Fahrensleute Leute, Messer und Scherenschleifer von Beruf, das sind keine Zigeuner sondern Jenische, deutscher Herkunft!“
„Jenisch, Jenische..., was ist das?“Â Fragend sehen sich einige Passanten an.
Dankend winkt Ludolf der älteren Dame zu, die sie zu kennen scheint.
„Hört ihr Leute aus Trier“, rufet Ludolf im Vorbeifahren den Passanten zu, „heut könnt ihr euere Messer und Scheren zum Sonderpreis bei uns schleifen lassen. Ihr findet uns nachher auf dem Viehmarkt!“
Langsam löst sich der Menschenpulk auf und nur die Kinder folgen lachend und vor Begeisterung kreischend dem Fuhrwerk hinterher.
„Jenische?“, hörte man die Leute im Weitergehen Achselzucken fragen.
Obwohl die Wittichs in Wahrheit keine Zigeuner sind, sondern eine alte germanische Fahrensfamilie, deren Wurzeln bis weit ins Mittelalter zurück reichen, wurden sie von der Bevölkerung stets nur als Zigeuner bezeichnet.
Wer wusste denn schon um die Geschichte und das Schicksal einzelner deutscher Fahrensfamilien, die nach den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs 1618 – 1648 heimatlos geworden und entwurzelt waren?
Die Wittichs sind Abkömmlinge eines der ältesten Familieclans, die schon zur Zeit Kaiser Ferdinand III 1431 als Pfeifer und Minnesänger das Recht als freie Fahrensleute zuerkannt bekamen.
Nun durchstreifen sie nach den Wirren des zweiten Weltkriegs mit ihrem Wohngespann die ländlichen Gegenden entlang der deutsch-französischen Grenze und befinden sich zu einem kurzen Aufenthalt in der alten römischen Garnisonsstadt Trier.
Der Viehmarkt war schnell erreicht und der Schleifstein aufgebaut.
Einzelne Leute kamen bereits mit ihren Küchenmessern, Scheren und Sicheln hinter dem Fahrzeug hergelaufen, um diese neu schleifen zu lassen.
Einige ältere Einheimische kannten die Wittichs scheinbar noch vor dem Krieg und wussten wer diese Leute waren.
Bald hörte man das regelmäßige Sirren eines Schleifsteins auf dem alten Marktplatz, der von den Trierern liebevoll nur Viehmarkt genannt wurde, weil die umliegenden Bauern regelmäßig dort ihr lebendes Vieh zum Verkauf anboten.
Ludolf Wittich sitzt dort auf einem Schemel und taucht ein Messer nach dem anderen in einen bereitgestellten Blecheimer mit Wasser. Daneben steht sein Sohn Wilhelm, fleißig die Kurbel drehend damit der Schleifstein in Schwung blieb.
„So, dieses Messer ist wieder so scharf, dass Sie damit den Bart Ihres Mannes abrasieren könnten!“
Zum Beweis der Schärfe, streift er das Messer durch eine alte mitgebrachte Zeitung.
„Mein Mann ist im Krieg gefallen, welchen Bart soll ich da noch abschneiden?“ fragte die Frau, der das Messer gehörte.
„Was kostet denn jetzt das Schleifen von Messern?“, will eine andere Frau wissen, die scheinbar mehrere stumpfe Messer zu schleifen hatte.
„Bei uns nennt man Messer Schuri! Heute kostet das Schleifen von Schuris nur Ein Groschen das Stück, gnädige Frau!“
„Ein Groschen? Das ist aber wirklich günstig! Wissen Sie, ich habe nur eine kleine Witwenrente. Hier habe ich noch zwei Messer und eine alte Schneiderschere zum schleifen mit. Was kosten diese?“ Sie holt die Gegenstände aus ihrer Manteltasche.
„Eine Schere zu schleifen kostet normal fünfzig Pfennige liebe Frau, aber von Ihnen nehme ich nur Drei Groschen, obwohl die Schere zwei Schneiden hat und viel größer als ein Messer ist!“
„Also einverstanden! Hier haben Sie also eine Mark von mir und einen Groschen Extra als Trinkgeld dazu!“ Damit legte sie Ludolf sechs stumpfe Messer in seine Lederschürze und zwei Scheren dazu und gibt ihm das Geld in die Hand.
Ludolf lächelte wissend und steckte das Geld ein.
Nachdem die sechs Messer und Scheren geschliffen waren, drängten sich immer mehr Leute um ihn herum, einerseits um ihm beim Schleifen zuzusehen und andererseits, um ihre eigenen mitgebrachten Messer schleifen zu lassen.
Ein kleiner Junge bringt sein Taschenmesser zum Vorschein und fragt:
Kannst Du mir mein Messer auch schleifen? Ich hab aber kein Geld!“
Kommt her Junge, das schleife ich dir schnell umsonst!“ Damit nimmt er dem Jungen das Messer aus der Hand und schliff es von beiden Seiten.
„Hier hast Du dein Messer wieder. Aber pass gut auf, dass Du Dich damit nicht selbst in den Finger schneidest!“
Diese Geste kam bei den Leuten von Trier sehr gut an und immer mehr Menschen kamen herbei, um ihre Messer und Scheren schleifen zu lassen.
„Von wo kommen Sie denn her?“, wurde Ludolf von einigen Zuschauern gefragt. „Von überall und nirgends!“, gibt er zur Antwort. „Wir gehören zum fahrenden Volk!
Im Hintergrund des Platzes sieht man die Sippe der Wittichs bei ihrem Wagen stehen. Es ist ein Wohnwagen aus alter Zeit, den sie liebevoll ihren „Chambre du voyage“ nannten. Ein zweiachsiges von Pferden gezogenes Gefährt mit einem Holzaufbau, seitlichen Fenstern und einem Ofenrohr, das aus dem Dach heraus ragte. Es war ein Doppelgespann mit einem zusätzlich einachsigen Anhänger hinten dran. Dort befand sich die Unterkunft, in dem Notburga, Hedewig, Maria und Emma schliefen.
Da nähert sich der Sippe ein Mann mit Filzhut und grauem Anzug. Er fragt: „Bleiben Sie heute in der Stadt oder fahren Sie noch weiter?“
„Das wissen wir noch nicht!“ antwortet die jüngste Tochter Emma. „Da müssen Sie meinen Vater fragen!“ dabei deutet sie mit der Hand auf Ludolf, der fleißig mit dem Schleifen der Messer beschäftigt ist. Ihr Bruder Wilhelm steht daneben, immer wieder seitlich an der Kurbel drehend, um den Schleifstein in Schwung zu halten. Er hatte den Mann bereits erspäht, der sich da seiner Schwester genähert und angesprochen hat. Misstrauisch beobachtet er den Mann unauffällig.
Hatte er ihn schon einmal irgendwo gesehen? Wenn ja, dann mindestens hundert mal oder noch nirgendwo. Der Fremde hatte ein Allerweltsgesicht, war unrasiert nicht sonderlich groß. Er trägt den besagten grauen Straßenanzug, der ihm viel zu groß an den Leib geschneidert war. Die Hosenbeine standen gerüscht auf seinen Schuhen auf und sein Jackett ging ihm bis an die Oberschenkel. So sehen in aller Regel nur Landstreicher aus, die sich unterwegs viel zu groß geratene Kleidungsstücke von einer Wäscheleine angelten, dachte sich Wilhelm. Auch das sonstiges Aussehen des Mannes gefiel ihm nicht. Es stand im krassem Gegensatz zu einem vertrauenserweckenden Menschen.
Nach drei Stunden war Ludolf mit dem Messerschleifen fertig und packte den Schleifstein zusammen.
Der Fremde stand immer noch am Fuhrwerk der Wittichs und tat vor aller Leute Augen so, als ob er zu dieser Sippe dazu gehöre. Ludolf hatte den Mann auch bereits seit einiger Zeit im Visier und geht nach dem Schleifen direkt auf den Mann zu und fragt:.
„Guten Tag! Kann ich was für Dich tun Gatsch?“ Gatsch war der jenische Ausdruck für – Kerl oder Mann.
Erschrocken, über den barschen Ton Ludolfs, fährt dieser zurück und stammelt: „Entschuldigen Sie der Herr, ich habe ihre Tochter nur gefragt, ob Sie heute noch hier bleiben oder weiter Reisen wollen!“
„Warum fragen Sie danach?“ fragt Ludolf den Fremden erneut im barschem Ton.
„Ich besitze selber ein kleines Gespann, und würde mich Ihnen gerne anschließen wollen, wenn ich wüsste wohin Ihre Reise geht!“
„Warum möchten Sie das wissen?“
„Wissen Sie, in einer größeren Gemeinschaft ist das Reisen heutzutage sicherer, und ihr scheint eine gute Truppe zu sein. Ich hingegen bin allein unterwegs, und man weiß ja nie! Sie fahren doch heute noch weiter, oder?“
„Das wollten wir eigentlich“, antwortet Ludolf jetzt im sachlichen Ton, „Doch das Schleifen der Messer und Scheren hat mich länger aufgehalten als ich dachte und wir würden vor Abend unser Ziel nicht mehr erreichen. Wir bleiben darum heute hier und fahren erst morgen in der Früh von hier fort!“, sagte er laut zu seiner Sippe gewandt.
„Wo fahren Sie denn von hier aus hin?“, will der Fremde wissen.
„Ins Elsass hinein!“
„Aber das ist ja genau mein Weg! Darf ich mich Ihnen mit meinem Wagen anschließen, ich werde Ihnen bestimmt nicht zu Last fallen?“
Was wollen Sie denn im Elsass?“, fragte Ludolf misstrauisch.
„Ich möchte dort auf den Märkten Geschäfte machen!“
„Was für Geschäfte sind das, wenn ich fragen darf?“
„Ich treffe mich dort mit einem Geschäftsfreund, wir wollen einen Weinhandel aufmachen!“
„Ein Weinhandel, im Elsass, in Frankreich? Aber da gibt es doch schon genug davon. Das ist ja wie Eulen nach Athen tragen!“ lachte Ludolf und blickte den Mann ungläubig ins Gesicht.
„Wie wir unsere Geschäfte machen werden ist unsere Sache, Herr...?“.
„Ludolf ist mein Name, Ludolf Wittich, um genau zu sein!“
„Und wie darf ich Sie nennen?“
„Ich heiße Raoul. Darf ich mich denn Ihnen morgen Früh anschließen, Herr Wittich? Ich müsste nämlich rechtzeitig im Elsass sein und kenne den Weg dorthin nicht genau!“
Da dieser Fremde ihn so inständig bat, antwortete Ludolf:
„Also gut, sie können sich uns morgen Früh anschließen. Bleiben Sie einfach nur hinter uns, wir kennen den Weg ins Elsass. Wir brechen mit den ersten Sonnenstrahlen auf!“
 „Ich werde pünktlich da sein!“, antwortet der Fremdling, dann verabschiedete er sich, indem er kurz seinen Hut lupfte, und ging raschen Schrittes davon.
Ludolf blickt ihm nachdenklich hinterher und meint:
„Komischer Kauz! Sieht in seinem Anzug aus wie eine Vogelscheuche, und will im Elsass Wein verkaufen!“
„Traust du ihm, Vater?“, wird er von seinem Sohn gefragt.
„Trauen hin, trauen her, uns kann er nichts anhaben, wir sind ihm überlegen!“
Nun greift Ludolf in seine Tasche und zählte das Geld, dass er mit dem Messerschleifen verdient hatte und sagt zu seinem Sohn Wilhelm:
„Das war ja wirklich ein gutes Geschäft!“ Dabei drückt er ihm zwei Markstücke in die rechte Hand. „Die meisten Messer waren nicht einmal stumpf und mussten nur ganz wenig nachgeschliffen werden!“
„Und Du wolltest nur eine Stunde in Trier Rast machen!“ hört er seine Frau Hedewig neben sich zu ihm sagen. Hedewig ist eine kleine kugelrunde Frau mit roten Pausbacken und grau-schwarzem Haar, dass sie hinten zu einem langen dicken Zopf geflochten hatte.
„Von hier kommen wir heute nicht mehr fort“, sagt sie, „die Mittagszeit ist längst vorüber und ich kann noch mit dem Geld in die Stadt einkaufen gehen. Wieviel hast du denn überhaupt verdient, Gatsch?“
„Genau 46 Mark, Moß (Frau) und sechs Groschen, also fast 47 Mark!“ Rasch greift seine Frau zu und nimmt ihm das Geld aus der Hand.
„Wenn wir schon einmal hier in der Stadt sind kann ich gleich einige Besorgungen machen!“
Ludolf überließ ihr das Geld freiwillig, da seine Frau ohnehin die Haushaltskasse führte und behielt für sich selbst nur vier Mark in Silbermünzen zurück.
„Das sind aber nur 40 Mark und sechs Groschen, wo ist denn das restliche Geld?“ will Hedewig wissen.
„Das andere habe ich Wilhelm als Lohn gegeben!“, sagte er mit Unschuldsmine, dabei zwinkert er seinem Sohn heimlich zu.
„Nun gut, ich werde gleich mit Großmutter zum einkaufen gehen. Gibt es noch etwas, das wir unbedingt benötigen?“
„Bring mir eine Kiste Zigarren mit, es sind nur noch wenige als Vorrat hinten im Wagen, und Pfeifentabak für Großvater!“
„Ich weiß, ich weiß, hab schon an alles gedacht. Bringe auch extra noch Zigaretten für unseren Sohn Wilhelm mit, denn der raucht ja auch schon seit einiger Zeit!“
Hedewig ruft nach Notburga, ihrer Mutter, die kurz darauf aus dem Wagen gestiegen kommt. Beide machten sie sich auf den Weg vom traditionellen Viehmarkt zur Innenstadt.
Ludolf und Wilhelm spannten inzwischen die Pferde aus und versorgten die Tiere mit Heu, dass sie eigens in Jutesäcken dafür mit sich führten. Ihre beiden Esel, die sie am Fuhrwerk angebunden hatten bekamen auf jeweils einen Sack mit Futter umgebunden.
Emma und ihre Schwester Maria baten ihrem Vater ebenfalls los gehen zu dürften, um sich die alte Stadt der Römer anzusehen. In Wirklichkeit hatten sie etwas anderes vor.
So bleiben Ludolf, sein Sohn Wilhelm, und Großvater Gunther bei dem Gespann zurück.
Gunther ist zwar schon fast ein Greis mit beinahe 80 Jahren. Das Zigeunerleben hatte seinen alten Körper gestählt und er nahm noch aktiv am Leben seiner fahrenden Sippe teil, indem er unterwegs Körbe flocht und Flöten aus Haselnussholz schnitzte.
Es verging der Nachmittag und nach dem gemeinsamen Abendessen, die Frauen hatten ordentlich eingekauft, legte sich jeder zum Schlafen. Die Nacht verlief ohne Zwischenfälle, außer dass es wieder zu regnen begonnen hatte.
Am anderen Morgen, im Osten ging gerade die Sonne auf, machten sie sich auf den Weg in Richtung Elsass. Von dem Fremden war weit und breit nichts zu sehen. Also fuhren sie ohne ihn los.
Nach einer halben Stunde erreichen sie den Ortsausgang. dort angekommen sehen sie ein kleines Fuhrwerk am Wegesrand stehen. Es ist ein alter schäbiger Kastenaufbau, mit einem seitlich rausragendem Ofenrohr, das von einem Kutschengaul, der schlecht im Futter stand und lange keinen Stall mehr gesehen hatte, gezogen zu werden schien.
Als Ludolf an dem Wagen vorbeifährt erkennt er den Mann von gestern wieder. Heute trug er keinen Anzug, sondern eine zerschlissene Cordhose mit Baumwollhemd. Um die Schulter hatte er sich zum Schutz gegen die morgendlich Kälte eine Wolldecke gewickelt.
Als er Ludolf vorüberfahren sieht, nickte er diesem nur einen kurzen Morgengruß zu und das Gespann des Fremden setzte sich in Bewegung. Er folgte den Wittichs im Abstand von etwa fünf Pferdelängen an. Offensichtlich wollte er sein Versprechen von gestern wahr machen, und die voranfahrende Familie nicht weiter belästigen. Doch in dessen Kopf spielten sich ganz andere Gedanken ab.
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