Die weiße Schar
Kapitel 1 - Die weiße Schar
Gedankenverloren wanderte Craig durch die dunklen Straßen. Schon fast alle Menschen hatten in ihren Häusern Zuflucht vor dem nahenden Unwetter gesucht. Selbst der Verkehr war sehr viel ruhiger als sonst. Doch ihm war das mehr als Recht.
Schließlich lehnte er sich neben die Tür eines riesigen Mietwohnungskomplexes und schaute wieder gen Himmel. Die Schwärze kroch immer näher und für einen Moment wünschte er sich, dass sie ihn einfach verschlucken und aus dieser verkorksten Welt entreißen würde. Dann schnalzte er aber missbilligend mit der Zunge und knurrte sich selbst an. „Solche Gedanken werden dir nicht helfen. Reiß dich zusammen!“
Gerade als das letzte Wort seine Lippen verließ, öffnete sich direkt neben ihm die Tür und lenkte Craigs Aufmerksamkeit auf den Mann, der das Haus verließ. Er murmelte irgendwelche Flüche in seinen mickrigen Ziegenbart und wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als er den ehemaligen Gymnasiasten entdeckte. „Verflucht!“ zischte er panisch und sprang angespannt ein Stückchen zurück. Doch dann erkannte er den Jungen, seufzte erleichtert und murrte: „Sorry Craig, ich dachte du wärst einer dieser halbstarken Idioten, die letzte Nacht die Autos zertrümmert haben.“ Er entspannte sich wieder und lächelte ihn entschuldigend an. „Macht nichts Steve. Ich bin es bereits gewöhnt, dass Leute so reagieren.“, erwiderte Craig tonlos. „Es ist aber gut, dass du hier bist. Dein... dein Vater ist glaub ich wieder ausgerastet. Zumindest hat es sich so angehört, als ob er eure halbe Einrichtung zertrümmert hat.“ Craig lehnte sich erschöpft zurück, bis er die kalte Wand an seinem Hinterkopf spürte. „Ich werd mich drum kümmern...“ murmelte er und riss sich von seiner Stütze los. Ohne ein weiteres Wort mit Steve zu wechseln, verschwand er im Haus und stieg die Treppen hinauf, bis zum höchsten Stock. Aus seiner Tasche fischte er den Schlüssel und betrat seine Wohnung.
Sofort schlug ihm der stechende Alkoholgeruch in die Nase, der automatisch seine Wut weckte. Aber das war nicht alles. Steve hatte wohl gar nicht so falsch gelegen. Mitten im Flur lag ein Haufen Holz, der wohl einst ein Küchenstuhl gewesen war. Hinter sich knallte Craig die Tür, ein wenig fester als beabsichtigt, ins Schloss und ging zu dem Holzhaufen. Seine Hände ballte er erneut zu zitternden Fäusten und als er dann einen Blick nach rechts in die Küche warf, spielte er einen Augenblick lang ernsthaft mit dem Gedanken zum Mörder zu werden.
Direkt vor der Küchentür, mitten auf dem Boden, lag sein Vater. In seiner Hand hielt er noch die Schnapsflasche, während er schnarchend die Fliesen vollsabberte. Für eine Minute stand Craig einfach nur da und starrte mit einem hasserfüllten und verachtenden Blick auf den stinkenden Körper.
Dann kniete der sich vor ihm hin, entwendete die Schnapsflasche mehr oder weniger sanft seinem kräftigen Griff und stieg mit einem großen Schritt über seinen Vater hinweg. Er schmiss die Flasche achtlos in den Müll und räumte anschließend schweigend das Chaos im Flur auf. Seinen Vater würdigte er dabei keines Blickes, obwohl er mehrmals über seinen schlaffen Körper hinweg steigen musste. Dann ging er wieder zurück zum Kühlschrank und suchte nach etwas Essbarem. Doch er wurde enttäuscht. „Nutzloser Säufer...“ flüsterte er kalt und schlug die Kühlschranktür mit einem lauten Knall zu. Er schnappte er sich vom Küchentisch den Zettel, den er geschrieben hatte, um seinen Vater daran zu erinnern einkaufen zu gehen, zerknüllte ihn und schmiss ihn zu der Schnapsflasche in den Müll. Erneut stieg er über den schlafenden Körper hinweg, ignorierte dessen Brummen, schnappte sich seine Lederjacke und verschwand aus der Wohnung.
Auf dem Weg nach unten kam ihm Steve entgegen, der zögerlich fragte: „Und?“ „Er pennt.“ erwiderte Craig knapp und ging ohne ein weiteres Wort an dem Mann vorbei und verließ das Gebäude.
Der Himmel war mittlerweile fast vollständig von der Schwärze verschluckt worden. Ab und zu blitzte es, was die Wolken für wenige Wimpernschläge in einem dämonischen Licht leuchten ließ. „Wenn du willst, dass etwas gemacht wird, dann mach es selbst.“ brummte er und ging mit zügigen Schritten los. Die Straßen waren mittlerweile wie ausgestorben, selbst der Verkehr war fast völlig verschwunden. Doch trotzdem schien Craig das Glück erstmals an diesem Tag hold zu sein. Bis er nach wenigen Minuten den Supermarkt erreicht hatte, hielt die schwarze Decke dicht und beschränkte sich darauf drohende Blitze gen Erde zu schleudern.
Innerhalb weniger Minuten hatte er aus den Regalen des Marktes die spärlichen Rationen zusammengeklaubt, die er sich mit einem Säufer als Vater noch leisten konnte. Doch als er gerade zur Kasse gehen wollte, entdeckte er vor ihm mehrere seltsame Gestalten.
Es waren sechs an der Zahl und jeder einzelne von ihnen trug eine äußerst merkwürdige weiße Maske mit angerauter Oberfläche, die ihr Gesicht, bis auf die Augen komplett verdeckte. Doch das war noch nicht das Seltsamste an den dünnen, schon fast knochigen Gestalten. Anstatt einer Hose und einer Jacke, wie man es bei diesem Wetter eigentlich erwartet hätte, trugen sie alle einen weißen japanischen Kimono, der von einem ebenso weißen Stoffgürtel um ihre Hüfte zusammengehalten wurde. Ungläubig wanderten Craigs Augen an ihnen hinab, wo sein Blick dann für mehrere Momenten verständnislos an ihren nackten und Füßen hängen blieb. Er kniff einmal seine Augen zusammen, doch als er sich wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. Sie waren noch immer barfuß, komplett weiß und standen zu sechst in einem Kreis um etwas das Craig nicht erkennen konnte. Und dabei –wie hätte es auch anders sein können – versperrten sie ihm natürlich den Weg.
Als er näher kam, hörte er die Stimme einer dieser Gestalten. Sie klang hohl, krächzend und gurgelnd. Unwillkürlich erinnerte sie Craig an den Todeskampf eines Ertrinkenden. „Du verstehst oder? Du solltest lieber direkt mitkommen.“
„Ähm entschuldigen Sie, aber könnte ich eben vorbei?“ fragte Craig freundlich und versuchte seine Skepsis mit einem aufgesetzten Lächeln zu überspielen, während er langsam die letzten zwei Meter zwischen ihm und den Verrückten schloss.
Ein Moment herrschte auf ihrer Seite absolute regungslose Stille. Nur das Klappern von Craigs Einkaufswagen, das sich mit dem Heulen des Windes zu einer düsteren Komposition vermischte, war zu hören. Dann bewegten die weißen Gestalten langsam und vollkommen synchron ihre Köpfe herum und starrten Craig aus den schwarzen Löchern ihrer Masken an. Ein leichter Schauer jagte seinen Rücken hinunter. Bei keinem konnte er hinter den Höhlen ihrer Masken die Pupillen ausmachen. Die Schwärze schien alles Licht zu verschlingen.
„Ich möchte nur vorbei, wenn Sie also ein wenig Platz machen könnten, wäre ich wirklich dankbar.“, versuchte er es erneut, noch immer freundlich, aber bestimmt. Doch sie wandten sich ohne ein einziges Wort von ihm ab. Ihre Aufmerksamkeit glitt zurück zu der Person in ihrer Mitte.
Verdutzt starrte Craig die Typen an. Sein linker Mundwinkel zuckte verdächtig, während er sie musterte. Sie schienen ihn wirklich ignorieren zu wollen. „Also?“ gurgelten sie wieder im Chor zu der Person, die sie mit ihren Körpern vor Craigs Blicken verbargen.
Unbeeindruckt schob er den Einkaufswagen ein Stückchen vor, stellte ihn dann an der Seite ab und tippte einer der weißen Gestalten auf die Schulter. Doch er wurde weiter ignoriert. Zeitgleich hörte er plötzlich eine verunsicherte Frauenstimme mit einem, ihm unbekannten, Akzent aus der Mitte der weißen Schar. „Was glaubt ihr eigentlich wer ihr seid? Wer glaubt ihr, dass ich bin? Verschwindet! Oder wollt ihr den Zorn meines Vaters spüren?“ Einen Moment lang versuchte Craig die Quelle der Stimme hinter den Typen ausfindig zu machen, aber sie standen zu dicht aneinander und waren zu groß, als das er einen Blick auf die Frau erhaschen konnte. Er schüttelte leicht den Kopf und versuchte erneut sein Glück. Kräftig packte er den Typen, den er zuvor angetippt hatte, an der Schulter und riss ihn zu sich herum. „Entsch...“ setzte er an, verstummte jedoch als der Kerl ohne Vorwarnung wie ein wildes Tier zu zischen anfing und sich zu ihm hinunter beugte. Überrascht starrte er in die schwarzen Höhlen, die sich nun mit seinen Augen auf einer Höhe befanden. Unwillkürlich fing sein Mundwinkel wieder an zu zucken. Er spürte wie eine Ader an seiner rechten Schläfe sichtbar wurde und leicht in dem Takt seines rauschenden Bluts pochte.
„Hoi hoi...“ flüsterte er gefährlich. Sein stechender Blick war noch immer geradewegs auf die dunklen Höhlen der Maske gerichtet. „Willst du mich eigentlich verarschen? Ich habe keine Ahnung welcher Gang ihr Verrückten angehört, aber wenn du noch einmal so eine Nummer abziehst, willst du nicht wissen, was mit dir geschehen wird.“ drohte er mit erzwungener Ruhe und sein Blick verriet die brodelnde Wut, die sich die ganze Zeit über unterschwellig von den Ereignissen des Tages ernährt hatte.
Es folgte wieder ein Moment absoluter Stille. Der Wind heulte. Es blitzte und der Himmel grollte donnernd. Dann ertönte ein gurgelndes Lachen. „Du drohst uns? Ein armseliger Mensch?“ Unbeeindruckt seufzte Craig, entspannte seinen Körper und erwiderte mit einem gefährlichen Grinsen: „Ich habe keine Ahnung was für ein Zeug ihr genommen habt, aber wenn ihr nicht sofort den Weg frei gebt, werde ich euch im nächsten Krankenhaus eine wunderbare Morphium Kur ermöglichen.“ Diesmal fing die gesamte Gruppe an animalisch zu zischen und jeder der Sechs drehte sich zu Craig um. „Du menschliche Made, wie kannst du es wagen uns zu beleidigen! Wir werden dich in Stücke reißen und im nächsten Fluss versenken!“ Einer, der hinter Craig stand, legte diesem dabei eine abgemagerte Hand auf die Schulter und drückte zu. Und die Kraft mit der er es tat, überraschte den Jungen. Niemals hätte er bei jemanden mit so einem klapprigen Körper solch eine enorme Stärke erwartet. Der Typ vor ihm richtete sich nun wieder zu seiner vollen Größe auf und zischte: „Stirb Made!“
Da riss Craigs Geduldfaden. Er trat einen Schritt vorwärts und befreite seine Schulter mit einer kurzen Oberkörperdrehung aus dem schmerzenden Griff. Dann hämmerte er seinem Gegenüber rücksichtslos die Faust genau zwischen die Augen. Ein Knacken ertönte, als die weiße Gestalt durch die Wucht nach hinten gegen einen Pfosten geschleudert wurde. Sie sackte in sich zusammen und blieb regungslos sitzen. Ein furioses Zischen und Schreien ertönte in seinem Rücken, doch er schenkte ihnen keine Beachtung. Er betrachtete nur verwundert seine Faust. Die Haut war aufgerissen und ein kleiner weißer Splitter hatte sich in das Fleisch zwischen seinen Fingern gebohrt. „Tonmasken?“ brummte Craig verächtlich. „Ich glaub mittlerweile, dass euch das Irrenhaus aus purer Verzweiflung hat gehen lassen.“ „Das wirst du bereuen, Mensch!“ schrie nun einer von ihnen und stürmte von der Seite auf Craig los. Doch der Junge drehte sich beherrscht um und machte schließlich einen schnellen Schritt schräg nach vorne. Dabei rammte er seinem Angreifer eine Faust in den Magen. Dieser stieß einen merkwürdigen, fast unmenschlichen Laut aus, behielt jedoch sein Bewusstsein. Craig reagierte schnell, drehte sich mit zwei schnellen kreisförmigen Schritten um 360° und donnerte ihm den Ellbogen aus der Bewegung in den ungeschützten Rücken. Sofort sackte sein Opfer bewusstlos zusammen.
Die vier weiteren schrien wütend, gingen dann jedoch auf Abstand. „War´s das schon?“, brummte Craig verächtlich und ging langsam auf die Gruppe zu. Doch diese flüchteten wild fluchend um die Ecke in eine weitere Regalreihe. Er folgte ihnen im Schritttempo, doch als er um die Ecke ging, waren sie spurlos verschwunden. Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Was für flinke Bastarde.“ Dann drehte er sich wieder um und staunte nicht schlecht, als er entdeckte, dass die beiden Bewusstlosen ebenfalls spurlos verschwunden waren. „Flinke, zähe und feige Bastarde.“ korrigierte er sich selbst und ging dann wieder zu seinem Wagen.