Solange ich zurückdenken kann, habe ich mich vor der Dunkelheit gefürchtet. Denn Dunkelheit bedeutete, dass ich schlafen musste. Nicht, dass ich etwas gegen das Schlafen an sich gehabt hätte – ganz im Gegenteil. Es gab nichts, das ich mir sehnlicher wünschte als eine einzige Nacht erholsamen Schlafes. Ich habe nie eine erlebt.
Denn mit dem Schlaf kamen die Träume. Und mit den Träumen kam der Schattenmann. Und das Schlimmste war, dass ich mir nie ganz sicher gewesen war, ob der Schattenmann wirklich nur in meinen Träumen lebte.
Was ich jedoch mit Gewissheit wusste, war, dass er mich verfolgte.
Als ich klein war, in dem Alter, in dem sich selbst normale Kinder noch vor dem Einschlafen fürchten, da war es nur ein Schemen. Ein dunkles Schemen, dunkler als der schwärzeste Schatten, die gestaltgewordene Nacht, und zwei seltsam helle, eng beieinander stehende, stechend blaue Augen, deren Blick mich zu bannen schien. Eiskalt waren sie, berechnend, und ich wusste, wenn ich zu lange hineinsah, würde ich nie wieder aufwachen. Irgendwie wusste ich schon damals, dass ich, wenn ich im Traum starb, nie wieder würde zurückkehren können.
Als wir in das neue Haus gezogen waren und ich ein Zimmer im oberen Stock bekam, war ich wie besinnungslos vor Glück gewesen. Ich hatte an dem großen, beinahe mannshohen Fenster gestanden, das nach Westen ging, und hatte in den Garten hinunter gesehen und geglaubt, dass der Schattenmann mich hier nicht würde finden können. Nie würde ich jenen Moment vergessen, als ich dort am Fenster stand und die Abendsonne das große, neue Zimmer in flammendes Licht tauchte. Als ich glaubte, endlich frei zu sein.
Es war die erste Nacht, in der ich mich nicht lautstark gegen das Zubettgehen weigerte, und meine Mutter war mir mit einem Lächeln durch das Haar gefahren und hatte gemeint, dass ich nun ein großer Junge sei, denn große Jungen fürchteten sich nicht vor den Schatten der Nacht. Zum allerersten Mal hatte ich freiwillig die Augen geschlossen, ohne zuvor die halbe Nacht wachzuliegen und mit geballten Fäusten gegen den Schlaf anzukämpfen, der mich dann doch jedes Mal wieder übermannte. Es war die erste Nacht, in der ich mich nicht leise in den Schlaf weinte. Ich hätte es besser wissen müssen.
Dem Schattenmann entkam man nicht so leicht.
Es war die erste Nacht, in der ich ihn wirklich sah. In meinem Traum stand ich wieder vor dem Fenster und sah zu, wie der orangefarbene Ball der Sonne langsam hinter dem westlichen Horizont verschwand, hinter den Maisfeldern, die sich damals noch viele Meilen weit gen Westen erstreckten. Ich sah zu, wie sich der Himmel verfärbte, wie das Licht allmählich verblasste. Und mit dem schwindenden Licht nahm die Dunkelheit zu. Mit dem schwindenden Licht wuchsen die Schatten. Schatten, die durch das schwache Licht des Mondes nur ein wenig in ihrer Intensität abmildert wurden. Doch ich war froh über das spärliche Licht, das die noch dünne Mondsichel warf, die weit oben am Himmel stand. Bei Neumond waren die Schatten dunkler, wenn nur das Licht der Sterne die Nacht erhellte. Bei Neumond war es immer am Schlimmsten.
Meine Finger krallten sich in das weiche Holz des Fensterbrettes, Schweiß trat mir in Perlen auf die Stirn. Denn die Schatten wuchsen nun, wurden dunkler und nahmen allmählich Gestalt an. Der große, weitläufige Garten des neuen Hauses war voller neuer, unbekannter Schatten. Da war der dünne, spinnennetzartige Schatten der Maisstauden, die auf den kurz gemähten Rasen fielen, da das Feld dicht an das Grundstück grenzte. Dieser Schatten schwankte und tanzte geisterhaft, wie dürre Knochenfinger, die nach mir zu greifen schienen, und ich fuhr unwillkürlich zusammen. Doch es waren nur die Stauden, die im leichten Wind hin- und herschwankten, noch regte sich nichts. Anders der tiefschwarze, kastenförmige Schatten des Gartenhäuschens. Dieser Schatten hätte sich eigentlich nicht bewegen dürfen. Und doch tat er es.
Er wogte und waberte, die Dunkelheit schien zu fließen wie Öl, das langsam in einer Pfanne erhitzt wird. Wie erstarrt vor Entsetzten sah ich mit an, wie sich eine mir nur zu bekannte Gestalt aus der wogenden Dunkelheit löste. Und zum ersten Mal sah ich ihn deutlich, er war nicht länger ein unscharfes Schemen. Denn zum ersten Mal löste er sich vollständig aus den Schatten, die ihn umgaben, und trat in das helle Mondlich hinaus und starrte reglos zu mir hinauf.
Er erinnerte mich ein wenig an das Männchen aus der Reifenwerbung, nur, dass er keineswegs so harmlos und freundlich wirkte, und nicht so plump. Er hatte Beine dick wie Baumstämme, und riesige, kräfige Pranken, so groß wie die Pastateller des Lieblingsgeschirrs meiner Mutter, die an beiden Seiten seines massigen Körpers herabhingen und sich rhythmisch zu Fäusten ballten. Er ging leicht gebeugt, doch nicht wie die alte Frau am anderen Ende der Straße, in der wir früher gewohnt hatten, nicht, als würde ihn die Last vieler Jahre zu Boden drücken wie ein unsichtbares Gewicht. Er ging gebeugt wie ein Raubtier, das zum Sprung bereit ist. Wie ein Raubtier, das Beute wittert.
Durch das geschlossene Fenster glaubte ich zu hören, wie er schnüffelnd die Luft einsog. Und dann sah er mir direkt ins Gesicht, und ich hätte schwören können, dass er mich boshaft angrinste, obwohl sein Gesicht doch nur aus tiefster Schwärze bestand – tiefste Schwärze und diese eiskalten, schneidenden blauen Augen.
„Du kannst nicht vor mir fliehen“, schienen diese Augen mir zuzuflüstern. „Ich werde dich überall finden. Ich werde dir überall hin folgen.“
Mein Atem ging nun stoßweise, der Schlafanzug klebte mir am Rücken, und ich krallte meine Finger noch fester in das weiche Holz der Fensterbank, so fest, dass ein nadelgleicher Schmerz meinen Arm hinaufschoss, doch das nahm ich nur am Rande wahr. Denn der Schattenmann kam nun auf mich zu.
Ganz langsam, geschmeidig wie eine Raubkatze, und die bleichen, blauen Augen ließen mich nicht auch nur für einen Augenblick los, nahmen mich gefangen. Wie gelähmt musste ich mit ansehen, wie der Schattenmann schließlich direkt unter meinem Fenster anlangte. Die blauen Augen flackerten wie Totenlichter, als er seine Hand nach mir ausstreckte. Dünne, schwarze Fäden schossen aus der nach oben gereckten Handfläche, rauchähnlich waberten sie empor, wie dicker, zäher Nebel. Doch noch ehe sie mich erreicht hatten, geschah etwas viel Schrecklicheres. Der Schattenmann glitt lautlos die Hauswand empor.
In diesem Moment erwachte ich aus meiner Starre. Mit einem Satz sprang ich vom Fenster zurück und eilte auf mein Bett zu, so schnell mich meine Beine trugen. Denn irgendwie wusste ich, dass mir der Schattenmann dort nichts würde anhaben können, dort, unter der dicken, warmen, schützenden Bettdecke. Irgendwie wusste ich, dass ich dort aufwachen würde, wenn ich erst einmal in Sicherheit war. Und so rannte ich um mein Leben, stolperte durch die Dunkelheit des noch unbekannten Zimmers.
In meinem alten Zimmer wäre es nicht passiert. In meinem alten Zimmer kannte ich die Dunkelheit, dort hätte ich mich blind zurechtgefunden. Aber hier nicht. Und so geschah, was nicht hätte geschehen dürfen. Ich stolperte. Ich stolperte über die Spielzeugkiste, die ich in meiner Freude, endlich frei zu sein, völlig vergessen hatte, die ich deswegen nicht an ihren Platz unter dem Bett zurückgeschoben hatte. Auch das wäre mir in meinem alten Zimmer nie passiert. Dort war nie ein Hindernis gelegen, über das ich in der Nacht hätte stolpern können. Ich stieß mir heftig den Zeh an, so heftig, dass mir der Schmerz die Tränen in die Augen trieb, doch das wäre an sich nicht so schlimm gewesen. Wenn ich nicht das Gleichgewicht verloren hätte. Ich stolperte, schwankte und fiel dann zu Boden, im letzten Augenblick fing ich den Sturz mit den Händen ab.
In diesem Moment wusste ich, dass ich es nicht mehr rechtzeitig zum Bett schaffen würde. Ich wusste es, denn ich spürte den kalten, stechenden blauen Blick in meinem Rücken, er schien sich mir regelrecht zwischen die Schulterblätter zu bohren.
Ohne, dass ich mich umwenden musste, spürte ich, dass es der Schattenmann irgendwie durch das Fenster geschafft hatte. Die Dunkelheit um mich herum schien sich auf seltsame Weise zu verfestigen, streckte ihre eiskalten Klauen nach mir aus. Ich stieß einen hohen, gellenden Schrei aus, der an ein tödlich verwundetes, sterbendes Tier erinnerte, und der Schrei war so laut, dass ich daran erwachte.
Tränenüberströmt und zitternd zog ich mir die Bettdecke über den Kopf, um die Schatten der Nacht auszusperren, und so fanden mich meine Eltern schließlich, im hintersten Winkel meines Bettes kauernd und mit fest zusammengekniffenen Augen. Meine Mutter setzte sich zu mir, nahm mich fest in die Arme und wiegte mich beruhigend hin und her, während sie leise ein Schlaflied summte, und mein Vater wusste augenblicklich, was zu tun war. Helles, elektrisches Licht durchflutete das Zimmer, als er den Lichtschalter betätigte, und die Schatten flohen flüsternd in die Ecken zurück. Hier, in der Sicherheit der Arme meiner Mutter und im hellen,warmen Licht, spürte ich, wie allmählich die Anspannung von mir abfiel.
Schweigend ging mein Vater im Zimmer umher, öffnete sämtliche Schranktüren, ja, er sah sogar unter meinem Bett nach.
„Da ist nichts, Jasin“, meinte er schließlich müde und zauste mir zärtlich durch das schweißnasse Haar. Ich seufzte leise, doch es war kein erleichtertes Seufzen. Es war ein resigniertes. Ich wusste, dass sie da waren, sie waren immer da. Aber niemand außer mir schien sie zu sehen.
„Soll ich das Licht anlassen?“, fragte meine Mutter, nachdem sie die Bettdecke um mich herum festgesteckt hatte. Ich nickte schweigend und versuchte, eine tapfere Miene aufzusetzen. Ich wusste, dass es nichts helfen würde, so, wie ich wusste, dass meine Eltern mir nicht glauben würden, wenn ich ihnen die Wahrheit erzählte. Sie sahen die Schatten nicht. Doch es gab immer Schatten, egal, wie hell das Licht schien. Und ich wusste, ohne dass ich hinsehen musste, dass die blauen Augen noch immer auf mir ruhten. Lauernd, abwartend. Die Dunkelheit jenseits der Fensterscheibe war undurchdringlicher als je zuvor.
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