Die U-Bahn
Ich flog die Stufen förmlich herunter. Meine Aktentasche unter den Arm geklemmt nahm ich drei Stufen auf einmal. Mein Handy fing an zu klingeln, doch ich ließ es klingeln. Wieder hastete ich mehrere Stufen auf einmal hinunter und stieß mit einem jungen Mann zusammen. Lederjacke, kurz rasierte Haare und ein T-Shirt mit irgendwelchen verschmierten Aufdrucken darauf. Ein ganz normaler Junge zwischen vierzehn und zwanzig.
„ Ey, Alter, pass mal auf!“ schrie er während ich mich an ihm vorbei drehte und endlich auf dem Bahnsteig landete. Die U-Bahn war noch da. Den Jugendlichen
der mir nun irgendwelche Beleidigungen nachbrüllte, ignorierend quetschte ich mich in den letzten Wagen. Kaum war ich durch die Tür schon schlossen sie sich hinter mir. Das letzte was ich noch hörte war das Geschrei des Jungen:
„ Ich ficke deine Mutter, du verdammter...“ dann waren die Türen zu und ich bekam noch eine anschauliche Pantomienenvorstellung wie dieser Junge sich das ficken meiner Mutter genau vorstellte. Egal. Ich war in der U-Bahn. Keine halbe Stunde warten bis die nächste kam. Eine halbe Stunde früher zuhause. Wie leicht man doch einen Menschen glücklich machen konnte.
Doch von dem Zustand Glücklich war ich ehrlich gesagt noch ein ganzes Stück entfernt. Ich wurde von dem dicksten Menschen der Welt gegen zwei Frauen gedrückt die mich nur fragend ansahen. Ihre Blicke sagten mehr als tausend Worte. Das war aus ihrer Sicht die billigste Anmache der Welt, und da musste ich ihnen leider sogar recht geben. Erst nachdem der Zug den Bahnhof schon fast verlassen hatte fiel mir auf das es mein Handy war, dass immer noch wie verrückt klingelte.
„ Gehe doch mal einer an sein Handy“
„ Das nervt!“
„ Bist du taub, Mann?“
Ich versuchte in die Brusttasche meines Jacketts zu greifen, was sich als gar nicht so einfach herausstellte wenn man bedenkt das diese Tasche sich nur drei Millimeter von den Brüsten einer der beiden Frauen entfernt befand. Das empfand diese wohl als noch billigere Anmache weshalb ihr Blick noch etwas kälter wurde. Nach unglaublich peinlichen fünf Sekunden hatte ich mein Handy aus der Tasche bekommen und konnte es mir ans Ohr halten.
„ Hallo?“
„ Herr Peters?“
„ Am Apparat.“
„ Sie wollten mich noch einmal anrufen und haben das wohl vergessen, deshalb dachte ich mir, ich rufe lieber sie noch einmal an. Nur damit wir das nicht vergessen, Herr Peters.“
Verdammt. Ich hatte Herr Meier wirklich noch anrufen wollen, das war aber bevor ich mich entschieden hatte, diese U-Bahn zu kriegen um deshalb durch die ganze U-Bahnstation zu sprinten.
„ Ich rufe sie in einer Stunde zurück. Ich kann gerade nicht sprechen.“ wimmelte ich ihn ab, was gar nicht mal gelogen war wenn man bedenkt das ich immer noch vom dicksten Mensch der Welt gegen zwei Frauen und die Wand gedrückt wurde. Mit diesen Worten legte ich auf.
„ Könnten sie mich hier mal bitte vorbeilassen?“ erklang eine genervte Stimme hinter mir. Wir waren offenbar an der nächsten Station angekommen und das Schwergewicht wollte an mir vorbei. Ich schob mich unter seinem Arm weiter in die Bahn. Als er auf den Bahnsteig stieg hörte ich noch wie er murmelte:
„ Ich hasse Leute die sich in der Bahn immer so breit machen.“ Über so viel Dreistigkeit müsste man eigentlich lachen wenn es einen nicht so sauer machen würde. Doch ich wurde schnell abgelenkt, als ich die Frauen, welche ebenfalls ausgestiegen waren, nun sagen hörte:
„ Also der ist mir so was von an die Wäsche gegangen, wenn ich mehr Platz gehabt hätte, hätte ich dem eine geknallt!“
„ Verdammter Perversling, soll seine Finger gefälligst woanders hinstecken.“ pflichtete ihre Freundin ihr bei.
Ich schoss meine Augen und lehnte mein Gesicht an die kühlen Fensterscheiben der Bahn. Heute war einfach nicht mein Tag. Wenigstens war jetzt etwas Platz und ich konnte mich so gegen die Wand lehnen, wie ich wollte, ohne Frauen und Sumo-Ringer zu stören.
Mein Handy klingelte schon wieder.
„ Hallo?“
„ Also, Herr Peters, sie wissen sicherlich das ich es nicht leiden kann wenn mein Gesprächspartner einfach auflegt. Wir kommunizieren hier und da finde ich gehört es sich das...“
Wenn ich nicht so ein ausgeglichener Mensch wäre und sich Herr Meier nicht sofort bei meinem Boss über mich beschweren würde, hätte ich ihn jetzt richtig angeschrieen. Ihn angebrüllt, was er sich eigentlich denke mich noch einmal anzurufen wenn ich ihm schon sagte, das es mir nicht passte. Doch stattdessen entschied ich mich für:
„ Es tut mir unglaublich Leid, Herr Meier, ich werde sie in einer Stunde zurückrufen da es mir leider im Moment wirklich nicht passt.
„ Kein Problem Herr Peters, auf wiederhören,“ flötete Herr Meiers in Telefon und fügte dann zuckersüß hinzu, „ so sieht das Ende eines Gespräches aus.“
Ich hatte schon aufgelegt als er immer noch blöde am Lachen war.
Die Türen der Bahn glitten wieder auf und ein weiterer Schwarm von Menschen strömte aus der Bahn. Während die Türen sich wieder schlossen ließ ich mich auf einen der nun zahlreichen leeren Sitzplätze fallen. Was würde wir, meine Frau und ich, wohl heute Abend essen? Und wie schon zuvor unterbrach das Klingeln meines Handy meine Gedanken.
„ Was gibt es?“ fragte ich mit zusammengepresster Stimme, da ich bereits die Nummer auf dem Display erkannt hatte: Herr Meier.
„ Oh Herr Peters, mir ist gerade aufgefallen das ich in einer Stunde leider verhindert bin, rufen sie lieber in 75 Minuten wieder an.“
Ich glaubte ich würde platzen als ich leise ins Telefon flüsterte:
„ Kein Problem, auf Wiederhören Herr Meier.“
„ Auf Wiederhören Herr Peters.“ flötete dieser Nervbolzen und beendete das Gespräch.
Und dann ging das Licht aus.
Wenn man in einem Tunnel fährt und dann sämtliches elektronisches Licht ausgeht wird es um einen herum wirklich stockfinster.
„ Was ist hier los?“ fragte ich laut in die Dunkelheit.
Keine Antwort.
„ Hallo?“
Wieder keine Antwort. Doch bevor ich ein drittes mal rufen konnte ging das Licht wieder an.
Alles war wieder wie vorher. Nichts hatte sich verändert.
Schräg hinter mir saß immer noch ein schlafender Mann. Drei Plätze weiter vorne ein Jugendlicher mit einem T-Shirt der Musik hörte und ein alter Herr mit Hörgerät der interessiert in einem Buch lass.
„ Was war das hier gerade?“ fragte ich noch einmal laut nach. Der Junge zog seine Ohrstöpsel aus den Ohren und sah mich genervt an.
„ Ein ganz normaler Stromausfall, das passiert manchmal. Kein Grund hier so ein Aufstand zu machen,“ und mit diesen Worten steckte er sich wieder die Stöpsel in die Ohren und schaltete seine Musik offenbar lauter.
Ich blickte mich im Wagen um. Niemand schien diesen Stromausfall als besonders spannend oder besorgniserregend einzustufen, weshalb ich mich nun auch wieder zurücklehnte und tief durchatmete. Mach hier keinen Aufstand, es ist alles okay, dachte ich mir.
Noch während ich das dachte ging das Licht wieder aus. Finsternis. Und inmitten dieser Dunkelheit kam der Zug zum stehen. Noch nie klang das Zischen mit denen sich die Türen öffneten so unheimlich.
Tap. Tap. Tap.
Schritte. Schritte die sich auf mich zu bewegten. Ich begann zu schwitzen und fühlte wie sich die Härchen auf meinen Armen aufrichteten.
Das Licht ging wieder an.
Der Jugendliche stand vor mir und blickte lächelnd auf mich herunter. Er zog sich die Kappe die er trug weiter ins Gesicht und ging lachend an mir vorbei.
„ Du machst dir ja gleich in die Hose, nur weil das Licht nicht mehr brennt?“ Er trat durch die Türen und blieb kurz wartend auf dem Bahnsteig stehen.
Ich musste noch weiterfahren, das hier war nicht meine Haltestelle, trotzdem war ich kurz davor ebenfalls aus der Bahn zu springen. Ich könnte mir ein Taxi nach Hause nehmen. Meine Frau würde zwar schimpfen aber wäre das nicht bedeutungslos im Vergleich zu dem was hier ablief? Und was lief hier eigentlich ab? Es war doch eigentlich nichts passiert. Ein Stromausfall im Feierabendverkehr, dass war doch alles.
Die Türen schlossen sich wieder und die U-Bahn fuhr wieder an. Der Jugendliche drehte sich noch einmal zu mir um und tippte sich lachend an die Kappe.
Ich ließ mich wieder in meinen Sitz zurücksinken. Es gab überhaupt kein Problem, alles war in bester Ordnung. In fünfzehn Minuten würde ich aussteigen und diese Fahrt bei einem Rotwein vergessen.
Der Zug wurde wieder langsamer und fuhr scheinbar in den nächsten Bahnhof ein. Die Türen öffneten sich wieder, doch niemand schien ein oder auszusteigen zu wollen. Mein Blick pendelte über die offenen Türen und somit über den Bahnsteig.
Ich erstarrte.
Mein Herz hörte für eine Sekunde auf zu schlagen.
Es gefror in meiner Brust wie Wasser das man ins Eisfach legte.
Sie lag auf dem dreckigen Boden des Bahnsteigs.
Mitten in einer Pfütze und auch von ihr tropfte es langsam auf den Boden.
Blut!
Blut tropfte von der Kappe!
Blut tropfte von der Kappe des Jungen!
Blut tropfte von der Kappe des Jungen, welcher mich vor zwei Minuten noch ausgelacht hatte!
In diesem Moment ging das Licht zum dritten mal aus.
Ich schrie. Ich schrie so laut ich konnte:
„ Hilfe! Verdammt was ist hier los? Hilfe!“
Keine Antwort. Allerdings schlossen sich die Türen des Zuges und er nahm wieder Fahrt auf.
Ich stolperte den Gang entlang, bis ich glaubte neben dem Platz angekommen zu sein auf dem der alte Mann gesessen hatte und sein Buch gelesen hatte. Ich griff nach vorne und packte einen Arm.
„ Sie müssen mir helfen! Da draußen lag die Kappe des Jungen. Er muss tot sein! Helfen sie mir!“ schrie ich in die Dunkelheit.
Der Arm schüttelte meine Hand energisch ab und eine unglaublich ruhige Stimme sagte:
„ Sie sind zu aufgeregt. Ich bin mir sicher sie haben sich das alles nur eingebildet. Setzen sie sich einfach wieder hin, trinken sie zu Hause einen schönen Rotwein und vergessen sie diese Fahrt.
Was passierte hier?
Ich taumelte einen Meter zurück, stürzte über eine Haltestange und fiel auf den Gang.
„ Verdammt was läuft hier?“ brüllte ich während ich mich versuchte wieder aufzurappeln.
Und in dieser Sekunde klingelte mein Handy. Ich brauchte eine Sekunde um diesen völlig alltäglichen Ton in dieser Situation wiederzuerkennen, packte es dann und hielt es mir ans Ohr.
„ Ich brauche Hilfe! Es ist alles dunkel und der Junge ist tot! Bitte helfen sie mir!“ schrie ich in den Hörer.
Eine Sekunde Stille. Dann erklang eine Stimme aus der Leitung:
„ Aber, aber Herr Peters, ich wollte ihnen doch nur kurz sagen, dass sie mich gleich nicht zurückrufen müssen,“ erklärte Herr Meier und ich war den ganzen Abend noch nie so froh das er mich anrief,“ weil sie sowieso gleich sterben werden.“ beendete er seinen Satz.
Die Angst traf mich wie eine gewaltige Welle die über mir zusammenbrach, mich nach unten drückte und immer weiter in die Tiefe zog. Sie war wie eine Krake, die ihre Fangarme schon die ganze Zeit um mich gelegt hatte und mich nun in diesem Moment in die Tiefe zog.
„ Was soll das heißen?“ brüllte ich in den Hörer.
„ Auf Nimmerwiedersehen, Herr Peters.“
Klack. Die Leitung war tot.
Ich tippte 110 ein und riss mir mein Handy an mein Ohr.
„ Hallo? Können sie mich hören?“
Es dauerte eine Sekunde bis eine elektronische Stimme sagte:
„ Kein Anschluss unter dieser Nummer.“
Ohne darüber nachzudenken tippte ich 112 und die Handynummer meiner Frau ein. Beides mit dem gleichen Ergebnis:
„ Kein Anschluss unter dieser Nummer.“
Und gerade in dieser Sekunde als ich mein Handy völlig geschockt sinken ließ vernahm ich eine weitere elektronische Stimme, diesmal aus den Lautsprechern der Bahn:
„ Endhaltestelle. Diese Fahrt und ihr Leben enden hier.
„ Nein!!!“ schrie ich und warf mich nach vorne um den alten Mann mit seinem Buch zu packen, doch er stieß mich einfach zurück, sodass ich durch den Gang taumelte und direkt vor der sich öffnenden Tür der U-Bahn landete.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Ich musste träumen. Das hier konnte einfach nicht die Realität sein. Allerdings...
Konnte ein Traum so realistisch sein? So genau? So detailgetreu? Könnte ich aufwachen? Würde ich aufwachen? Konnte man aus einem so echt wirkenden Traum aufwachen? War es überhaupt ein echtwirkender Traum oder die realwirkende Realität? Was würde ich sehen wenn ich die Augen aufmachen würde? Würde mein Leben weitergehen? Oder würde ich wie der Junge sterben? Hätte ich diese U-Bahn niemals nehmen dürfen? War es mein Fehler? War diese U-Bahn nicht für mich bestimmt gewesen? War ich zu Unrecht hier eingestiegen? Würde ich aufwachen?
Ich öffnete die Augen.
Dunkelheit! Stille! Angst! Panik! Schweiß!
War ich aufgewacht? Verbarg sich hinter dieser undurchdringbaren Dunkelheit mein Schlafzimmer? Würde ich leben?
Oder...
War die U-Bahn Realität? Verbarg sich in dieser undurchdringbaren Dunkelheit das, was den Jungen getötet hatte und nun auch mich töten würde? Würde ich sterben?
„ Steh auf! Es ist Zeit.“
Ich gehorchte.