Eine meiner ältesten Geschichten.
Die Dunkelheit hüllt uns alle ein. Ich bin beinahe mein ganzes Leben hier und nun beginne ich den Verstand zu verlieren.
Heike starb vergangene Nacht. Sie liegt noch immer da und wartet; vielleicht nur auf mich. Der Geruch ihres Todes durchzieht alle Gedanken; konfrontiert uns mit dem Tode, der jedem hier nur noch als die Erlösung erscheint.
"Morgen werden sie sie herausholen und durch eine Neue ersetzen." Ich sah auf Heike, die wenige Zentimeter von mir entfernt, in der Zelle nebenan, lag. "Armes Kind, doch wenigstens hat sie es jetzt überstanden. Ich bin sicher, sie fliegt jetzt mit ihrem Adler."
"Shana, Morgana hat gesagt, du hättest dich sehr lange mit Heike unterhalten. Worüber hast du mit ihr gesprochen?"
"Worüber wohl - ich hab' ihr das Sterben leichter gemacht und ihr eingeredet, dass alles nur besser werden kann."
"Aber glaubst du das denn nicht? Es ist doch wirklich so, oder etwa nicht?"
"Ja sicher Lara, aber manchmal zweifle ich einfach." Was sollte ich ihr antworten? Für meine Wahrheit war auch sie zu jung und unbekümmert. Ich spürte ihre Trauer aber auch ihre naive Hoffnung. Sie quoll aus ihrem Körper, breitete sich aus und wollte mich einnehmen. Ich werte mich nun gegen diese Gedanken, die leicht und luftig umherschweifen und einem das Leben hier erträglich erscheinen lassen können. Doch diesem Selbstbetrug bin ich entwachsen. Ich neige mein Haupt nicht mehr vor der Wahrheit. Heike hat es, so versuche ich mir einzureden, jetzt geschafft. Sie hat ihren Adler gefunden.
Wir saßen beide nur noch da und schwiegen, den Blick abgewandt von unserer Freundin, die direkt neben uns lag und doch, durch die Gitter, unerreichbar fern war. Nackt auf den Gittern liegend, mit ihrem Kot und Dreck beschmiert, war jede Schönheit von ihr gewichen. Sie starb ganz leise, was hier keineswegs selbstverständlich war. Die meisten, bei denen es zu Ende ging, machten tagelang ein Geschrei, das einem durch Mark und Bein ging und nur die Sinnlosigkeit des Ganzen verdeutlichte.
Die Sonne ging auf, jedenfalls denken die meisten, dass es so sein muss, denn die Lampen gingen an und die Wachen würden ab und zu kommen und dafür sorgen, dass die Nahrung, denn mehr war es nicht, zu jeder in die Zelle fiel. Ich muss bei dieser Prozedur immer an Mili denken; sie war noch sehr jung und sah auch bezaubernd aus. Sie war direkt dort wo Heike lag, nur ihr Kopf lag auf der anderen Seite als sie starb. Sie hatte tagelang geschrieen, doch keiner der Wachen hatte bemerkt, dass Mili keine Nahrung bekam - nicht ehe es zu spät war. Ich hatte ihr geholfen so gut ich konnte. Ich habe immer etwas von meiner Nahrung durch die Gitter geschoben. Es hat nicht viel gebracht. Mein Geist wäre beinahe mit ihr gestorben. Mein nackter Leib, verkümmert und entstellt, darf nicht folgen.
Heike weckte mich aus meiner tiefen Seele Heimstadt; ihr Wesen schenkte mir Hoffnung. Mehr ein Lebensfunken, der für mich bestimmt war und half der Greuel, der wir hier ausgeliefert sind, nur durch ein paar Worte von ihr, für einige Gedankengänge zu entfliehen.
"Was ist los mit dir? Mein Name ist übrigens Heike, und wie heißt du?"
Sie war noch sehr jung. Sie hatte Angst, das merkte man. Und schließlich wusste man noch genau, wie man sich selbst gefühlt hatte als man eingeliefert wurde. Sie war ein dunklerer Typ und dies stand ihr besonders gut. Ich liebte sie, wie man sein Kind lieben könnte, doch darüber durfte man nicht sprechen, nicht einmal daran denken. Ich wusste es, ich wusste es genau, dass dieser Gedanke der Anfang vom Ende sein würde. Ich hatte schon viele von diesen Alten gehört, wie sie geredet haben und dann Tage oder Wochen später einfach starben. Ihre Kinder stehlen sie, und so weiter. Sie redeten von ihren Kindern, wo sie jetzt wohl seien. Viele dachten, dass die Kinder irgendwann auch hier landen würden und dann würde man sie schon wiedersehen. Ich dachte dann oft an meine Kindheit als ich noch die anderen berühren konnte; damals war das selbstverständlich. Zu dieser Zeit sehnte ich mich oft nach etwas Abgeschiedenheit. Jetzt bin ich allein, und dennoch sind Hunderte und Aberhunderte direkt bei mir. Der Geruch ist scheußlich und jedes Mal grauenhaft, wenn man sich bewußt macht woher er stammt. Der Duft des Todes ist so vertraut.
"Wie lange müssen wir hier bleiben? Nun sag schon. Was ist mit dir?"
Heike wandte sich ab und so ergriff ich die Möglichkeit, sie genauer zu betrachten. Sie war sehr schön und kräftig, körperlich wie geistig. Von einem unerschütterlichen Optimismus geprägt, der irgendwie Mut machte und mich gleichzeitig noch weiter in meinem Trauern gefangen hielt. Und dann erzählte sie etwas, das ich noch nie zuvor gehört hatte und nie vergessen werde.
"Weißt du, was ich gesehen habe, auf dem Transport hierher - einen Adler. Irmgard, sie war in der Zelle direkt neben mir, sie sagte, das sei ein Adler. Ich fragte sie, woher sie das wüsste, doch sie sagte nur, das sähe man an den großen Flügeln. Ich dachte nur, wenn ich so frei sein könnte, das wäre wunderbar. Er flog eine Weile neben dem LKW her doch dann kam die Sonne und ich habe ihn nicht mehr gesehen. Glaubst du das wenn wir sterben ebenso frei sein werden?"
Tränen, nur Tränen. Ich sehe sie, ich erinnere mich genau an den Moment als sie mir das gesagt hatte. Ihren Gesichtsausdruck kann ich nicht verdrängen. Ich dachte, sie wäre naiv und wisse nur noch nichts über ihr Schicksal, doch da hatte ich mich geirrt. Sie hatte es ganz genau gewusst. Ich habe Heike immer für diese Stärke geliebt. Und nun liegt sie da direkt neben mir - und ist tot. Wie die letzten Monate doch schnell vergangen sind und ich erinnere mich dabei an so viele Gespräche. Ich werde ihr Lachen vermissen.
Es ist bald vorbei, es kann nicht mehr lange dauern. Er kommt - den Gang entlang zu unseren Zellen.
Er hasst diesen morgendlichen Gang. Die Kontrolle, ob irgendeine in der Nacht gestorben ist. Doch einer muss es ja machen, und heute ist Mittwoch, da ist er halt dran. Ich weiß was er denkt, ich weiß was er fühlt.
Der Schlüssel quietscht im Schloss und ein Geschrei dröhnt durch die Halle. Der Gestank raubt ihm jedes Mal beinahe die Sinne und er zieht den Mundschutz über. Seine Plastikhandschuhe sitzen zu eng und stören ihn. Er schreitet den Gang ab. Ich bin ganz ruhig, nicht so die anderen, die ihn anschreien und verfluchen. Ich weiß, dass er uns nicht versteht. Ich habe ihn schon so oft angeschrieen und die wildesten Beschimpfungen über ihn ausgeschüttet, doch er hat nicht einmal reagiert. Er sieht Heike, wie sie zusammengekrümmt daliegt. Er zieht seinen Schlüssel und schließt das Schloss auf. Er greift sie sich - ganz leicht hebt er sie hoch. Sie ist dünn - ausgezehrt. Er schließt wieder ab, blickt für einen Moment in meine Richtung und lächelt bitter. Ein eisiger Hauch läuft mir über den Rücken, und dann geht er weiter. Er schreitet den Gang mit Heike bis zum Ende hinunter und bemerkt keine andere, welche die Nacht nicht überlebt hat. Er verschwindet im Ausgang. Er schließt ab und geht den Gang zurück in sein Büro. Er wirft sie wie Abfall weg. Wie Abfall.
Mein Adler.
Er trägt in einem dicken Buch, unter vielen Zeilen, ein: