Der letzte Tanz
Die alte Holztür fiel knarrend in ihr Schloss und sperrte das schwindende Licht des Herbstnachmittags aus. Nur durch das kleine Milchglasfenster stahl sich ein trüber Sonnenstrahl herein und tauchte den langen Flur in orangefarbene Wärme.
„Vielleicht solltest du dich etwas ausruhen. Ich habe dir oben ein Zimmer hergerichtet, sag einfach Bescheid, falls etwas fehlt. Nimm dir, was du brauchst. - Fühl dich wie zu Hause.“
Die Stimme drang nur leise an ihr Ohr. Dumpf, wie durch einen Nebelschleier, der sie umgab, um alles Unwichtige von
ihr fernzuhalten. Dennoch spürte sie die Unsicherheit hinter jedem einzelnen der schnell gesprochenen Worte, wusste um die Ratlosigkeit und die leise Verzweiflung, die sie hinter einer Mauer aus gespielter Freundlichkeit und Fürsorge zu verbergen versuchten. Doch sie hatte nicht mehr die Kraft, darauf einzugehen, etwas zu erwidern. Die Tränen, gegen die sie so lange angekämpft hatte, waren vor ein paar Tagen auch durch den letzten Damm gebrochen und hatten das verbliebene bisschen Energie aus ihr herausgespült. Nichts war ihr geblieben. Nichts außer künstlicher Freude und Mitleid.
Wortlos setzte sie einen Fuß vor den
anderen, versuchte ihr noch immer schmerzendes Bein nicht allzu sehr zu belasten. Gegen die Krücken, die man ihr empfahl, hatte sie sich energisch gewehrt. Es würde nichts ändern. Sie hatte ein Recht darauf zu leiden und bei jedem mühsamen Schritt denselben dumpfen Stich zu spüren. Wie eine Nadel, die schon zu oft in dieselbe Stelle gestochen hatte.
Mit dem Finger strich sie über das dunkle Holz der alten Kommode, hinterließ hässliche Spuren in der makellosen Staubdecke. Manches, das in seiner Perfektion nicht weiter auffällt, wird durch einen kleinen Fehler, eine winzige Unebenheit erst interessant. Sie
hatte vergessen, wer diesen geistreichen Satz gesagt hatte, wusste nur, dass der Verfasser damit sicher keinen Menschen meinte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ein Makel jemanden interessanter machen sollte.
Die Treppe zum ersten Stock ächzte unter ihren schweren Schritten, sie konnte es ihr nicht verübeln. Oben erstreckte sich der gleiche Gang, spärlich beleuchtet von dem Licht, das durch ungeputzte Scheiben fiel. Das Ende des Flurs lag im Dunkeln.
Sie hatte das Haus ihrer Großeltern selten besucht. Das letzte Mal war Jahre her, sodass sie sich kaum mehr daran erinnerte. Sie konnte damals nicht älter
als vier gewesen sein.
Langsam wagte sie sich vorwärts, erkannte verschiedene Türen zu beiden Seiten, einige davon mit rostigen Schlüsseln im Schloss. Während sie zu erraten versuchte, hinter welcher Tür sich das ihr zugedachte Zimmer verbarg, fiel ihr Blick auf ein gerahmtes Bild am Ende das Gangs.
Hinter der Scheibe blickten ihr rauchgraue Augen entgegen. Augen, in denen sich Freude und Glück spiegelten. Ehrliche Gefühle, konserviert hinter trüb gewordenem Glas.
Die nächste Türklinke lag unter einer Decke aus dickem Staub und Rost. Ablagerungen jahrelanger
Vernachlässigung und Ignoranz, die Neugier keimen ließen. Vorsichtig berührte sie das Metall, fast so als könnte es unter ihrer Hand zerfallen. Sie spürte angenehme Kühle, als sie die Klinke herunterdrückte, doch im nächsten Augenblick schlug ihr eine stickige Schwüle entgegen. Es war gerade dieser Atem des Vergessens, der Geruch von Erinnerungen, der sie in die Dunkelheit des fremden Zimmers zog.
Dass die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, nahm sie kaum wahr. Viel zu fasziniert war sie von dem Raum, der Stille, die sie plötzlich umgab. Stille, nach der sie sich seit Tagen sehnte.
Sie sah sich um. Der größte Teil des
Zimmers lag im Dunkeln verborgen. Nur durch ein schmutziges Fenster flutete seidig-sanfte Dämmerung und floss auf dem blanken Holzfußboden zu einem See verbrauchten Lichtes zusammen. Außer einer ungesunden Menge an Staub und den Begleitern jahrelanger Vernachlässigung war der Raum leer. Auf dem Boden hatte seit Ewigkeiten kein Teppich mehr gelegen und an den Tapeten hatte offensichtlich mehr als nur der Zahn der Zeit genagt. Alle Farbe, die sie möglicherweise einmal gezeigt haben mochten, war zu einem blassen Grau verschwommen, das sich hier und da von der Wand gelöst hatte und in Fetzen herunter hing. Sie machte sich
nicht die Mühe, nach einem Lichtschalter zu tasten. Von der Decke baumelte lediglich eine zersplitterte Glühbirne, wie sie wahrscheinlich schon seit Jahren nicht mehr hergestellt wurde.
Im nebelhaften Zwielicht fiel ihr die Truhe auf. Als stumme Zeugin des Verfalls stand sie da, nicht einmal ganz an die Wand herangeschoben oder auch nur gerade gerückt, so als hätte man sie nur zügig abstellen und sofort vergessen wollen.
Das Schloss war rostzerfressen und hielt dem Öffnen des Deckels nicht stand. Vorsichtig griff sie nach den Schätzen im Inneren der Kiste und brachte ein vergilbtes Foto hervor. Ein junges
Mädchen, etwa in ihrem Alter, posierte ausgelassen vor dem Betrachter. Ihr rotes Kleid, welches nicht einmal ihre Knie zu bedecken vermochte, bildete einen perfekten Kontrast zu ihrer pechschwarzen Lockenmähne und den schmal geschnittenen Ballettschuhen, die sie trug.
Ihre Hand griff nach einem zweiten Bild, es war eine Kopie des gerahmten Porträts im Flur. Dieselben grauen Augen strahlten vor Stolz und Glück, wenn auch hinter einem Schleier aus Zeit und Vergessen gefangen. Das dunkelrote Kleid leuchtete zur Bekräftigung. In seinem Ausschnitt prangte ein winziger Vogel mit weit ausgebreiteten Flügeln an
einer dünnen Silberkette.
Sie ließ die Fotos ungeachtet zu Boden gleiten, griff nach einem anderen Fragment der Erinnerungen, für die dieser Raum zum Grab geworden war. Mit einem Finger strich sie Staub und Vergessen von einer fein verzierten Schatulle, welche in guten Zeiten einmal golden lackiert gewesen sein mochte. Als sie den Deckel aufklappte, begann eine talentierte Ballerina zu den schiefen Klängen eines klassischen Stückes zu tanzen, dessen Melodie sie nie gehört hatte. Eine Weile beobachtete sie die Dame, die unermüdlich eine Pirouette nach der anderen drehte, bevor sie ihr unsanft den Deckel auf den Kopf schlug.
Ein hässliches Knacken im Inneren des Kästchens ließ sie ahnen, dass die Frau im rosa Tutu sich wahrscheinlich nie wieder zur Musik erheben würde.
Wieder tasteten ihre Hände in der Truhe. Unzählige Fotos waren uninteressant, alte Kassetten und Videobänder wertlos. Tief unten, vergraben unter Zeit und Staub, erfühlten ihre Fingerspitzen weichen Stoff. Als sie ihrer Neugier ein weiteres Mal nachgab, barg sie einen Schatz aus den Trümmern der Erinnerung, den zu erwarten sie nicht gewagt hatte. Rote Seide floss durch ihre Finger, makellos und dunkel leuchtend. Andächtig strich sie mit den Fingern darüber, einmal, zweimal, bevor sie sich
das Kleid mit angehaltenem Atem über den Kopf zog.
Es reichte ihr nicht ganz bis auf die Knie und saß wie maßgeschneidert. Ihr Haar fiel darüber wie ein schwarzer Fächer aus Locken und für einen Moment fühlte sie sich wieder so perfekt, wie sie es einmal gewesen war.
Sie streifte ihre Schuhe ab und kramte in der Truhe nach den zum Kleid passenden, fand jedoch nichts als Papier und wertloses Gerümpel. Vorsichtig setzte sie einen nackten Fuß vor den anderen, darauf bedacht, sich keinen Splitter einzuziehen. Lief schneller, wagte einen vorsichtigen Sprung, einen weiteren, schon weniger zaghaft. Fing
an, Pirouetten zu drehen wie die kleine Ballerina in der Spieluhr, schwebte durch den Raum und tanzte zu imaginärer Musik.
Bis ein brennender Schmerz sie jäh innehalten ließ. Ein heißer Stich schoss durch ihren Körper, ausgehend von dem Bein, an dessen Verletzung sie nicht mehr gedacht hatte, seit sie der Anziehungskraft der Erinnerung erlegen war. Nicht sicher, ob der erstickte Schrei ihrer eigenen Stimme ein Streich der Einbildung gewesen war, spürte sie, wie ihre Beine unter ihr nachgaben und sie, plötzlich müde und kraftlos, zu Boden sank.
Sie glaubte zu fallen, endlos tief, in
bodenlose Verzweiflung. Sie kannte dieses Gefühl, hatte es in den letzten Tagen so oft heraufbeschworen, seitdem sie die niederschmetternde Nachricht erhalten hatte. In dem Moment, in dem man ihr mitteilte, dass sie mithilfe der unzähligen Schrauben und Metallteile in ihrem Bein wahrscheinlich wieder fast ohne Probleme würde laufen können, war in ihr mehr zerbrochen als der irreparabel zertrümmerte Oberschenkelknochen. Denn „fast ohne Probleme laufen“ hieß „nie wieder tanzen“.
Sie war nicht mehr als die kleine Plastikfigur in der Spieluhr. Gebrochen, kaputt. Zerstört durch die
Rücksichtslosigkeit eines anderen, ohne eine Möglichkeit, sich zu schützen.
Mit einem kurzen Ruck riss sie an ihrer Kette, spürte zufrieden, wie der Verschluss nachgab und schließlich brach. Der kleine Vogel breitete friedlich seine zierlichen Glasflügel über ihre Handfläche und blickte zuversichtlich aus winzigen schwarzen Augen.
„Du hast versprochen, immer für mich da zu sein,“ Ihre erstickte Stimme erreichte kaum ihre eigenen Ohren, als sie die Hand fest um das zerbrechliche Tier schloss. Ein anderer flammender Schmerz durchzuckte sie, als ihr Blick auf das am Boden liegende Foto fiel, gab
ihr die Energie zu schreien. „… mich niemals allein zu lassen!“ Zorn und Groll, solange in ihrem Inneren gesammelt und tief vergraben, wallten in ihr auf und ließen sie den Vogel mit aller Kraft von sich schmettern. Aus der Dunkelheit vernahm sie ein Klirren, das Bersten von Glas in hundert kleine Splitter.
Ohnmächtig wandte sie sich ab. Zog die Knie an ihren Körper und lehnte die Stirn dagegen. Spürte, dass sie zitterte. Tränen der Wut und der Trauer brachten all die mühsam aufgeschütteten Dämme der letzten Tage zum Einsturz, bahnten sich tausend Wege und vereinten sich auf ihren Wangen zu einem reißenden Strom
der Verzweiflung.
So lange hatte sie sich diese Gefühle versagt. Hatte sie weggeschlossen, jeden Tag mit ihnen gerungen, bis sie über sie gesiegt zu haben glaubte. Dabei hatten sie nur einen langen Winterschlaf gehalten, sich in dunkle Ecken verkrochen und auf eine Gelegenheit gewartet, sie erneut zu überfallen. Und nun konnte sie sich nicht mehr gegen sie wehren. Ihr Körper war eine kraftlose Hülle, ihr Geist sehnte sich fort aus dieser Welt, die für sie weder Glück noch Freude eingeplant hatte.
Das Feuer war erloschen und ließ nur verbrannte Asche zurück. Trauer um alles, was einmal gewesen war und nicht
hatte sein sollen. Die schmerzhafte Erinnerung an Versprechen, die zu halten sie nun nicht mehr in der Lage war.
Noch immer zitternd und den Blick von einem Schleier aus Tränen getrübt, ließ sie sich fallen. Zurücksinken, bis ihr Rücken die Holzdielen berührte, ihr Haar sich mit den Schatten vereinte. Wieder sah sie das Bild des Mädchens vor sich. Das Mädchen, welches ihr so ähnlich war und dem sie vor so langer Zeit ihr Wort gegeben hatte auf etwas, das zu verlieren sie in kindlichen Albträumen nicht zu fürchten gewagt hatte. Langsam versiegende Tränen schrieben Worte der Resignation auf ihre
Wangen.
„Es tut mir leid … Mama.“
Staubflusen wirbelten um sie herum, hatten sie längst als eine von ihnen erkannt.
Ein winziger Tropfen im Meer des Vergessens, ein unbedeutender Hauch im Atem der Zeit.
Sie blieben als letzte Tänzer zurück, als die Welt vor ihren Augen verschwamm und in tiefer Dunkelheit versank.