Wir alle sind geprägt von Erfahrungen die wir in frühester Kindheit gemacht haben. Solange diese in unserem Unterbewusstsein verbuddelt bleiben und nicht bewusst gemacht wurden, greift unser Kindheits-Ich immer wieder darauf zurück.
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Nun stehen meine Mutter und ich vor den Toren dieser klösterlichen Anstalt. Das hinter diesen Gemäuern irgend etwas nicht stimmte fühlte ich in dem Moment, als wir vor dem Eingang stehen. Es war ein ungutes Gefühl, dass sich meiner bemächtigte.
Ãœber dem Eingang prangte in ehernen Buchstaben der Name des Klosters: „Sankt Vinzenzstift“. An der Hauswand über dem Eingang waren mit Kunstschmiedeeisen spielende Kinder dargestellt, die von einem Priester beaufsichtigt werden. Wie sich für mich später herausstellte, sollte dieser Priester der heilige „Vincent“ sein, der Schutzpatron dieses Hauses.
Die Frau im weißen Gewand begrüßt uns mit knappen Worten und sagt: „Ihr werdet gleich abgeholt!“
Gleich darauf war sie wieder hinter einer Eichenholztüre verschwunden. Den schweren Koffer tragend betreten wir einen kühlen Warteraum. Es ist Hochsommer und die Sonne steht am Zenit.
Mein Koffer ist noch vollkommen neu und besteht aus gepresster Hartpappe. Er hat vier braunen Kofferecken aus Leder und einem Griff aus tiefgezogenem Blech. Die Farbe, weiss- beige kariert. Es ist das modernste, was es zu jener Zeit zu kaufen gab. Ich erwähne das, weil ich diesen Koffer erst nach sieben Jahren wieder zu Gesicht bekommen sollte. Natürlich war er bis dahin längst aus der Mode.
Während wir warteten, beobachtete ich hier alles sehr aufmerksam und mir entging nicht das kleinste Geräusch, kein Geruch und keine Bewegung. Selbst der krumme Nagel an der Türe und die abgesprungene Farbe an der Decke erregen meine Aufmerksamkeit. Eine Hummel hatte sich hier in die Pforte herein verirrt und brummte leise vor sich hin. Dabei klatschte sie immer wieder gegen eine buntbemalte Fensterscheibe ohne den Weg nach draußen zu finden.
Da hörten wir wie die Kirchturmuhr vier mal Gong, Gong, Gong, Gong schlägt. Und gleich darauf zwölf mal Bimm, Bimm, Bimm... eine volle Stunde war vergangen. Es war bereits Zwölf Uhr Mittag und wir warteten schon ab 11.00 Uhr darauf hier abgeholt zu werden. Geduld! Das war wohl auch einer der Fragen, die mir mein Großgedanke mit dieser Reise beantworten wollte.
„Nun sollte aber bald jemand kommen“, höre ich meine Mutter sagen. „Sonst verpasse ich noch meinen Zug!“
Auch ich war schon sehr gespannt und sehnte mich nach dem Ende dieser Warterei. Ich sollte nämlich schon längst abgeholt worden sein. Doch scheinbar gingen hier die Uhren langsamer. Man hatte auch wirklich den Eindruck, als ob hier die Zeit stehen geblieben wäre. Selbst die Gebäude schienen im Jahre 1760 das letzte mal renoviert worden zu sein. Das Gemäuer erinnerte mich an Gruselgeschichten, die uns von den Erwachsenen so gerne erzählten wurden. Das ging es nämlich um Schlösser mit Gespenstern und alten Gemäuern die unheimlich wirkten.
Die Sonne steht draußen hoch am Himmel und brennt mit voller Kraft hernieder. Nach dem Kalender war es Hochsommer im Jahre 1960.
Wir warteten indessen immer noch in der Pforte, wo es zum Glück angenehm kühl war. Meine Mutter musste dringend auf den Bahnhof, dachte ich, weil sie sonst ihren Zug verpasste. Die Dampflokomotive hielt nämlich hier, in einer drei Kilometer entfernten Ortschaft, nur zweimal am Tage. Unruhig geht sie im Warteraum auf und ab und blickte immer wieder zu einer vor uns befindlichen, verschlossenen Milchglastüre.
Dieses Haus sollte also mein künftiges Zuhause werden. Ich war sehr gespannt, was mich hier alles erwartet. In meinem Kopf stellte ich mir Hexengeschichten vor und von irgendwoher erblickte ich kleine Monstergestalten, die zu mir „Uaaach“ machten.
Unwillkürlich streckte ich ihnen meine Zunge heraus und machte, „Bätsch!“
„Lass das sein Junge“, sagte meine Mutter. „Hier musst du dich benehmen! An heiligen Orten ist man nicht so ungezogen, dass man die Zunge herausstreckt!“
„Ja, Mama!“
Eine gewisse abenteuerliche Stimmung hatte mich gepackt. Den Erzählungen nach sollte das ja eine ganz besondere Schule sein. In solche Schulen kamen nur begabte und geniale Kinder so wie ich. Was wohl die anderen Kinder aus meiner Heimatstadt erzählten, wenn sie hörten, wo ich künftig zur Schule ging? Innerlich stellte ich mir das richtig komisch vor, als besonders begabter Schüler zu gelten. In Gedanken sah mich schon vor meinem ehemaligen Klassenlehrer stehen und ihm das Einmaleins beibringen. Der Dummkopf verstand es nämlich selbst nicht und so wiederholte an jedem Schultag immer wieder die Frage: „Kinder, wie viel ist drei mal drei?Â
Endlich hören wir jemanden einen langen Gang entlang kommen und die Milchglastüre vor uns aufgeschlossen wird. Eine Nonne erscheint und sagte: „Guten Tag, ich bin Schwester Kunigunde!“
 „Sind Sie Frau Neureuter?“
„Ja, das bin ich“
„Aha, dann bist du unser neuer Klosterschüler?“
Diejenige, die mich das fragte, war eine zierliche Person. Sie trug eine Brille mit Horngestellt und hatte eine schwarze Kluft an. Auf ihrem Kopf trug sie einen ebensolchen Schleier der mit einem breiten weißen Stirnband verbunden ist.
„Ich bin Schwester Kunigunde“, wiederholt sie sich noch einmal. Dabei lächelt sie mich freundlich an, bückte sich zu mir nieder und gab mir die Hand. Nein, so sah keine Hexe aus, dachte ich. Damit war mein Verdacht, dass sich hinter diesen Mauern etwas schlimmes verbergen könnte, völlig weggewischt. Das unbestimmte mulmige Gefühl machte wieder einer Abenteuerstimmung Platz.
„So, mein Junge, die anderen Kinder warten schon auf dich! Sie wissen, dass heute ein „Neuer“ kommt.“
Der „Neue“, der war ich.
„Wenn wir uns beeilen, ist vielleicht noch etwas vom Mittagessen übrig!“
Das sagte sie mit einer solchen Selbstverständlichkeit als gehörte ich schon längst zu dieser Elite-Schule dazu.
„Sie müssen wissen“, sagt sie nun zu meiner Mutter gewand, „wir essen hier immer pünktlich um 12.00 Uhr. Darauf legen wir großen Wert. Denn Pünktlichkeit ist eine Zier, sagte sie halb zu mir gewand! Nur so lernen die Kinder Disziplin! Doch leider bin ich selbst schon ein wenig spät, entschuldigen sie also, wenn ich es kurz mache!“
Von wegen pünktlich, dachte ich. Eine ganze Stunde mussten wir hier warten.
Und zu mir Gewand sagte sie: „Am besten machen wir es kurz und du sagst deiner Mutter jetzt auf Wiedersehen!“
Dabei nimmt sie mich bei der Hand und führt mich in Richtung der Milchglastüre, die inzwischen wieder verschlossen war. Die Nonne zieht einen großen Schlüsselbund unter ihrer Kutte hervor und schloss die Türe wieder auf. Zwischen Tür und Angel stehend gebe ich meiner Mutter die Hand und frage: „Mama, wann kommst du mich wieder abholen?“
„Bald, mein Junge, bald!“, höre ich sie noch sagen und schon fällt die schwere Glastüre mit lauten Rums hinter mir ins Schloss. Hoffentlich erreicht sie noch rechtzeitig ihren Zug, dachte ich und betrachte den vor mir liegenden langen Flur.
Da fällt mir ein, mein Koffer steht ja noch draußen. Au, weh! Den haben wir ja ganz vergessen.
„Meinen Koffer, mein Koffer“, rufe ich laut. Doch die Nonne hörte nicht darauf. Vielmehr hatte sie es mit einmal brandeilig. Mich bei der Hand haltend, zerrte sie mich halb hinter sich her. Ich blickte noch einmal zurück in der Hoffnung meine Mama noch ein letztes mal zu sehen. Doch sie war verschwunden. Stattdessen wurde ich von einer fremden Nonne durch einen nicht enden wollenden Flur gezerrt. Das alles kam mir nun doch vor, wie ein schlechter Traum. In meinem Kopf flogen die Ereignisse nur so vorüber. Ich sah im Vorbeigehen Heiligenbilder an der Wänden hängen, getünchte Türen und etwa alle zwanzig Schritte das kalte Licht von schwarzen Schirmlampen von der Decke leuchten.
„Wir sind gleich da“, sagt die Schwester zu mir, als wir bei einem Quergang ankommen und eine breite Steintreppe hinauf gehen.
Wieder geht es lange Gänge entlang und erneut eine Treppe hoch.
Oben angekommen befinden wir uns in einer Art Vorhalle. Der Boden ist hier spiegelblank gebohnert, so dass man unsere Schatten auf den dunklen Steinplatten sehen kann.
An der Wand gegenüber hängt ein übergroßes Gemälde, das mit einem Goldrahmen versehen ist. Dort sah man den lieben Gott auf einer Wolke thronend, wie er seine Hand aus dem Himmel reicht und ein fast nackter Mann auf der Nachbarwolke den Finger Gottes ergreifend. So ein großes Bild hatte ich zuvor noch nie gesehen.
Wie ich später erfuhr, stammte dieses Gemälde von dem Künstler Michel Angelo. Ob es sich dabei um ein Original oder eine Kopie handelte konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Irgendwie ist es hier unheimlich duster. Die Sonne dringt nur schwach durch die großen Bogenfenster, da die Scheiben aus bunten Bleiverglasungen bestand.
In einem der Glasbilder ist der heilige Christopherus dargestellt. Dieser Heilige steht bis zu seinen Waden im Wasser und hält einen Stab in der Hand an dem wieder grüne Blätter wuchsen. Auf seiner Schulter trägt er das Jesuskind, der die ganze Welt in Händen hält. Daneben sind in den kleineren Fensterscheiben andere Heilige dargestellt.
So ein Unsinn, dachte ich mir. Ohne Wurzeln wachsen an einem Stock keine Blätter mehr. Es war eben ein typisches religiöses Kirchenbild aus dem Mittelalter.
Die bunten Glasscheiben verhinderten das durchdringen der Sonnenstrahlen und man sah auf dem blank gebohnerten Steinboden nur die Farben der Fensterscheiben, die sich als Lichtreflexe wiederspiegelten. Ansonsten befand sich der ganze Vorraum in einem gedämpften Halbdunkel. Das ganze hier war mir fremd und wurde mir irgendwie doch unheimlich.
Von irgendwoher roch es stark nach Kerzenwachs und es herrschte eine toten Stille um uns herum.
„Kr... gruselig!“
„Hier befindet sich unsere Kapelle“, sagte die Nonne als sie bemerkte, dass ich hörbar die Luft einzog und mich dabei neugierig umblickte. Dabei deutete sie auf zwei große, mit starkem Eisenblech beschlage Türen.
„So, mein Junge, nun sind wir da!“
Ein wenig außer Atem geht die Nonne voran und öffnet eine Tür, dabei ruft sie laut nach einer Schwester Consulata.
„Schwester Consulata, der Neue ist da! Bitte holen Sie den Jungen ab, ich muss in die Klausur!”
Aus einer der Seitentüren erscheint eine weitere Nonne, die jedoch nicht mit einem schwarzen, sondern einem weißem Gewand bekleidet ist. Sich nach rückwärts wendend ruft sie barsch: „Wollt ihr wohl wieder auf eure Plätze zurück gehen!“ Dabei sehe ich an den Türenpfosten verschiedene neugierige Köpfe hinter dem Türstock hervorblicken.
„Macht, dass ihr wieder auf eueren Platz kommt“, schimpft die Schwester nochmals in Richtung dieser Köpfe und im Nu sind sie wie ein Spuk verschwunden.
„Aha, du bist der Neue“, sagt sie bei mir angekommen. „Ich bin Schwester Consulata!“
Ohne sich weiter um mich zu kümmern verabschiedet sie sich von Schwester Kunigunde mit den Worten: „Gegrüßet seiest du Maria“, worauf diese antwortete: „In Ewichkeit Amen!“
Ich begriff sehr bald, dass sich dieses Ritual stets dann wiederholte, wenn sich zwei Nonnen begegneten. Mit der Zeit nimmt man davon jedoch keine Notiz mehr.
Wieder fällt die Türe hinter mir ins Schloss und Schwester Kunigunde ist verschwunden.
Nun stehe ich hier alleine, ohne meine Mama und ohne meinen Koffer. Ich fühlte mich in diesem Augenblick von aller Welt verlassen. In Gedanken laufe ich die ganzen Gänge wieder zurück, die ich mir unterwegs alle eingeprägt hatte. Innerlich bin ich wieder bei der Pforte angelangt und überlege, wo sich meine Mutter jetzt wohl befinden könnte. Am Bahnhof und im Zug wird sie wohl noch nicht angekommen sein. Denn auch den Herweg hatte ich mir genau eingeprägt und wusste, dass es bis zum Bahnhof sehr weit war. Vielleicht hole ich sie ja noch ein, denke ich.
Instinktiv drücke ich die Klinke der Pforte herunter, die ja gar nicht die Türklinke der Pforte war. Doch die Türe war fest verschlossen und ich fange an zu weinen. „Mama“, rufe ich laut. „Mama, Mama komm zurück!“
Als ich damals in diese Klosterzeit eintauchte, liefen meine Synapsen Amok und vollführen einen wilden Tanz in meinem Kopf. Dabei schrieen sie:
„Nein, nein nicht schon wieder hinter diese Mauern!“ Sie erinnerten sich wohl daran, was sie damals zu erleiden hatten. Es wurde ihnen hinter diesen Mauern permanent verboten, selbständig zu denken. Und beinahe wären sie dadurch fast verkümmert und am Schluss wahrscheinlich vollständig eingegangen.
Ich hörte von damals wiederholt die Worte: „Du darfst das nicht, und jenes darfst du auch nicht, lass das bleiben, sonst kommst du ins Fegefeuer und musst brennen!“
Auch vernehme ich wieder die Worte: „Wenn das der liebe Gott sähe, was du für böse Gedanken hast, kommst du in die Hölle und musst ewig büßen!“
Leider fiel mir erst Jahre später auf, dass man den lieben Gott hiermit für blöde erklärt hatte. Alle meine bösen Gedanken, die ich ja eigentlich gar nicht hatte, musste du dem Priester beichten. Und so bekannten wir Kinder Sünden, die wir gar nicht begangen hatten, nämlich die Sünden in Gedanken, Worten und Werken.
Ich bemerkte damals schon als kleiner Junge, dass selbst meine Neuronenzellen sich vor einer Hölle fürchteten, die ihnen in Aussicht gestellt wurde. Schließlich wäre ja mein Gehirn mit in die Hölle gewandert.
Schon damals wurden meine Neuronen quasi dazu gezwungen dem Priester auf die Frage: „Hast du unkeusche Gedanken gehabt“, anzulügen.
„Nee Herr Pfarrer, ich habe nie unkeusche Gedanken gehabt!“
Warum ich gerade dann rot im Gesicht wurde konnte mir kein Mensch erklären.
Und so erklärt sich der magische Hexenspruch: „Das Geknister in dem Höllenfeuer ist selbst für Neuronen nicht geheuer!“
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Fortsetzung folgt...
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Copyright: Ernst Dierking
Windflieger Re: Re: Re: Re: Einfach nur spannend!!! - Zitat: (Original von Ernst am 10.11.2010 - 20:41 Uhr) Zitat: (Original von Windflieger am 10.11.2010 - 20:06 Uhr) Zitat: (Original von Ernst am 10.11.2010 - 17:47 Uhr) Zitat: (Original von Windflieger am 10.11.2010 - 17:06 Uhr) sehr gerne gelesen. GLG Ivonne Tja, drei Kapitel hast du ja noch vor dir. glg Ernst Gruß an deine Vogis :-) Die werde ich auch noch lesen :-) GLGG Ivonne Da freue ich mich sehr... glg Ernst :-)) |
Ernst Re: Re: Re: Einfach nur spannend!!! - Zitat: (Original von Windflieger am 10.11.2010 - 20:06 Uhr) Zitat: (Original von Ernst am 10.11.2010 - 17:47 Uhr) Zitat: (Original von Windflieger am 10.11.2010 - 17:06 Uhr) sehr gerne gelesen. GLG Ivonne Tja, drei Kapitel hast du ja noch vor dir. glg Ernst Gruß an deine Vogis :-) Die werde ich auch noch lesen :-) GLGG Ivonne Da freue ich mich sehr... glg Ernst |
Windflieger Re: Re: Einfach nur spannend!!! - Zitat: (Original von Ernst am 10.11.2010 - 17:47 Uhr) Zitat: (Original von Windflieger am 10.11.2010 - 17:06 Uhr) sehr gerne gelesen. GLG Ivonne Tja, drei Kapitel hast du ja noch vor dir. glg Ernst Gruß an deine Vogis :-) Die werde ich auch noch lesen :-) GLGG Ivonne |
Windflieger Einfach nur spannend!!! - sehr gerne gelesen. GLG Ivonne |