Krimis & Thriller
Eiskalte Liebe

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"Eiskalte Liebe"
Veröffentlicht am 18. September 2010, 50 Seiten
Kategorie Krimis & Thriller
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Eiskalte Liebe

Eiskalte Liebe

Beschreibung

Sie MUSSTE Rennen. Keine noch so kleine Ablenkung durfte ihre Konzentration stören. Konzentration und Disziplin war alles, was für Melanie Walder noch zählte. Vernachlässigte sie eines von diesen beiden so wichtigen Dingen würde es fatale Folgen haben...

Prolog

Prolog

Berlin
26. Juni 2003

Die stickige Sommerluft senkte sich wie ein schwerer Ballon über Berlin. Sie vermischte sich mit den rauchigen Abgasen der Stadt und schloss eine unsichtbare Allianz mit den grauen Chemiewolken. Nur die Nacht schenkte den Menschen etwas Erleichterung und ließ sie zur Ruhe kommen. Und während die meisten um diese Zeit in ihren Betten lagen und sich auf ihren Laken, nass vom nächtlichen Schweiß, unruhig umher wälzten, brannte in einem der Häuser, am Ende der kleinen und wohlhabenden Siedlung, noch das Licht. Es war 02:31 Uhr als ein gellender Schrei die wohlige Ruhe wie ein Rasiermesser durchschnitt und in den an-liegenden Wald drang.

Sekunden später erwachte Frau Kartell, seit zwei Jahren verwitwet und von schweren Schlafstörungen geplagt, schaltete verwundert ihre kleine Nachtlampe an und lauschte mit schiefem Kopf in die Nacht hinein. Sie glaubte gerade einen fürchterlichen Schrei aus dem Nachbarhaus gehört zu haben, aber sie war sich nicht ganz sicher. Es könnte genauso gut in ihrem Traum passiert sein. Ihre Hausnummer ist die 121 A in der Bellstraße, und das seit 15 Jahren. Sie kann sich nicht daran erinnern je einen Schrei oder gar Streit in all den Jahren gehört zu haben, aber Frau Kartell wusste dass vieles im Leben nur eine Frage der Zeit war. Sie verharrte noch einige Minuten bewegungslos in ihrem altwürdigen, hellbraunen Holzbett ehe sie sich seufzend und unter Anstrengung zu dem Nachtschalter herüber beugte und das Licht wieder löschte. Ihre Arthritis plagte sie wieder, und sie brauchte einige Minuten ehe sie wieder Schlaf fand. Dieses Mal störte kein ungewohntes Geräusch den Schlaf von Frau Kartell.

Kurz darauf schickte Melanie Walder einen stummen Dank zu dem dunklen, Sternenüberzogenen Himmel und wünschte der alten Dame von nebenan einen guten Schlaf. Ihre zierliche Figur zeichnete sich in der Auffahrt 121 b ab, begleitet von den schwebenden Schatten der Äste.
Ihre Schritte waren langsam, unsicher. Immer wieder drehte sie sich zu der offen stehenden Haustür um und ihre blauen Augen, die in der Dunkelheit schwarz wirkten, blickten ängstlich in das Innere des Hauses, doch sie konnte nichts erkennen. Sie atmete erleichtert auf und ihre Füße trippelten nun schneller über den gepflegten Kiesweg. Immer noch drehte sie sich um und blickte zurück, mit angestrengtem, Stoßweisen Atem. Für Sekunden kam ihre diese Legende in den Sinn. Sie kann sich nicht mehr genau an die Details erinnern, aber sie weiß noch dass es um einen Mann und eine Frau ging, die einem Massaker entkommen und sich nicht umdrehen dürfen, egal was passiert. Doch die Frau kann nicht an sich halten und schaut hinter sich. Die Strafe war grausam, obwohl sie auch hier wieder nicht wusste, was genau danach passierte. Genau genommen wusste Melanie nur eines in diesen Minuten: Sie durfte nicht den gleichen Fehler machen. Ihr Gehirn schien dabei zu sein herunterzufahren, ratterte hin und her, kämpfte wie ein Computer gegen den fatalen Absturz. Ihre Beine bewegten sich schneller, hektischer. Sie verließ das Grundstück, schlug den verworrenen Waldweg ein und entfernte sich immer mehr von ihrem Zuhause.
Sie unterdrückte den aufkommenden Würgereiz der sich wie eine Schlange ihre Kehle hoch angelte als das Wort Zuhause in ihren Gedanken kreiste.

Die Bäume und Sträucher des Waldes beugten sich nun drohend über sie, während sie schwer atmend dem kleinen Leuchten des weit entfernten Lichtes folgte. Sie hatte eine Weile gebraucht eh Sie das sternenförmige, gelb und weiß wirkende Leuchten entdeckte. Für kaum greifbare Sekunden des Schreckens hatte sie befürchtet dass es nicht da war. Aber es war da und deutete ihr den Weg in die Freiheit. Ihr Verstand konnte jetzt kaum mehr klar denken. Wie ein Ofen hatte er auf die Sparflamme zurückgegriffen. Es gab nur ein Wort das in den Gehörgängen ihres Kopfes widerhallte.
Rennen, Rennen.

Sie MUSSTE Rennen. Keine noch so kleine Ablenkung durfte ihre Konzentration stören. Konzentration und Disziplin war alles, was für Melanie Walder noch zählte. Vernachlässigte sie eines von diesen beiden so wichtigen Dingen würde es fatale Folgen haben. Sie hat es unzählige Male durchgespielt. Die schier endlosen Variationen der möglichen Fehler hatten sich wie ein Stacheldrahtzaun um ihr Herz gelegt und bohrten sich nun unaufhaltsam durch ihre Eingeweide. Und egal welch tragischer Fehler ihr unterlaufen würde; Das Ergebnis war in diesem Falle das gleiche. Er würde sie einholen, sie zu Boden reißen, und ihren Mund mit seiner Hand bedecken. Sie würde seinen Atem in ihrem Nacken spüren, und dann sein leises, spöttisches Lachen in ihren Ohren hören. Sein Körper würde sich kraftvoll auf ihren Rücken senken, und sein Arm sich unmittelbar fest um ihren Hals legen. Ihre Lungen würden verzweifelt nach Luft ringen, während weiße Sterne vor ihren Augen tanzte und schwärze sie langsam einhüllte. Und dann würde er sie zurück schleifen.

Nein.
Ihr Verstand blockte die grauenvollen Erinnerungen aus und sie zwang ihren Körper schneller zu Rennen.
Abermals nahm sie all ihre Willenskraft zusammen um sich nicht umzudrehen, nicht hinter sich zu blicken. Aber die Ungewissheit durchfuhr ihren Körper und ließ ihr Herz noch schneller schlagen. Ihre Ohren lauschten Angestrengt auf jedes kleine Geräusch, und sie erschrak vor ihren eigenen Schritten.

Das schwache Licht sah jetzt kugelförmig aus, strahlte immer intensiver, kam jetzt immer näher. Sie kam immer näher.
Sie achtete nicht auf das Gestrüpp, das sich hinderlich um ihre Beine legte, schützte ihre Haut nicht vor den Ästen, die in ihr Gesicht schnitten. Sie spürte keine Schmerzen. Spürte nicht, wie die scharfen Dornen der Pflanzen blutende Wunden an ihrem ganzen Körper hinterließen. Doch sie spürte das Adrenalin, das in ihren Adern pulsierte und ihren zitternden Körper antrieb.
Sie sah jetzt ihre nahe Rettung vor sich, und Hoffnung keimte in ihr auf. Fast erschrak sie vor diesem Gefühl. Sie versuchte es zu verdrängen, versuchte sich bis zum Schluss zu Konzentrieren.
Jetzt war das Licht der Taschenlampe zum greifen nahe, und sie ignorierte das Brennen in ihren Lungen. Sie spornte ihre Beine an, noch schneller zu laufen. Schneller, schneller, schneller.
Das Licht wurde größer, leuchtete plötzlich in ihr Gesicht, blendete ihre Augen. Hände griffen nach ihr. Sie wusste nicht wo sie herkamen, aber sie fühlte den schwachen Wind der von ihnen ausging, kurz bevor sie sich um ihre Oberarme legten. Kräftige Finger bohrten sich in ihre Muskeln und Sehnen, wollten sie zwingen, stehen zu bleiben. Panik nahm Besitz von ihrem Körper.
Nein, Nein, Nein!
Sie wusste, wem die Finger gehörten, ahnte, wer sie zurückhielt. Und das konnte sie nicht zulassen.
Nicht schon wieder.

„Melanie...Melanie! Beruhigen Sie sich! Sie sind da. Sie sind angekommen. Sie haben es geschafft.“ Die Stimme senkte sich langsam in ihr Bewusstsein, durchdrang das Rauschen ihres Blutes das in ihren Ohren wütete. Sie hörte auf sich zu bewegen, wehrte sich nicht länger gegen die starken Hände, die ihre Flucht verhindern wollten. Etwas stimmte hier nicht. Es war die Stimme die ihre Aufmerksamkeit erregte. So liebevoll, so ehrlich...voller Besorgnis. Und dann sanken die Worte in ihr Bewusstsein. Der unsichtbare Henker in ihrem Inneren ließ das Seil los, und mit dem fallen des Beiles sah Sie die Wahrheit. Hörte sie. Fühlte sie.
Sie haben es geschafft.
Langsam blickt sie in das lächelnde Gesicht, das dicht vor ihrem war. Braune Augen, in denen es besorgt funkelte, schauten sie fest an.
Sie blinzelte und vergewisserte sich ein letztes Mal, dass ihr ängstlicher Verstand sie nicht täuschte.
Es wäre nicht das erste Mal.

Sie schloss kurz ihre Augen und öffnete sie dann wieder, voller Angst vor dem was sie erblicken würde. Sie sah die Linien seines Gesichtes vor sich. Sein Mund, seine Nase, seine Augen. Dann formten ihre Lippen lautlose Worte als sie begriff dass der Mann vor ihr die Wahrheit sagte. Denn es war nicht das Gesicht ihres größten Dämons.
Es waren die Gesichtszüge ihres Retters, und erst jetzt konnte sie seinen Worten glauben schenken.
Sie war in Sicherheit.
Sie haben es geschafft.

Raue Hände fuhren langsam über die Wunden in ihrem Gesicht, und erst jetzt nahm sie langsam den Schmerz war, der auf ihrer Haut wütete.
„Kommen sie, wir müssen hier weg.“ Er packte sie wieder sanft am Oberarm und zog sie dann mit sich. Der schwarze Golf stand, versteckt hinter ein paar Bäumen, bedeckt mit Gestrüpp und Blättern, ein paar Meter von ihnen entfernt. Noch immer benommen von der Hoffnung, der Wahrheit, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, setzte sie sich auf den Beifahrersitz und lehnte sich erschöpft zurück. Ihr Retter startete ohne zu zögern den Motor, und als der kleine Wagen leise im Dunkeln davonfuhr schaffte sie es endlich, wieder zu sprechen.
„Kim?“ Ihre Stimme war kraftlos, kaum mehr als ein Flüstern, und dann spürte sie einen festen Druck auf ihrer Hand.
„In Sicherheit, und wartet nur noch auf Sie.“ Ihr Retter grinste sie jetzt wieder an, und Erleich-terung und Zuversicht spiegeln sich darin wieder. Sie atmete erleichtert auf und stimmte dann zaghaft in sein Lächeln ein.
„In Sicherheit.“, wiederholte sie leise. Sie schaltete das Autoradio an, lauschte den sanften Tönen der Musik, und lehnte ihren Kopf an die Lehne, um dann ihre Augen zu schließen.

Weder Melanie noch ihr Retter hörten den wilden Schrei der durch den Wald hallte und die Tiere aufschreckte. Vögel und Rehe, kleine und große Tiere legten ihre Köpfe schief und ergriffen die Flucht als sie die Gefahr erkannten, die in diesem animalischen Schrei lag. Denn nicht nur Wut und das unverkennbare Versprechen nach Rache lagen in jenen Tönen, die durch die Stille schnitten. Schmerz und Ohnmacht überwältigten den Wald und seine Bewohner. Der junge Mann kniete kraftlos inmitten von Blättern und Erde, dunkle Flecken zeichneten sich auf seinem nackten Oberkörper ab, und seine Augen, blutunterlaufen, starrten in die Dunkelheit. Er sah den Lichtern nach, die seine Frau von ihm fort brachten. In seiner klaffenden Brust pulsierte stechend der Schmerz den die gezackte Messerklinge hinterlassen hatte. Er fühlte zwar das pochen in seiner verwundeten Brust, doch denken konnte er in diesem Moment nur eines:
Das Licht brachte sie fort. Das schwächer werdende Licht des Autos durchquerte soeben den letzten Abschnitt der Lichtung. Dann würden sie auf die Landstraße kommen. Und damit in Freiheit sein. Seine Finger verkrampften sich und umklammerten verzweifelt trockene Ahornblätter. Und dann dachte er:
Es kann nicht sein.

Neue Wege

Ungläubig beobachtete Frau Kartell am nächsten Morgen das große Polizeiaufkommen auf dem Grundstück der jungen Familie Walder. Auf ihrem abgenutzten braunen Gehstock gestützt stand sie an ihrem Küchenfenster und hielt mit ihrer von Gicht und Arthritis geplagten Hand die Gardine zur Seite. Nicht zu viel, nur ein Stück, gerade genug um alles sehen zu können. Immer wieder schüttelte die alte Frau ihren Kopf und die sorgsam angeordneten Locken wippten dabei drohvoll auf und ab.
Sie konnte zu diesem Zeitpunkt nicht genau sagen was sich in der vergangenen Nacht in ihrem Nachbarhaus abgespielt hatte, aber ein Verdacht drängte sich ihr auf. Genau genommen war es mehr eine Bestätigung als denn ein Verdacht.

Sie hatte es schon immer geahnt. Von Anfang an. Fast, so meinte sie jetzt, waren die Vorzeichen ein wenig zu deutlich gewesen. Albert, unsichtbar stets bei ihr, nickte ihr wahrscheinlich zustimmend zu. Ihr Mund verzog sich zu einem dünnen Strich und verursachte runzelige Falten in ihrem Gesicht als sie ihren Blick auf Robert Walder richtete.
Robert Walder stand vor seinem Haus, seine schwarzen Haare wild in alle Richtungen abstehend, und müde fuhr er sich mit der rechten Hand über sein Gesicht. Seine Schultern zuckten und er schien Schwierigkeiten zu haben, sein Gleichgewicht zu halten. Selbst von dieser Entfernung aus konnte Frau Kartell zwei Dinge ganz deutlich erkennen. Zum einen schien er gerade gegen einen weiteren Weinkrampf anzukämpfen, was verständlich war, fand Frau Kartell. Bedachte man doch die äußerst unglückliche Wahrheit dass seine Frau anscheinend keinen Wert darauf legte, weiter mit ihm zusammen zu leben. Zum anderen sah sie ganz deutlich den großen Blutfleck der sich unter Robert Walders blauen T-Shirt abzeichnete. Frau Kartell wusste nun, dass der Schrei von Heute Nacht eine Erklärung gefunden hatte.

Ihre Augen verzogen sich zu kleinen Schlitzen als sie die dramatischen Gesten von Robert Walder beobachtete. Die Polizisten wirkten ergriffen und manche drehten sich verlegen von dem offensichtlich völlig verzweifelten Mann ab. Das Ausmaß der Menschlichen Tragödie dieses jungen Mannes war einfach zu viel für einige der Beamten, die bis zu diesem Tage lediglich mit Autodiebstahl oder betrunkenen Teenagern zu tun hatten.
Frau Kartell hatte nun genug gesehen. Langsam schob sie ihre rote Seidengardine wieder an ihren Platz zurück und ging dann, mit leicht gebeugter Körperhaltung, hinüber zu ihren grünen Fernsehsessel. Sie griff stöhnend nach der Fernbedienung und Sekunden später sprach ein gut aussehender Nachrichtensprecher mit sichtlich ergriffener Stimme zu ihr. Doch die tiefe Männerstimme konnte Frau Kartell keine Neuigkeiten erzählen. Im Hintergrund zeigte man ein Bild von Melanie Walder und am linken Bildrand prangte die Nummer der örtlichen Polizeistelle. In eindringlichem Tonfall bat der Nachrichtensprecher nun um Mithilfe der Bevölkerung. Wer Melanie Walder – die mit hoher Wahrscheinlichkeit bewaffnet ist – sah, solle sich bitte umgehend melden. Außerdem sei die junge Frau geistig verwirrt und zudem äußerst Gefährlich.

Jetzt hatte Frau Kartell wirklich genug. Mit vor Wut zitternden Fingern schaltete sie den Fernseher wieder ab. Wenn Melanie Walder gefährlich und verwirrt war, dann würde sie sich noch heute zum Bunjje-Jumping anmelden. Wahrscheinlich wäre solch ein Sprung zu viel für ihr 78 Jahre altes Herz und würde ihr den Tod bescheren, aber da Melanie Walder eine der sanftesten Frau war die sie je getroffen hatte, konnte sie solch ein gewagtes Abkommen ruhig abschließen.
Zudem gehörte Frau Kartell zu den jenen wenigen Menschen die die Wahrheit zwar nicht kannten,
aber sehr wohl erahnten.
Traurigkeit erfasste sie nun. Sie dachte an Melanie Walder und beschloss in diesem Moment, einen langen, eisern gehaltenen Schwur zu brechen. Sie würde heute Abend für ihre junge Nachbarin beten und Gott bitten, die Blindheit von dem Rest der Menschheit zu nehmen. Dann überlegte sie, ob ihr treuer Gehstock wohl in zwei brechen würde, wenn sie ihn mit aller Kraft über Robert Walders verlogenen Kopf schlüge. Frau Kartell schmunzelte über diese kühne Idee. Sie gefiel ihr.
Sie beschloss, es bei Gelegenheit auszuprobieren. Melanie Walder würde sich sicher darüber freuen.

2 Jahre später



Robert Walder ging langsam die Marmorstufen hinab die von seinem Schlafzimmer zur unteren Etage seiner Villa führten. Er hatte diese Nacht nicht geschlafen und hoffte nun, dass ein starker Kaffee die Müdigkeit aus seinen Knochen vertreiben würde. Als er die Kaffeekanne mit Wasser füllte fiel ihm die Rote Linie auf, die sich quer über seinen Pulloverärmel zog. Er hob seinen Arm und zupfte verärgert am Stoff. Er würde das nächste Mal vorsichtiger sein müssen. Blut ging so schwer heraus. Ein wissendes Lächeln umspielte seine schönen Lippen als er an die vergangene Nacht zurück dachte.

Diese...wie hieß sie gleich noch? Ah ja, natürlich, Stephanie war ihr Name. Diese Stephanie war wirklich ein kleines Miststück gewesen. Hatte doch tatsächlich geglaubt, ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen zu können. Hatte das Messer ergriffen und versucht, es gegen ihn zu benutzen. Doch er war gewarnt gewesen. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass ein Messer in der Hand einer Frau sehr schmerzhafte Folgen haben konnte.
Anfangs hatte er es wirklich schade gefunden dass die Organisation Stephanie Mauer auf ihre Abschussliste gesetzt hatte. Doch am Ende hatte er Vergnügen mit Job verbinden können und was gab es besseres?
Er setzte den Kaffee auf, routiniert und sorgsam.
Dann zog er seinen Pullover aus, blieb inmitten der Küche stehen und schaute langsam an seinen Oberkörper hinunter. Mit seinen schlanken Fingern strich er langsam über die zackige Narbe, die sich quer über seine rechte Brust zog und an ein langes Seil erinnerte. Der kratzige Stoff des Pullovers hatte eine rote Schwellung hinterlassen und ließ das verdickte, gezackte Gewebe brennen.

Er schloss seine Augen und atmete ruhig ein und aus, den Schmerz  in sich aufsaugend. Sein Arzt hatte ihm gesagt, er könne die Narbe ohne Probleme entfernen lassen. Doch Robert hatte nur mit seinem Kopf geschüttelt und keine Diskussion darüber zugelassen. Er wollte die Narbe behalten. Sie jeden Tag sehen, spüren. Wissen dass sie da war. Das Messer, mit dem seine Frau seine Haut in jener Nacht zerschnitten hatte, lag gut aufbewahrt in der obersten Schublade seines Nachtschrankes. Er setzte sich auf den Küchenstuhl, legte seinen Hände flach auf die gerillte Oberfläche und starrte mit zusammengekniffenen Lippen zum Telefon, das wenige Meter von ihm entfernt stand.  
Er wartete darauf, dass einer seiner Männer endlich anrief und ihm sagte, ob sie seine Frau gefunden hatten.  

Zwei Tage war es jetzt her, als er einen anonymen Anruf erhalten hatte. Der Mann hatte ihm gesagt dass er wisse, wo seine Frau sich aufhalte. Robert hatte sich nicht sehr auf diese Information verlassen, denn in den letzten zwei Jahren hatte es dutzende solcher Hinweise gegeben, und sie alle hatten sich als falsch herausgestellt. Aber dann hatte der Mann ihm von der Narbe erzählt. Sagte, dass die Frau, die er für Melanie Walder hält, eine Narbe am Hals habe die sich über die Kehle zog. Ob seine Frau auch so eine Narbe habe? Hatte sie.
Zum ersten Mal seit Monaten hatte sich leise Hoffnung in ihm breit gemacht. Wie viele Frauen konnte es schon geben, die nicht nur große Ähnlichkeit zu Melanie hatten, sondern auch noch eine identische Narbe am Hals besaßen? Wohl nicht viele. Wahrscheinlich keine.
Also hatte er den Mann gefragt, wo sich diese Frau aufhalte, aber der Anrufer hatte zuerst auf eine Vorauszahlung bestanden. 200 Euro, und nicht weniger. Wenn er, Robert, wissen wolle, wo seine Frau wäre, würde er erst zahlen müssen. Robert ließ sich nicht gerne Erpressen, und am liebsten hätte er den kleinen Scheißkerl übers Telefon erwürgt. Für wen hielt der sich?
Und wer sagte ihm nicht, dass der Unbekannte einfach die Kohle einstrich und sich dann nie wieder meldete? Aber es war die erste heiße Spur seit Monaten gewesen. Und diese hier hörte sich viel versprechender als die meisten zuvor an. Also hatte er dem Mann über einen toten Briefkasten Geld zukommen lassen, und dann nervös auf den nächsten Anruf gewartet, um zu erfahren, wo sich diese Frau aufhielt, die nur Melanie sein konnte. Der Mann hielt sein Wort – zu Roberts Überraschung - und rief wenige Stunden später wieder an.

Mit gedämpfter Stimme gab der Mann Robert eine Adresse in Köln. Hier würde er Melanie finden, so jedenfalls versprach es der Fremde. Wenige Minuten später schickte Robert einige seiner Männer nach Köln um den Hinweis zu überprüfen. Männer, die erst nach Melanies verschwinden angefangen hatten, für ihn zu arbeiten. Das war wichtig. Denn auf keinen Fall durfte Sie, wenn es sich denn tatsächlich um Sie handelte, Verdacht schöpfen dass er sie gefunden hatte. Nein, er musste vorsichtig sein.
Er musste sorgfältig vorgehen, sich erst ganz sicher sein, bevor er sich selber blicken ließ.
Auch wenn er nie den Fehler getan hatte, ihre Intelligenz und ihren Kampfgeist zu unterschätzen, so hatte sie ihn trotzdem überlistet. Die brennende Narbe war der beste Beweis dafür. Das leere Haus war der beste Beweis dafür.
Er hatte nie zu den Männern gehört, der Frauen für Dumm gehalten hatte. Sicher, es gab dumme Frauen, aber es gab auch dumme Männer. In jener Nacht hatte er zu ihnen gehört.

Das unterschätzen der Frauen war von jeher ein grober Fehler in seinen Augen gewesen. Es gab unzählige Männer, die jeden Morgen aufstanden, in die Augen ihrer Frauen blickten, und darin die Angst erkannten. Die Angst mochte wahr sein. Doch darunter lag der schlafende Kampfgeist. Er hatte stets den nie zu brechenden Kampfgeist in den Augen seiner Frau gesehen. Er hatte ihn gefühlt, gespürt. Und ihn nie unterschätzt. Zumindest dachte er das stets bis zu jener Nacht. Melanie hatte ihn eines Besseren belehrt. So schmerzlich und folgenreich dieser Niederschlag für ihn auch war, es beweiste ihm am Ende nur aufs Neue, dass er die richtige Frau geheiratet hatte. In gewissem Sinne war er sogar stolz auf sie, dass sie diesen Schritt in jener Nacht gewagt hatte. Nicht zu unterschätzen war auch die Tatsache dass es Melanie seid 2 Jahren gelang, erfolgreich ihre Spuren zu verwischen. Er rutsche unmerklich auf seinem Stuhl. Allein der bloße Gedanke an seine Frau verursachte wie so oft ein kribbelndes Gefühl in ihm.  

Die Kaffeemaschine piepte leise und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er goss sich die schwarze Brühe in seine Tasse und starrte dann wieder auf das Telefon.
Er hatte der Organisation nichts von diesem Anruf erzählt. Zu oft schon hatte er dann Rechenschaft beziehen müssen. Jede falsche Spur der er nachging, war sie noch viel versprechend am Anfang, war in den Augen der Verbindungsväter ein weiterer Beweis für sein unfähiges Verhalten. Jeder Tag der ohne einen handfesten Erfolg verstrich zog die Schlinge um seinen Hals enger. Nicht das er ernsthaft um sein Leben fürchten musste, aber sein Ansehen und Aufstieg innerhalb der Organisation schwand zusehends.

Er presste seinen Kiefer fest aufeinander, und sengende Wut breitet sich in ihm aus. Sein Leben lang hatte er ganz für die Organisation und die eine Sache gelebt und gearbeitet. Er hätte sich ein bisschen mehr Hilfe und Unterstützung von ihnen gewünscht. Nicht dass sie nicht bei der Suche halfen, das taten sie. Aber die Verachtung und Geringschätzigkeit in den Augen einiger Mitglieder verursachte ihm Übelkeit. Für was hielten die sich eigentlich? Nicht alles war einzig seine Schuld.

Seine Gedanken wanderten zu seinem Bruder und seine Wut verstärkte sich. Nein, auch die Organisation musste sich Fehlverhalten zugestehen. Denn wie sonst wäre es Melanie gelungen, seinen Bruder zum Mitkommen zu bewegen?
Sein Bruder musste eine Weile von den Vorhaben seiner Frau gewusst haben, und er hatte niemanden gewarnt, weder ihn noch die anderen. Und zur Krönung hat der kleine Scheißer nichts Besseres zu tun, als mit ihr zu gehen. Doch Robert hielt ihm sein junges Alter zu Gute. Er war 11 Jahre gewesen, da traf man noch Entscheidungen, die man später vielleicht bereute, war leicht verführbar. Trotzdem. Er hatte unter Obhut der Organisation gestanden, und sie hatten versagt. Jetzt war Kim 13, ein Jugendlicher, aber es war bei weitem noch nicht zu spät, den Schaden wieder zu reparieren. Junge Menschen sind formbar, man musste nur wissen, wie man es anstellte. Der Junge würde schon noch zu dem werden, was seit seiner Geburt für ihn bestimmt war. Seine Augen verdunkelten sich, als er an das Messer in der Schublade dachte. Melanie war eine andere Sache. Sie würde keine zweite Gelegenheit mehr bekommen, ihn zu täuschen. Das nächste Mal würde er solch einen Fehler nicht mehr begehen. Es würde ihr erster und letzter erfolgreicher Ausbruch sein. Sobald er sie gefunden hatte, würde er dafür sorgen, dass sie nie wieder die Gelegenheit bekam, sich auch nur  einen Meter ohne sein Wissen von ihm zu entfernen. Und es scherte ihn keinen Deut, ob sie dabei glücklich war oder nicht. Diese Chance hatte sie verspielt. Er hatte sich bemüht, es ihr einfach zu machen. Ihr zu geben was sie brauchte um glücklich zu werden. Sie hatte es ausgenutzt und ihn niedergestochen. Sie wusste um die Konsequenzen. Er hatte es ihr gesagt. Sie wusste was passieren würde, wenn er sie erwischen würde. Er hoffte inständig, dass es ihr schlaflose Nächte bereitete. Die Angst dass er sie finden würde sollte sie auffressen. Das wäre nur gerecht.

Das Klingeln des Telefons ließ ihn zusammenzucken. Mit wenigen Schritten hatte er den Apparat erreicht und den Hörer abgenommen. Gespannt lauschte er der Stimme. Seine Finger verkrampften sich und ließen die Knöchel weiß hervortreten. Ungläubig starrte er vor sich hin, und Wut überrollte ihn.
Reingelegt. Dieser miese kleine Dreckskerl hatte ihn reingelegt. Das einzige, was seine Leute bei der genannten Adresse gefunden hatten, war eine leere Fabrikhalle. Mit einem lauten Krachen schlug das Telefon gegen die Wand und zersprang dann in seine Einzelteile. Dieser miese kleine Hund... Wenn er ihn zwischen seine Finger kriegen würde, dann...
Seine Gedanken stockten, und er blinzelte verwundert. Sein Blick wanderte zu dem kaputten Telefon. Er erinnerte sich, wie Tage zuvor der Anruf von diesem Schweinehund gekommen war. Aber eines hatte er damals übersehen. Etwas Entscheidendes war ihm entgangen.
Es war die falsche Nummer gewesen.

Er war in seinem Schlafzimmer gewesen, als der Anruf kam. Dieser Anschluss diente lediglich privaten Zwecken, und niemand seiner Geschäftspartner oder Männer wussten, dass dieser Anschluss überhaupt existierte. Nicht einmal die Organisation kannte diese Nummer.  
Es gab nur drei Menschen, die diese Nummer kannten.
Er. Sein Vater. Und Melanie.
Ein zittern durchfuhr seinen Körper als ihm bewusst wurde, was das bedeutete. Sein Vater konnte die Nummer nicht mehr herausgeben, denn er war seit 1 Jahr tot. Der alte Mann starb, ohne den Aufenthaltsort seines jüngsten Sohnes zu wissen.
Was nur eines bedeuten konnte: dieser Mann, wer immer er war, kannte seine Frau. Von ihr hatte er die Nummer erhalten.

Es gab keine andere Möglichkeit. Aber warum sollte Melanie ihre Deckung aufgeben? Jemanden die Nummer verraten? Um sich damit selber ans Messer zu liefern? Nein, ganz bestimmt nicht. Robert schürzte seine Lippen und versuchte, eine Logik dahinter zu erkennen. Das ganze machte keinen Sinn, es sei denn...dass alles diente nur dazu, ihn absichtlich auf eine falsche Fährte zu locken. Die Erkenntnis stürzte so schnell auf ihn ein, dass er sich an die Wand lehnen musste, um nicht den Halt zu verlieren.
Melanie führte ihn auf eine falsche Spur.
Und sie hatte offensichtlich jemand, der ihr dabei half.

 

Chicago, West Town



Das Taxi hielt mitten auf der Straße und wütende Autofahrer hupten demonstrativ, als sie am weiterfahren gehindert wurden. Selene stieg aus dem Wagen, bezahlte den Fahrer und schaute sich dann suchend um. Er war noch nicht da. Gut. Das würde ihr noch etwas Zeit geben, sich auf das Treffen vorzubereiten. Mit einem Lächeln ging sie in das kleine Coffeehouse, dessen Schaufenster mit Kaffee und Muffins zu besonders günstigen Preisen warb. Es war ihre Idee gewesen, sich hier zu treffen. Sie war noch nicht oft hier gewesen, doch die ruhige und stille Atmosphäre des „Town Coffee“ war ihr gut in Erinnerung geblieben. Es war im Stil der frühen 90ger Jahre eingerichtet, und unzählige Bilder kleiner und großer Stars, die hier irgendwann einmal auf der Suche nach gutem Kaffee gelandet waren, hingen an den Wänden, die in einem zarten Gelb gestrichen waren. Ihre Augen wanderten durch das Lokal, auf der Suche nach einem Platz von wo aus sie den gesamten Laden überblicken konnte. Sie hatte es nie ganz geschafft entspannt und ohne versteckte Kontrollversuche ihrer Umgebung zu Leben, und selbst der große Ozean, der sie von ihrer Vergangenheit trennte, vermochte ihr nicht dabei zu helfen. In der hinteren Ecke, neben dem Selbstbedienungstresen, auf denen frische Brötchen und Aufschnitte ihren Duft verbreiteten, entdeckte sie einen runden Tisch für zwei Personen.  

Sie hing ihren Mantel auf den braunen Jackenständer der neben dem Eingang stand und bahnte sich dann einen Weg zu dem Tisch. Als sie saß griff sie nach der Menükarte und vergrub ihr Gesicht dahinter, die Buchstaben und Angebote verschwommen jedoch vor ihren Augen. Ihre Gedanken überschlugen sich, und die unzähligen Fragen, die sich in den letzten Stunden bei ihr gebildet hatten, drängten wieder auf Antworten.

Sie war gerade auf den Weg zur Arbeit gewesen, als ihr Handy geklingelt hatte. Sie wusste sofort, dass etwas passiert sein musste. Das Telefon hatte fordern in ihrer Schublade vibriert, und vor Schreck war ihr der Schlüssel aus der Hand geglitten. Es gab nur einen Menschen, der sie darauf anrief. Und dann hatte es nur einen Grund. Dieses Handy, vergraben in ihrem Nachtschrank, war die einzige Verbindung zu ihrer Vergangenheit.
Als sie mit zitternden Händen den Anruf entgegen nahm, war sie auf alles vorbereitet gewesen. Nun, auf fast alles. Denn was Mick ihr dann erzählte traf sie so überraschend, dass sie ihm nicht glauben konnte.
„Es ist vorbei, Selene. Es ist vorbei.“ Fast flüsternd hatte er das gesagt, und dennoch mit fester und ruhiger Stimme. Als sie die Bedeutung dieser Worte begriff, hatten sich Tränen in ihren Augen gebildet, und leises schluchzen war ihre einzige Antwort gewesen. Es war Micks Vorschlag gewesen sich zu treffen, um ihr dann alles persönlich erzählen zu können.

Jetzt saß sie hier, und seine Worte hämmerten unentwegt in ihren Kopf. Konnte wirklich alles vorbei sein? Nach so langer Zeit? Jetzt, zwei Jahre später, sollten sie endgültig frei sein?
Sie überlegte, inwiefern es vorbei war. War Robert tot? Saß er im Gefängnis? Gab es die Organisation nicht mehr?
Sie schüttelte ihren Kopf um sich von den Fragen zu befreien. Sie würde es gleich erfahren. Sie blickte auf die Uhr. 10:05 Uhr. Sie war viel zu früh hier gewesen. Eine Angewohnheit, die sie schon als kleines Mädchen gehabt hatte.
Ein langer Schatten legte sich über den Tisch, und neugierig blickte sie auf.
Der junge Mann vor ihr blickte sie einige Sekunden grinsend an, zog dann einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber.

„Hey.“ Seine Stimmte senkte sich langsam über den Tisch, und auf Selenes Gesicht spiegelte sich jetzt ein zaghaftes Lächeln wieder. Dieses einzige Wort reichte aus, um Selenes Nervosität zu lindern. Sie hatte vergessen, wie beruhigend seine Gegenwart stets für sie gewesen war.
„Selber Hey.“ Beide blickten sich verlegen über den Tisch hinweg an, und jeder suchte nach den nächsten Worten. Ein Kichern entrann aus Selenes Kehle, und sie ließ sich an die Stuhllehne fallen.
„Irgendwie traurig, ist es nicht? Jetzt sitzen wir hier, und keiner von uns weiß etwas Gescheites zu sagen. Nach allem, was wir hinter uns haben, meine ich. Sitzen hier, und halten unsere Münder energisch verschlossen. Daher schlage ich vor, dass wir uns erstmal einen starken Kaffee gönnen, und Sie mir dann alles erzählen. Ich brenne auf Antworten.“
Mick Saul zog eine Augenbraue hoch und kniff dann seine Augen zusammen. Dann warf er seinen Kopf zurück und lachte laut. Selenes offene Art hatte ihn schon immer entzückt. Sie war erfrischend und trug stets dazu bei, Situationen wie diese aufzulockern.  
„Ihr Talent, den Nagel auf den Kopf zu treffen haben sie jedenfalls nicht verloren Selene. Und wie Recht Sie haben. Bleiben Sie sitzen, ich werde die Getränke holen. Mit Milch, ohne Zucker, richtig?“ Sie nickte und Mick verschwand in den Reihen vor den Kaffeeautomaten. Verstohlen beobachtete sie ihn.

Sie hatte anscheinen so einiges verdrängt, was Mick Saul betraf. Sein unverschämt gutes Aussehen war nur eine weitere vergessene Tatsache. Seine schwarzen Haare hatte er mit etwas Haargel zur Ordnung gebracht und trotzdem hatten sich einige unbändige Locken befreit und fielen ihm in seine hohe Stirn. Seine braunen Augen hatten noch immer diesen wissenden und besorgten Ausdruck, der ihr jetzt einige Schauer über den Rückte jagte. Die Narbe, die sich von der Nase bis zur Oberlippe zog, verlieh ihm den Charakter eines guten alten Freundes, der selbst einiges in seinem Leben erlebt hatte, und daher gut verstand, was das Leben anrichten konnte.
Er drehte ihr jetzt den Rücken zu. Die schwarze Jeans lag locker um seine Beine, konnte aber trotzdem nicht die muskulösen Oberschenkel und den verstecken. Seine Lederjacke spannte sich über seine kräftigen Schultern und erweckte den Eindruck, alle Last dieser Welt darauf tragen zu können. Schon oft hatte sie sich gefragt, was aus ihr und den Jungen geworden wäre, wenn Mick ihr damals nicht geholfen hätte. Ihr Mund wurde trocken, und ihre Kehle schien sich zu verengen. Sie kannte die Antwort nur zu gut.

Seine tiefe Stimme riss Sie aus den Gedanken, und der Duft von Koffein erreichte ihre Nase.
„Trinken Sie eigentlich immer noch drei Kannen pro Tag?“ fragte er mit Belustigung, während er sich setzte und einen großen Schluck aus dem qualmenden Becher nahm.
„Ja. Und wie gehabt warte ich ab, bis der Kaffee lauwarm ist, bevor ich ihn in mich reinkippe. Böse Zungen behaupten, ich hätte einen nicht unbedeutenden Knall.“ Mick lachte und schüttelte amüsiert seinen Kopf. Er hatte sich schon oft gefragt wie Selene es geschafft hatte, ihren Humor beizubehalten in all den letzten Jahren.
Sein Blick fiel auf ihre Haare, die auf ihren Schultern lagen und sich dort auf dem blauen Pullover kräuselten. Vereinzelte blonde Strähnen zogen sich durch ihr braunes Haar, und bildeten eine harmonische Einheit zu ihrer leicht gebräunten Haut. Eine ihrer zart geschwungenen Augenbraue war neckisch nach oben gezogen, und ihre stechenden blauen Augen lachten über ihre eigenen Worte.
Jene Augen waren es gewesen, die ihm damals innehalten ließen. Sie waren voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gewesen als der Polizist vor fast drei Jahren zum Hörer gegriffen und ihren Mann angerufen hatte. Er wusste damals nicht, worum es ging, aber untrüglich hatte ihm sein Instinkt gesagt, dass etwas nicht stimmte. Und er hatte Recht behalten, wenn auch in weit größeren Ausmaßen, als er sich je hätte vorstellen können. Und auch wenn Verzweiflung und Schmerz auf ihrem Antlitz gestanden hatten, so konnte er darunter das hübsche Gesicht mit den feinen Zügen erkennen. Verdammt, hübsches Gesicht? Sie war eine der attraktivsten Frauen, die er je gesehen hatte, und selbst Schmerz und noch größere Verzweiflung konnten damals ihre Schönheit nicht verbergen.
Ihre vollen Lippen waren jetzt leicht geöffnet und zu einem Lächeln verzogen. Sein Herz erwärmte sich bei ihrem Anblick, und er zwinkerte ihr grinsend zu.

Dann wurde seine Mine ernster, und er sah Selene in die Augen.
„Ok. Ich will sie nicht länger auf die Folter spannen, Selene.“ Er lehnte sich vor, nahm einen weiteren Schluck, und holte dann tief Luft. Von diesem Augenblick hatte er lange geträumt. Endlich konnte er die Fesseln von Selenes Herz lösen, und ihr den verdienten Frieden geben.
„Am Telefon sagte ich Ihnen, das es vorbei ist. Und das ist es.“ Er nickte bestätigend und sein Gesicht hellte sich auf.
„Inwiefern? Was ist passiert?“
„Vor drei Wochen habe ich ihn wie gewohnt angerufen. Ich sagte ihm, ich hätte jemanden in München gesehen, der aussieht wie Sie. Er bedankte sich für die Information und Bemühungen, ihn anzurufen. Und dann teilte er mir mit, dass er die Suche aufgegeben habe. Er suche nicht länger nach Ihnen.“  
Selenes Mund klappte nach unten, und mit aufgerissenen Augen starrte sie Mick an.
„Er sucht nicht mehr nach mir? Das hat er gesagt?“
Mick konnte ihre Reaktion allzu gut nachvollziehen, war er doch nicht minder überrascht gewesen.
„Ich war genauso überrascht wie Sie. Ich konnte es nicht glauben. Dann dachte ich, er habe vielleicht eine Spur, eine richtige Spur. Ich war kurz davor, Sie zu warnen.“ Selene kramte mit zittrigen Händen in ihrer Handtasche und zog ein Päckchen Marlboro heraus.

„Sie dachten also, er habe mich gefunden, und deswegen mit der Suche aufgehört. Verstehe.“ Ein eisiger Schauer fuhr über ihren Körper, während sie gierig an ihrer Zigarette zog.
„Aber ich glaubte nicht daran. Die Chance, dass Er oder die Organisation sie hier gefunden hatte war so klein, dass ich mich entschied Ihnen erstmal nichts zu sagen.“
Er blickte zum Fenster, hob seinen Arm und winkte dann ein paar Mal. Selene folgte verwirrt seinem Blick, und jetzt sah sie den grauen Pick-Up, der vor dem Laden parkte.  
„Um trotzdem sicher gehen zu können dass Sie in Sicherheit sind, habe ich einen meiner Mitarbeiter hergeschickt, der ein Auge auf Sie haben sollte.“
Selene wandte den Blick wieder zu Mick und ihr verwirrter Gesichtsausdruck brachte ein grinsen auf seine Lippen. Er hatte ohne ihr Wissen seinen Mann auf sie angesetzt, auch wenn er sich dabei nicht wohl gefühlt hatte, denn Selene hatte jahrelang unter Beobachtung gelebt. Andererseits musste er sicher gehen, dass man sie nicht gefunden hatte.

„Sie haben nichts gemerkt. Gut so. Wie schon gesagt, ich wollte Sie nicht unnötig in Angst versetzten.“
Selene zog wieder an ihrer Zigarette und winkte dann kurz entschlossen dem unsichtbaren Mann im Pick Up zu.
Mick lachte wieder und fuhr dann mit seiner Erzählung fort.
„Ich hängte mich an seine Fersen und observierte ihn einige Tage, um zu sehen ob irgendwelche verdächtigen Aktivitäten vor sich gingen. Nichts. Er ging seinem gewohnten Tagesablauf nach, und keiner seiner Männer verließ die Stadt. Ich besuchte die Website mit dem Aufruf nach ihnen. Sie war nicht mehr Online. Nur ein kleiner Text, dass er allen für die zahlreichen Informationen danke, er die Suche aber jetzt eingestellt habe.“
Mick lehnte sich wieder zurück und umklammerte nachdenklich seinen Kaffeebecher. Ein würgendes Gefühl verbreitete sich in seiner Kehle. Wie immer, wenn er an Robert Walder und die Organisation dachte.

„Natürlich beruhigte mich das nicht. Selbst wenn er die Suche tatsächlich einstellen wollte – die Organisation würde dem niemals zustimmen. Nicht, solange Kim noch so jung ist, und sie ein Anspruch auf ihn erheben.“
Selenes Magen verkrampfte sich bei seinen letzten Worten, und sie spülte das bekannte Gefühl mit einem großen Schluck Kaffee herunter.

Mick schaute sie besorgt an, und seine Augen sprachen ihr beruhigend zu.
„Und dann, ein paar Tage nachdem ich ihn schon beobachtet hatte, kam er abends nach Hause, mitsamt einer jungen Frau, die sich vertraut an ihn schmiegte. Die beiden küssten sich ausgiebig, bevor sie im Haus verschwanden, das sie erst am nächsten Morgen wieder verließen.“
„Na, wenigstens hat sie seine Bekanntschaft überlebt. Das können nicht viele seiner Freundinnen behaupten.“
Mick schüttelte seinen Kopf und seine Stimme hob sich leicht.
„Nein Selene, sie war keine neue Freundin zum Zeitvertreib. Nur drei Tage später haben die beiden ihre Verlobung bekannt gegeben.“
Selene verschluckte sich an ihrem Getränk und knallte entsetzt den Becher auf die Tischplatte.

„Verlobt? Er hat sich verlobt?“ Eine Welle des Mitleids überrollte sie, als sie an die junge Frau dachte, die keine Ahnung hatte, wem sie da das Jawort geben wollte.
Mick bemerkte ihren besorgten Gesichtsausdruck und erriet ihre Gedanken.
„Oh Nein. Das sehen Sie falsch Selene. Kein falsches Mitgefühl. Die Frau kommt aus der Organisation.“  
„Himmel!“ Zu mehr Reaktion war Selene nicht fähig.
Ihre Gedanken überschlugen sich.
Er wird also wieder heiraten. Und diesmal richtete er sich ganz nach den Wünschen der Organisation. Eine weitere Verbindung unter den Mitgliedern der Organisation, die sich voll und ganz der einen Sache verschrieben hatten.
Mick ließ ihr Zeit, die Informationen zu verarbeiten, ehe er fort fuhr.
„Deshalb hat die Organisation ihm erlaubt, die Suche nach Ihnen einzustellen.“
Selene lachte verbittert auf und massierte ihre Schläfen.
„Kein Wunder, bekommen Sie doch jetzt erstklassigen Nachwuchs von Robert. Er liefert ihnen endlich einen Erben, obendrauf auch noch einen reinrassigen.“

Sie spuckte das letzte Wort voller Verachtung aus, und Hass spiegelte sich auf ihrem Gesicht wieder. In den Augen der Organisation war sie stets unwürdig gewesen. Als Ehefrau, als zukünftige Mutter. Vor allem aber galt sie als Außenstehende, die nicht in der Organisation aufgewachsen war und dadurch kein perfektes Genmaterial liefern konnte. Keine dieser Anschuldigungen hatte sie je ernsthaft getroffen. Im Gegenteil. Welcher normale Mensch wollte schon den Ansprüchen einer Organisation genügen, deren Ziel einzig die Aufzucht des perfekten Menschen galt? Perfekte, vollkommene Menschen, die ohne jegliche Gefühle und mit eiskalter Skrupellosigkeit den kriminellen Geschäften der Vereinigung nachgingen. Robert, warum auch immer, sah das anders. In seinen Augen war sie genau die Richtige und nur Gott wusste, warum. Liebe hatte er es genannt, Besessenheit nennt sie es.

Mit schrecken dachte sie noch heute an den Tag zurück, als Robert sie auf den Küchenstuhl gesetzt hatte und ihr mit seiner ruhigen Stimme eröffnet hatte, dass er nun Kinder wolle. Ihr Herz hatte ausgesetzt. Vor der Hochzeit hatten sie bereits darüber gesprochen, und auch sie hatte Kinder gewollt. Doch da hatte sie noch nicht gewusst, dass sie einen Psychopathen geheiratet hatte, der Mitglied eines kranken Vereines war. Die Maske fiel erst nach der Hochzeit – als es zu spät war. Die 21 jährige Melanie Walder hatte in der Falle gesessen.    
Doch ganz sicher würde sie nicht die Geburtsmaschine für die Organisation spielen.
Das heimliche nehmen der Pille war ihr erster Rebellionsakt gewesen. Ein Rebellionsakt mit entsetzlichen Folgen.
Sie schüttelte die Gedanken von sich. Sie blickte zu Mick, und ein neues Gefühl machte sich in ihrem Herzen breit.
Tränen bildeten sich in ihren blauen Augen, und sie griff nach seiner Hand.
„Ich...wir sind also wirklich frei? Die suchen nicht mehr nach uns? Ganz sicher? Ich hätte nie gedacht, dass Robert jemals aufhören würde, nach mir suchen. Und nach Kim, ich meine...“
Mick drückte ihre Hand und fasste mit seinem Zeigefinger unter ihr Kinn. Ihre zarte Haut verursachte ein Kribbeln in seinem Körper, dass er schnell fort schob.

„Ich habe die letzten drei Wochen damit verbracht, alles genau zu beobachten. Glauben Sie mir Selene: Es ist vorbei. Weder Robert noch die Organisation suchen weiter nach Ihnen und Kim. Wahrscheinlich legen die keinen Wert darauf Kim zu finden weil er sie bereits verraten hat. Er wäre nie ein verlässliches Mitglied  “
Sanft strich er ihr eine Träne von der Wange, und der schwere Stein, der seit drei Jahren auf seinem Herzen lag, zerbröckelte langsam.
Sie holte tief Luft und sank dann in sich zusammen.
„Mein Gott. Das habe ich mir immer gewünscht. Und jetzt ist es soweit. Ich habe mir das immer vorgestellt, wie das Gefühl sein muss. Es ist viel besser, als ich mir hätte vorstellen können.“
Zum ersten Mal seit Jahren weinte sie nicht aus Verzweiflung, sondern aus purer Erleichterung heraus, und Mick verspürte den Wunsch, sie in die Arme zu nehmen und all ihre Sorgen und Ängste für immer von ihr zu nehmen. Er wanderte mit seinem Stuhl neben sie, und zog sie dann in seine Arme, während auch ihm die Tränen kamen. Sie vergrub ihren Kopf in seinem Nacken, und ihr Atem kitzelte auf seiner Haut. Er zog sie fester an sich, und zusammen genossen sie das erlösende Gefühl von Freiheit, und sie lauschten dem lautlosen lösen der Fesseln, die jahrelang ihre Herzen gefangen hatten.

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Lisza

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