"Schullandheim - jpie!" So würden viele Jugendliche sagen. Doch Mia gehört nicht zu ihnen. Ein altes Tagebuch kommt ihr nicht aus dem Sinn. Und dann ist da immer wieder diese komische Frau, die Illusionen von ihr. Menschen sterben - und es kann nicht verhindert werden! ...und dann wacht Mia plötzlich auf. Alles ist anders. SIE ist anders. Mia erfährt, dass sie zu einem Vampir geworden ist und muss sich entscheiden. Blut oder Leben. Tag oder Nacht. Licht oder Finsternis. Welchen Weg wird sie wählen? Und wer ist überhaupt Erzsébet Báthory und was hat sie mit der ganzen Sache zu tun?
Es bereitete ihr gar keine Mühe lautlos ins Zimmer zu gelangen. Das Fenster stand offen. In einem Bettchen mit Gittern – welche das jeweilige Kind vor dem Sturz daraus bewahren sollten – lag eine kleine Gestalt.
Sie schenkte ihr keine Bedeutung. Sie war aus einem anderen Grund hier. Sie ging auf die schmale Treppe zu, die an einer Tür endete. Sie wollte auf die Tür zulaufen, doch etwas dass ihr bis zum Schienbein reichte, leistete ihr schwachen Widerstand. Sie sah zu ihm herunter.
Wieder ein Gitter, um das Kind vor Verletzungen und Schmerzen zu bewahren.
Früher oder später wird ihm sowieso etwas wiederfahren. Warum dann jetzt schon so übertrieben bewahren?
Sie stieg darüber hinweg und in einem Zug die schmale, steile Treppe hinunter. Kurz vor der alten, dunklen Holztür landete sie. Lautlos und elegant wie eine Katze.
Sie öffnete die Tür und gelang in einen weiteren Raum. Sie schlich sich weiter und weiter durch das Haus. Durch einen Raum. Rechts. In einen Flur…und da hatte sie endlich das Zimmer gefunden, das sie gesucht hatte.
Eine alte Frau lag schlaflos im Bett und wartete. Auf den nächsten Morgen, auf den Schlaf oder vielleicht doch einfach auf den Tod. Aber man wusste ja nie genau, was in einem Menschen – oder jedem anderen Wesen – so vor sich ging.
„Hallo Marianne.“
Die alte Frau drehte den Kopf in ihre Richtung. Ihr silbergraues Haar war kraus. Ihr faltiges Gesicht war schneeweiß und wirkte käsig. Falten durchzogen es und sie sah aus, wie ein alter, häufig benutzter Lederkoffer. Voller Erinnerungen und jeder Menge Erfahrungen.
Nicht genug Erfahrungen, aber dennoch einige, korrigierte sie.
Sie sah so…hilflos, alt und schwach aus. Ganz anderes als vor so lange Zeit. Und trotzdem leuchteten ihre braunen Augen immer noch wie die des jungen Mädchens. Genau wie bei ihrem letzten Aufeinandertreffen.
„Ella.“
Sie lachte leise und atemberaubend. „So viele Jahre ist es nun schon her.“
Sie schlich durch den Raum. Ihre Bewegungen erinnerten an ein Raubtier vor dem Sprung.
„Wie könnte ich dich nur vergessen? Seit all den Jahren spielst du jede Nacht die Hauptrolle in meinen Albträumen.“
„Oh… Au weia.“ Ella griff sich mit ihrer rechten Hand an die Stelle auf ihrer Brust, an der einst ein Herz schlug. Auch wenn es scheinbar unmöglich war, dass so eine Kreatur einst ein schlagendes Herz besessen hatte.
„Dass schmerzt!“
„Warum bist du hier.“ Böse starrte Marianne Ella an.
„Gibt es einen Grund für mich nicht hier zu sein? Mein Herz sehnt sich schon so lange danach, endlich wieder meine Familie sehen zu können…“
„Sie sind nicht deine Familie! Und ein Herz besitzt du auch nicht. Gehe nun, und lasse ihnen ihren Frieden.“
Ella hob eine Augenbraue. Neunundachtzig Jahre war Marianne nun schon alt. Doch sie konnte sich wie ausdrücken, als hätte sie vor Jahrhunderten gelebt.
Sie seufzte. Doch dann änderte sich ihre Mine zu einem spöttischen und zugleich so blutrünstigem Blick, der selbst Siegfried den Drachentöter die Angst in alle Knochen hätte fahren lassen.
„Doch wer wird mich daran hindern? Welche Kraft kann sich mit mir messen!“
Marianne schwieg.
„Garantiert nicht ein altes, nach Abenteuern dürstendes Weib! Nichts und niemand auf keinem der vielen Kontinente dieser Welt und auch in sonst keiner anderen wird mich jemals aufhalten können! Meine Macht übertrifft momentan die eines jeden. Eines jeden außer der ihren.“
„Aus welchem Grund bist du gekommen, Ella? Ich glaube nicht, dass du mich nur aufgesucht hast um mir deiner Macht vor mir zu prahlen.“
„Hm… wahrscheinlich hast du ein Recht es zu erfahren…“ Ella ging eine Weile auf und ab. Sie schien zu überlegen. Dann blieb sie abrupt stehen und grinste breit. „Sie will das Mädchen.“
„Sie?“ Marianne dachte nach. Doch dann viel es ihr wie Schuppen von den Augen. „Dass ist nicht möglich! Sie ist seit Jahrhunderten tot!“
„Oh. Da hast du etwas falsch verstanden, vermute ich. Ihr Körper ist tot. Aber sie selbst ist lebendiger den je. Lebendiger als vor über 400 Jahren!“
„Dass ist verrückt!“
Ella wollte etwas sagen, doch Marianne ließ sie nicht zu Wort kommen.
„Ella, nach alldem, was vor über 400 Jahren geschehen ist, wäre es purer Wahnsinn, so eine Katastrophe noch einmal erneut heraufzubeschwören.“
„Nein. Es war keine Katastrohe, wie du zu sagen pflegst. Sie hat sich genommen, was ihr zu stand!“
Marianne schüttelte energisch den Kopf – Ella fragte sie, wie sie das trotz ihres Alters und der Tatsache, dass sie noch immer in ihrem Bett lag zustande brachte – und wandte ein: „Es stand ihr alles andere als zu unzählige Menschenleben an sich zu reißen.“
„Darüber kann man streiten“, murmelte Ella angriffslustig.
Marianne seufzte. „Aber wie kannst du wissen, dass sie überhaupt noch einmal auf diese Welt will? Du kannst doch gar nicht mit ihr kommunizieren! Und das kannst du nicht.“
„Doch sie kann es. Sie sucht regelmäßig Kontakt zu mir um mit mir zusammen Pläne zu knüpfen“, entgegnetet Ella fest entschlossen.
„Aber“ - Marianne schnappte nach Luft. „Aber dazu brauchst…“„
„ ‚Aber dazu brauch ich doch eine Formel!‘ Wolltest du das gerade von dir geben? Dann gibt es hier etwas, was du wissen solltest. Sie bracht keine Formel, um mit mir zu reden! Aber ich würde mir eine andere in ihrem Willen ersehenen…“
Marianne sagte nichts, sondern drehte den Kopf weg.
„…und du weißt genau welche es ist.“
Marianne schwieg.
„Sag sie mir.“
Ein unglaublicher Zorn stieg in Marianne auf. „Und was willst du machen, wenn ich sie dir gegeben habe? Mich töten?!“
„Dann werde ich dass Mädchen bis auf Weiteres am Leben lassen.“
„Und was wirst du tun, wenn ich sie dir nicht aushändige?“
„Willst du das wirklich wissen?“
„Eigentlich nicht.“
„Nun, als kleinen Anreiz, mir die Formel auszuhändigen wirst du es nun aber trotzdem erfahren.“
Sie verschwand eine Sekunde und tauchte in der nächsten auch schon wieder auf. Auf ihren Armen lag ein kleines, schwaches Geschöpf.
„NEIN!“ schrie Marianne automatisch, als Ella dem Kind die Finger an den Hals legte. „Nein, bitte nicht… sie ist doch erst vier Jahre alt! Sie könnte sich nicht einmal wehren. Tu das nicht, bitte…!“
Sie lachte grausam.
„Du hast mich überzeugt!“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Schluchzen und Weinen. „Ich werde sie dir geben! Aber bitte – ich flehe dich auf Knien an! – lass meinen kleinen Engel am Leben!“
Ella grinste erst, doch dann änderten sich mit einem Mal ihre Gesichtszüge, als ihr einfiel, dass sie etwas vergessen hatte.
„Sie ist auf Französisch, nicht wahr?“
„Alle Formeln des alten Hexengeschlechtes sind auf Französisch.“
Ella seufzte.
„Ich kann sie dir aber auch auf Deutsch sagen wenn du es so haben willst.“
„Mmmh… Dann verlieren sie aber ihre Zauberkraft….aus welchem Grund auch immer…“„
„Französisch ist eine magische Sprache. Du kannst schimpfen, du kannst fluchen, du kannst andere verhexen… und für Menschen, die kein Französisch können, hört es sich trotzdem an als würdest du singen. Nur wenn es in diesen…Musikrichtungen verwendet wird hört es sich einfach grausig an.“
„Das mag sein. Aber ich habe diese Sprache nie gelernt… Wie denn auch sei. Mich dürstet danach, ihre unerschrockene Schönheit zu betrachten! Ich will mich an der Schönheit meiner Großmutter sattsehen und von ihr die Belohnung für meine harte, langjährige Arbeit bekommen!“
„Nein! Hör mir zu, Ella! Sie will nur mit den Herren gleichgestellt werden! Sie wird dich niemals zu etwas wie einem Gott machen können! Sie würde so etwas auch niemals wollen! Sie will alles selbst besitzen und über alles selbst herrschen. Wenn sie hat was sie will wird sie dich töten…“
Ella hörte Marianne gar nicht zu. Sie strich dem Kind sanft mit ihrem Finger über die Halsschlagader.
„Ich warte.“
Marianne sagte nichts.
Angstschweiß sammelte sich in ihrem Nacken.
Auch wenn das Kind nicht mitzukriegen schien, dass es jeden Moment getötet werden konnte.
Nein!, dachte Marianne. Nicht dass Kind! Ich muss sie ihr sagen, oder sie wird die letzte noch so kleine Hoffnung auf eine Welt ohne die Gräfin töten…
Aber gleichzeitig wusste sie, dass sie damit ihre Enkelin ebenso in Gefahr brachte. Es gab keinen Ausweg. Außer…
Marianne seufzte. „Ich weiß, dass ich gerade dabei bin einen großen Fehler zu machen. Aber ich kann nichts Anders tun.
Einst tot geglaubt, des Körpers beraubt,
Bei Blut von Schlange, Ochse, Mensch und Schwein,
Bei Tränen des Vampirs,
Mögest wieder lebendig sein!“
„Das ist nicht die Formel!“, schrie Ella sofort. „Du hintergehst mich!“
„Doch, dass ist sie, glaube mir!“
„Nein, sie ist nicht Französisch!“
„Es war nie die Rede davon, dass ich sie dir auf Französisch mitteilen sollte!“
Da rastete Ella aus. Sie setzte das Kind auf den Boden und stürzte sich auf Marianne.
In einer einzigen Bewegung brach sie ihr das Genick und riss ihr ein Stück Haut auf. Das Blut klebte ihr an den Händen, an den Zähnen und im ihrem ganzem Gesicht. Doch das interessierte sie nicht. Wie konnte diese alte, schwache, dumme Hexe es wagen, sie anzulügen?
Sie ließ den leblosen, immer noch warmen Körper zurück ins Kissen sinken und schaute auf das Kind.
Mit großen Augen starrte es sie an.
Es hat Angst, dachte Ella.
Doch Ella bereute nicht, was sie getan hatte. Sie wusste, dass es ein Fehler gewesen war, Marianne zu töten. Wo würde sie nun schließlich die Formel herbekommen? Alle Hexen waren tot!
Aber genau das störte Ella nicht. Sie hatte die Hexen schon immer gehasst. Diese besserwisserischen, angeberischen, scheinheiligen,…
Sie nahm das Kind wieder auf den Arm.
Es zitterte. Behutsam schob sie den Ärmel seines Schlafanzuges zurück und fuhr sachte an einer dicken Ader an ihrem Arm entlang. Ihr Finger hinterließ eine rote Spur.
Sie hielt kurz inne, dann malte sie mit ihrem Finger etwas auf ihre Stirn. Ein Wappen. Das Wappen ihrer eigentlichen Familie. Das Wappen der Báthory.
Da geschah auf einmal etwas Merkwürdiges. Das Blut bekam eine andere Farbe… nein… es begann zu leuchten und sich in die Stirn des Kindes zu saugen. Auch das Blut auf seinen Armen war nicht mehr da.
Die kleine schloss einen Momentlang hochkonzentriert – zu konzentriert für eine zwei-jährige.
Ella hatte mit einem Mal eine Idee. Dieses Kind würde einmal eine große Bedeutung haben, da war sie sich sicher. Und irgendwann … irgendwann wenn sie alt genug sein würde, würde sie ihr helfen, das zu bekommen, was sie schon so lange wollte. Sie war die Auserwählte, von der Erzsébet die ganze Zeit gesprochen hatte. Die sie versucht hatte, ihr zu beschreiben.
Ella brachte das kleine Mädchen wieder in sein Gitterbett.
Dann ging sie noch einmal im Haus umher und suche den passenden Platz. In einem Zimmer – anscheinend einem Büro – im Keller stand ein alter Sekretär.
Ella öffnete ihn.
Mit einem lauten Quietschend schwang er auf. Sie nahm den Rucksack vom Rück und zog etwas heraus – ein paar Rollen Pergament, beschrieben mit Chroniken und ein altes Tagebuch. Eigentlich hatte Ella etwas anderes mit den Sachen vorgehabt, aber das hier war wichtiger.
Sie schwang sich den Rucksack wieder auf den Rücken, schloss den Sekretär und ging, um aus dem Fenster in dem Kinderzimmer wieder aus dem Haus zu schlüpfen. Das würde am wenigsten auffallen.
Sie ging einen Flur entlang. Als sie fast an ihrem Ziel angekommen war, hörte sie ein leises Schnarchen aus einem Raum.
Ella öffnete die Tür zu dem Zimmer einen Spalt breit und schlüpfte hinein. Das Elternschlafzimmer.
Sie ging auf den Vater des kleinem Mädchens zu und flößte ihm eine Botschaft in den Traum ein.
In der Botschaft hieß es, er solle dem Mädchen sagen, dass im Sekretär Spinnen seinen. Das würde sie kurze Zeit abschrecken. Aber wenn siel alt genug sein würde, würde sie nachsehen und das Vermächtnis ihrer Vorfahren vorfinden.
Sie verließ den Raum und ging in das Zimmer des Kindes. Sie wollte gerade in Richtung Fenster gehen, als sie das Mädchen in seinem Bett sah. Sie ging auf es zu.
„Pass auf dich auf“, flüsterte sie ihm zu. „Du bist etwas Besonderes, Melissa Katarina Marie Edith Viktoria Magdalena von Warmfels.“
Doch das kleine Mädchen schlief nicht einfach weiter.
Mit voller Intensivität schlug es die Augen auf und starrte mit hochintelligentem Blick zu Ella hoch.
Diese wandte sich schnell ab und glitt wie ein Geist aus dem Fenster. Hinein in die schier unendliche Nacht mit all ihrer Schwärze.
***BUCH EINS***
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