Der Raum füllte sich langsam und ich spürte wie meine Anspannung wuchs. All die Leute, die in ihren feinen Kleidern dort saßen, sie machten mich nervös. Ihre Blicke würden mich löchern sobald ich aus dem Raum trete und ihnen gegenüberstehe. Dieses Starren. Ich konnte es nicht ertragen und war froh nur einen kleinen Blick durch den Türspalt erhascht zu haben als Sam eintrat. "Heute ist dein großer Tag, Big Daddy!", grinste er mir zu, doch ich konnte das Lächeln nicht erwidern. Mir war nicht zum Lächeln zu Mute. Wie auch? Denn das was hier geschah, war nicht das was ich wollte. Es war eine Qual und ich versuchte vor meinen Gedanken zu flüchten. Eine Flucht in die Erinnerung an bessere Zeiten.
Da war sie wieder. Die Zeit die zwar schön war, aber die ich ebenfalls zu verdrängen versuchte. Es war die beste Zeit meines Lebens, doch sie schmerzte. Aber es war nicht zu vergleichen mit dem was ich gerade durchmachte. Deswegen gab ich mich wohl den Gedanken hin. Den Erinnerungen. IHR. Ja, sie tauchte wieder auf. Nahm mich ein. Nahm mich so sehr ein, dass ich alles andere ausblendete. SIE. Die Eine. Myra. Meine Myra. Mein Flöckchen, wie ich sie immer nannte.
Es formte sich ein klares Bild, von dem Tag an dem ich sie traf, in meinem Kopf. Ja, ich spürte sogar die Kälte auf der Haut vom eisigen Wind der durch die Straßen peitschte. Schnee fiel und verwandelte die Landschaft in eine weiße Pracht. Nur im Winter sah die Stadt so gut aus, weil der Schnee viele Makel verdeckte. All die Schlaglöcher in den Fahrbahnen ebenso wie die mit Graffittis verschmierten Häuserblocks. Schon damals glaubte ich, dass diese Stadt nichts Gutes hervorbringen wird, und letztlich behielt ich damit auch Recht. Aber an jenem Tag, der mir nun wieder ins Gedächtnis gerufen wurde, keimte zum erstenmal die Hoffnung auf Besserung auf. Die Hoffnung auf einen Sinn. Auf etwas das endlich mal Bestand in meinem Leben hätte, obwohl es zu dem Zeitpunkt alles andere als danach aussah.
"Das ist mein Glas!", hämmerte der Klang ihrer Stimme noch durch meinen Kopf als sei es erst gestern gewesen. "Ich habe zuerst danach gegriffen." Mit einem ernsten Blick sah sie mich an, während wir zufällig im Supermarkt nach dem selben Glas Erdnussbutter griffen. "Sie sollten nicht so herumträumen.", fuhr sie fort und zerrte an dem Glas, welches ich jedoch nicht losließ. "So wie ich das sehe, ist es noch nicht sicher von wem das Glas ist.", grinste ich ihr entgegen und bemerkte erst da ihre smaragdgrünen Augen. "Es ist das letzte Glas von der Sorte, also würden Sie jetzt bitte loslassen?", knurrte sie mich leicht erzürnt an und ich ließ tatsächlich locker. "Na okay... dann verzichte ich halt auf mein Mittagessen!", stieß ich mit einem charmant chauvinistischen Unterton aus und warf ihr ein dermaßen übertriebenes Lächeln zu, dass sie ihr Gesicht zu einer Grimasse verzog. "Kaufen Sie sich doch ein paar Erdnüsse und ein Paket Butter, dann können sie sich ihre Erdnussbutter selber herstellen. Selbst ist der Mann, sagt man doch so schön!", zwinkerte sie mir nur zu nachdem ihr Blick einmal komplett von oben nach unten über meinen Körper wanderte. Natürlich hatte auch ich schon längst meinen Blick schweifen lassen und war mehr als angetan von dem was sich mir darbot. Eine zierliche kleine Figur mit wohlgeformten Po und ebenso ansprechendem Vorbau verschränkte da die Arme vor mir. Ihr langes braunes Haar lag teils nach vorn über ihre linke Schulter und sie hatte eine Mütze auf, welche sie ziemlich tief ins Gesicht gezogen hatte. Es fehlte nur noch ein lustiger Bommel und ich hätte mir ein weiteres Grinsen nicht verkneifen können. "Ich habe leider zwei linke Hände also wird der Plan von der eigenen Erdnussbutter scheitern!", antwortete ich ihr mit einem Lächeln. "Muss es denn unbedingt Erdnussbutter sein?", fragte sie mehr rhethorisch und war im Begriff zu gehen als ich ihre Frage jedoch prompt beantwortete. "Nein, muss es nicht sein. Ich würde auch mit Ihnen Essen gehen.", stieß ich, über mich selbst überrascht, aus und sie blieb stehen. "Ich halte nicht viel von Supermarktflirts, aber vielleicht sieht man sich ja nochmal woanders!" Mit einem Zwinkern schritt sie hüftschwingend fort und verschwand hinter einem der Regale.
Ich grinste noch vor mich her bei dem Gedanken an den Supermarkt, als plötzlich erneut Sam in den Raum trat. Sein vorheriges Verlassen des selbigen hatte ich gar nicht bemerkt. "Hier ist dein Erdnussbuttersandwich!", sagte er in ruhigem Tonfall und stellte das Tablett in meiner Nähe ab. Sofort begann ich wieder zu Grinsen und er wunderte sich, ging jedoch nicht darauf ein. "Genieß das Sandwich! Der Priester kommt dann gleich vorbei." Nachdem er dies sagte, verließ er den Raum wieder und ich war alleine. 'Priester', dachte ich nur und mir kam sofort eine weitere Erinnerung in den Sinn.
Ungefähr drei Jahre nach der Begegnung im Supermarkt war ich mit Myra fast ebenso lange in einer Beziehung und wir lebten ein glückliches, jedoch bescheidenes, Leben. Ich brauchte jedoch nicht viel, da es der größte Luxus war sie an meiner Seite zu haben. Es mag kitschig klingen, doch wir lebten den perfekten Traum einer Beziehung. Natürlich hatten wir auch Streits, und teilweise auch wegen echter Lapalien, aber wir meisterten all diese Hürden mit solch einer Leichtigkeit, dass man annehmen konnte das uns nichts aufhalten kann. Tatsächlich sprach jedoch einiges gegen uns, da selbst einige Freunde es für keine gute Idee hielten, dass wir ein Paar waren. Doch das kümmerte uns kaum, denn entweder sie würden es tolerieren oder sie wären keine richtigen Freunde, wie Myra und ich befanden.
Es war erneut Winter und wir spazierten durch die Stadt, als wir an einem Juwelier vorbeikamen. Typisch für Myra blieb sie am Schaufenster stehen und sah sich den Schmuck an. Natürlich lagen die Preise weit über dem was wir uns leisten konnten, aber sie überredete mich dazu, dass wir in den Laden gingen. Beim Durchschreiten der Türe bimmelte ein Glöckchen, welches unser Eintreten ankündigte. Sofort trat ein älterer Herr, augenscheinlich der Besitzer, aus einem Hinterzimmer. Er machte einen freundlichen Eindruck und war sehr gepflegt. Sein weißes Haar wies keinen farblichen Unterschied zu seinem Schnauzbart auf und er stellte sich hinter seine Kasse. "Wie kann ich Ihnen behilflich sein?", fragte er in einem väterlich ruhigen Ton, welcher fast schon suggerierte 'Kauf etwas'. Myra lächelte ihm zu und sagte bloß: "Wir schauen uns erstmal ein wenig um, danke." Sie packte meine Hand und zog mich zu einem Regal mit Uhren. "Lustige Tick-Tacks!", sagte ich zu ihr mit einem psychotischen Grinsen. "Machst du mir nun den lustigen Märzhasen von Alice im Wunderland? Zu spät, zu spät, zu spät... muss gehen, muss gehen, muss gehen!" Lauthals lachte ich, woraufhin sie mir einen neckischen Schlag verpasste. "Idiot! Nein. Ich wollt doch nur vom Verkäufer weg." Lächelnd zog sie mich weiter bis wir vor einem weiteren Regal zum Stehen kamen. Fasziniert sah sie hinein und ich legte meine Arme von hinten um sie. "Haben wir etwa etwas gefunden was uns gefällt?", fragte ich noch leicht spöttisch und sah nun ebenfalls in das Regal. Dort lagen mehrere Ringe aus.
"Findest du nicht auch, dass Ringe einen philosophischen Touch haben?", brachte sie in einem sanften Ton hervor und sah mich an. Sie war eine Denkerin, durch und durch. Das war sie schon immer. Ich weiß noch wie sie am Anfang zweifelte. An uns. An mir. An allem was halt nicht ihrem Denken entsprach. Und dennoch standen wir nun hier an dieser Stelle und sie sah mich fragend an. "Wie meinst du das, Liebling?", fragte ich nur besonnen zurück und erwiderte ihr sanftes Lächeln. "Nun ja, Ringe sind endlos. Sie schließen einen Kreis. Wie eine Metapher auf die Liebe. Deswegen gelten sie wohl auch als Symbol bei einer Hochzeit.", sprach sie euphorisch und mit einem Leuchten in den Augen in welches ich mich schon damals verliebte als wir uns zu unserem ersten Date trafen. "Gibt es denn einen der dir gefällt?" Sie zog eine Schnute. "Wieso? Willst du mich denn heiraten?", säuselte sie und streckte mir die Zunge heraus. "Na, wenn ich es mir leisten kann... .", scherzte ich und zog mein Portemonnaie hervor um einen gekünstelten Blick hineinzuwerfen. Sie grinste nur erneut und wandte sich wieder dem Regal zu. "Gut. Dann find ich mal einen." Kaum hatte sie dies gesagt, stand der Verkäufer auch schon neben ihr. "Wir haben sicherlich etwas passendes für Sie!" Diesen selbstgefälligen Unterton hörte ich sofort heraus und verzog meine Miene. In den folgenden Minuten predigte er ihr die Preise hoch und runter, was sie aber gelassen auf sich nahm und mir dabei immer ein Lächeln zuwarf.
Wieder wurde ich aus meinen Gedanken gerissen als mir plötzlich der Priester gegenübersaß, welchen Sam zuvor noch ankündigte. Ich sah ihn nur stumm an als er auf einmal von Gott und der Welt zu erzählen begann. Irgendwie erinnerte er mich an den Verkäufer aus dem Laden, denn er hatte genau den selben selbstgefälligen Ton drauf und sah ihm auch sonst sehr ähnlich. Daher schaltete ich auf Durchzug, denn alles was noch kommen würde war eh unvermeidlich. Ich nickte ihm nur an den Stellen zu wo er es von mir erwartete und versuchte mich einfach wieder hinfort zu träumen. Mit Erfolg.
Wieder standen wir in dem Laden und es waren nun schon 2 Stunden vergangen in denen der Verkäufer Myra beriet. Ich dachte schon, dass wir gar nicht mehr aus dem Geschäft kommen würden, als sie plötzlich jubelnd in die Hände klatschte und mich herüberrief. "Der ist es. Der und kein Anderer.", vernahm ich ihre Stimme in welcher soviel Freude zu liegen schien, dass es mich neugierig machte was sie dort vorfand. Als ich sie fast erreicht hatte, stürmte jedoch plötzlich Jemand in den Laden und es gab einen lauten Knall bei dem ich erschrocken zusammenzuckte. Ein maskierter Mann kam auf mich zu, während Myra hysterisch zu weinen begann. Beim Blick zu ihr hinüber sah ich, dass sie blutbesprenkelt war und dass der Verkäufer am Boden lag. Aus einer Wunde am Kopf traten Unmengen von Blut aus und der Maskierte richtete seine Waffe auf Myra. "Halt dein Maul!", schrie er zu ihr rüber und sie ging in die Hocke. Natürlich schlug mein Herz bis zum Hals, aber ängstlich erhob ich mich langsam da ich zu ihr wollte. Sofort richtete der Fremde nun die Waffe auf mich. "Keine Spielchen, verstanden?", plerrte er mir zu. Ich hob die Hände über meinen Kopf und sah ihn an. "Ich habe nichts vor. Ich will nur zu meiner Freundin.", versuchte ich ihn zu beschwichtigen, doch er machte einen sehr nervösen Eindruck. "Du bleibst schön da wo du bist." Aus seinem Rucksack, welcher mir erst jetzt auffiel, zog er einen Hammer und zerschlug die gläserne Front der Vitrine in seiner Nähe. Während er mit der einen Hand die Waffe auf mich richtete, griff er mit der Anderen nach seiner Beute und stopfte sie in den Rucksack. Immer noch wimmerte Myra und wippte vor und zurück mit verschränkten Armen. Just in dem Augenblick hörte man eine Polizeisirene draußen aufheulen. Erschrocken sah der Fremde zum Eingang und ich wusste, dass es meine einzige Chance war um etwas zu unternehmen. Ich sprintete auf ihn zu und stürzte mich auf ihn, doch er bemerkte es frühzeitig und konnte gegenwirken. Mit der Kraft der Verzweiflung versuchte ich ihm die Waffe zu entreißen, als sich plötzlich ein Schuss löste und er erschrocken zurückwich. Nun hatte ich die Waffe in der Hand und zielte auf ihn. "Es ist alles okay, Baby! Ich hab die Waffe.", rief ich zu Myra und lachte. "Damit hast du nicht gerechnet, du Pisser!", fluchte ich noch vom Adrenalinschub beflügelt. Doch Myra antwortete nicht, und so warf ich meinen Blick zu ihr. Starr hockte sie am Boden und sah ins Leere. "Baby, alles okay?", wandte ich besorgt ein und ging auf sie zu. Dabei hielt ich weiterhin die Waffe auf den Kerl gerichtet und ich sagte er solle zur Kasse und vom Eingang weggehen.
Kaum hatte ich Myra erreicht, sackte sie mir im Arm zusammen. Aus ihrer linken Brust pulsierte das Blut und ich war entsetzt. Ich presste sie fest an mich und rief nach einem Arzt, doch nur der Fremde hörte dies. Von draußen drang nun eine Stimme über ein Megaphon ins Innere. "Hier spricht die Polizei! Wenn sie die Waffe ablegen und sich ergeben, wird Ihnen nichts passieren!" Ich bekam die folgenden Sätze nur halbherzig mit da Myra versuchte mich anzusprechen. "Schatz, es tut weh!", sagte sie weinerlich und ich strich ihr übers Haar. "Kleines, Rettung ist draußen. Sie sind gleich da hörst du. Halt durch!", sprach ich ihr beruhigend zu. Wieder richtete ich meinen Blick zum Eingang, doch immer noch trat niemand ein. Ich schrie verzweifelt nach Hilfe als Myra plötzlich meine Wange berührte und meinen Blick zu sich drehte. "Ich liebe dich.", sagte sie und wimmerte, doch als ich ihr selbiges erwidern wollte, unterbrach sie mich. "Ich will, dass du mir den Ring kaufst!", fuhr sie fort und hielt ihn mir in ihrer linken Hand hin. "Und ich will, dass du mich heiratest, hörst du?" Ich nickte ihr zu. "Ja, Schatz. Ja, das werden wir. Ja, das will ich.", sprach ich und gab ihr einen Kuss. Doch plötzlich regte sie sich nicht mehr. Ich schüttelte sie und sie gab kein Lebenszeichen von sich. "Nein. Nein, das kannst du mir nicht antun!", schrie ich sie an, so als wolle ich sie damit zu mir zurückholen. Doch es geschah nichts dergleichen. Plötzlich lachte der Fremde.
"Sieht so aus als hätte es nun sogar doch zwei erwischt.", meinte er lachend und in mir kochte die Wut hoch. "Zwei?", fragte ich schnaubend. "Zwei? Du Bastard!" Was dann geschah war wie ein Ohnmachtszustand. Unfähig rational zu handeln hob ich die Waffe und drückte ab. Die Kugel traf ihn in den Rücken und er zuckte überrascht zusammen. Er drehte sich mit entsetztem Blick zu mir um und ich feuerte erneut. Feuerte wieder und wieder, bis das Magazin leer war. Selbst dann drückte ich weiter ab, doch es machte nur ein klickendes Geräusch. Die Welt um mich herum nahm ich gar nicht mehr wahr. Alles erschien so unreal. Ich bemerkte noch nicht mal wie die Polizei in den Laden stürmte. Wie sie mich auf den Boden zwängten und festnahmen.
Wieder wurde ich zurück ins Hier und Jetzt gerissen als Sam mit dem Finger vor meinen Augen schnippte. "Hey Mann! Aufwachen. Es wird langsam Zeit für dich!", sprach er mit ruhiger Stimme und einem Lächeln im Gesicht. Ausdruckslos und benommen griff ich zu meinem Hals und an einem kleinen Band zog ich etwas hervor. Es war der Ring den Myra aussuchte. Der Ring den sie haben wollte für unsere Hochzeit und ich küsste ihn. "Die Leute warten schon.", drängte Sam mich ein wenig und ich erhob mich von meinem Bett. Mühsamen Schrittes ging ich auf Sam zu. "Lass mich nur nochmal alles checken!", sprach er und kontrollierte ob sowohl Hand- als auch Fußfesseln richtig angebracht waren. Dann öffnete er die Tür und wir schritten über den Korridor an den anderen Zellen vorbei zur Hinrichtungskammer, wo sich schon hinter dem Sichtfenster die Leute versammelt hatten und mich wie erwartet mit ihren fragenden Blicken löcherten.
