Beschreibung
Im Alter von dreizehn Jahren verliert Kayla ihren einzig wahren Freund auf mysteriöse Art und Weise. Erst sechs Jahre später findet sie erste Hinweise auf das, was wirklich geschah. Eine leidvolle Suche nach der Wahrheit beginnt, in der Realität und Illusion immer dichter ineinander greifen. Clewin lebt, doch nicht in dieser Welt.
Ein Fantasy-Roman
Eins
Ich kannte dieses Gefühl und ich hasste es wenn es kam.
Die Dunkelheit schmiegte sich um uns, spielte mit uns und machte mir nur all zu deutlich, wie bedrohlich sie war. Neben mir spürte ich den schlanken und gut trainierten, warmen Männerkörper, der beschützend einen Arm um mich gelegt hatte. Unter unseren Füßen knirschte der Kies des verwachsenen Weges, der sich wie eine Schlange elegant durch den Stadtwald wand.
Mein Körper zitterte.
Es war wie ein wohl vertrautes Zeichen.
Das Zeichen, das sagte, dass wir hier so
schnell wie möglich verschwinden mussten. In weiter Ferne war noch immer der dröhnende Bass der Party zu hören.
„Was ist denn auf einmal los mit dir?“, fragte mich Luca, der mich noch immer fest umschlossen hielt und meine Anspannung wohl gespürt haben musste. Ein warmer Windhauch zog an meinen lockigen, tiefroten Haaren und ließ die Blätter um uns rascheln. Ich begann zu frösteln, obwohl die Luft mild war und nach Sommer roch.
„Wir werden verfolgt“, antwortete ich ihm und schaute mich panisch zu allen Seiten um. Ja, wir wurden verfolgt. Ich wurde verfolgt, schon
wieder.
„Das bildest du dir nur ein“, sagte er sanft und strich mir mit den Fingern über die Wange. „Außerdem bin ich doch bei dir. Du musst keine Angst haben.“
Angst. Ja, das war eine Empfindung, die ich nicht mehr ablegen konnte. Ein ständiger Begleiter, rund um die Uhr.
Der Schein des vollen Mondes brach kurz durch die Wolkendecke, bevor er den Kampf mit dem feinen Wasserschleier verlor.
Ich drehte mich zu Luca und schaute ihm tief in die braunen Augen. Könnte er mich vor dem, was mich jagte verteidigen? Ich wusste doch selbst nicht
mal was es war.
„Wirklich Kayla. Du brauchst keine Angst im Dunklen zu haben, wenn ich bei dir bin“, flüsterte er, als habe er meine Gedanken gelesen. Langsam, ganz langsam beugte er sich zu mir herunter. Mein Herz setzte für einen Moment aus, bevor es in unmenschlicher Geschwindigkeit weiter raste. Luca wollte etwas tun, wovon ich ihn schon so lange abzuhalten versuchte.
Er wollte unsere Freundschaft zerstören.
Alles, was wir uns in den zwei Jahren, die wir uns nun schon kannten, aufgebaut hatten, wollte er durch einen einzigen Kuss zunichte machen. Oder war ich diejenige, die immerzu alles
kaputt machte?
Vorsichtig glitt ich aus seiner Umarmung, drehte meinen Kopf weg und sah im Augenwinkel, dass er resigniert die Schultern hängen ließ.
Luca war verliebt in mich, wer weiß wie lange schon, und er kämpfte um eine Beziehung. Doch ich konnte es einfach nicht. Noch nicht. Es zeriss mich innerlich, denn Luca war mein bester Freund. Er war der Einzige auf dieser verdammten Welt, der mich nicht für verrückt erklärte, egal wie oft ich unter Verfolgungswahn litt oder nachts schreiend wach wurde. Er war für mich da, wenn mich die Vergangenheit einholte und ich tagelang depressiv in
meinem Zimmer hing. Er hatte nicht einmal nachgefragt, warum ich so bin, wie ich bin. Er hatte mich einfach so akzeptiert. Ihn zu verlieren wäre ein weiterer Verlust, mit dem ich nicht klar kommen würde. Dann wäre mein Leben nicht mehr lebenswert und doch konnte ich diesen einen Schritt nicht tun. Ihn zu küssen bedeutete... ich schüttelte traurig den Kopf.
Plötzlich hörte ich neben mir ein Knacken. Panisch schoss ich herum und stellte mich in Angriffposition. Äste bewegten sich wie lange dünne Finger. Der Wind schmeckte faul und modrig. Luca kam direkt hinter mich und war mir mit einem Mal wieder viel zu nah.
Ich spürte seine muskulöse Brust im Rücken, während seine Hand meine Taille umfasste. „Ist alles ok?“, fragte er mich und sein warmer Atem strich meinen Nacken.
„Da ist was“, stotterte ich und blickte voller Angst in den dichten Wald. „Das muss endlich aufhören.“ Tief sog ich den Atem durch die Lunge. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. „Egal was du bist, komm endlich raus und zeig dich!“, brüllte ich in die Nacht hinaus.
„Meinst du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?“, hörte ich Luca hinter mir fragen. Doch ich antwortete ihm nicht. Viel zu sehr war ich auf den dunklen
Wald konzentriert, wo sich noch immer etwas bewegte.
Luca begann zu lachen, während er mich umdrehte und mir sanft die Arme um meinen Körper legte. „Du bist paranoid“, sagte er. Doch am Klang seiner Stimme erkannte ich, dass er es scherzhaft meinte. Ich ließ die erneute Berührung zu und schmiegte mich unsicher an seinen Körper. War ich wirklich paranoid? „Hast wohl doch ein wenig zu viel getrunken“, stellte er fest.
An seine Brust gelehnt fühlte ich den Puls, das Leben, das durch seinen Körper floss. Unter dem feinen Stoff seines ärmellosen Shirts spürte ich jede einzelne Erhebung seines athletischen
Körpers. Ich wünschte mir so sehr, mich einfach dem Gefühl hinzugeben, ihm endlich zu sagen, dass ich genauso empfand wie er. Doch das war unmöglich.
Völlig unerwartet hörte ich erneut ein lautes Knacken. Ganz ruhig Kayla, es ist nur der Wald. Diesmal fuhr sogar Luca herum. Das Adrenalin strömte durch meinen Körper und veranlasste meine Beine mich so schnell wie möglich von hier fort zu tragen. Als ich rannte, sah ich ein paar Meter vor mir eine dunkle Gestalt, die aus dem Wald gesprungen kam. Mein Herz lief einen Marathon und ich begann am ganzen Körper zu schwitzen. Es ist zu spät. Dicht hinter ihr
befand sich eine zweite, noch größere Gestalt. Ich knallte geradewegs in sie hinein und begann zu schreien.
Starke Hände griffen mich und drückten mich auf den Boden. Ich schlug wild um mich und traf etwas Hartes mit meiner Faust.
„Süße, es ist alles gut! Ich bin es doch nur!“ Noch immer wedelte ich wild mit den Armen um mich, bis ich plötzlich inne hielt, als die vertraute Stimme mein Gehirn erreichte.
„Dennis?“, flüsterte ich mich zittriger Stimme.
„Meine Güte, ja!“
Ich schaute ihm in sein makelloses Gesicht, das durch die feine Blutspur
über dem Auge fast etwas von seinem Glanz verloren hätte. Ich hatte ihn an der rechten Augebraue erwischt. Sofort überkam mich ein unheimliches Gefühl von Scham.
Dennis wischte sich das Blut belanglos mit dem Handrücken weg und fluchte leise. „Was ist denn in dich gefahren, verdammt?“, fuhr er mich ein wenig grob an. Seine dunklen Augen musterten mich eindringlich, während er seinen Kopf elegant zur Seite schwang um seine schwarzen Haare aus den Augen zu schütteln. „Hast du mich nur gerufen um mich daran zu hindern schmutzige Dinge zu tun?“ Ich schaute zu der zweiten Person, die mit ihm aus dem
Wald gekommen war. Es war ein äußerst gut aussehender Typ, der seine Haare perfekt gestylt hatte. Und dann begriff ich.
Dennis war ein Mitbewohner von mir. Und er war schwul, stockschwul um genau zu sein. Und man musste nicht sehr schlau sein um zu wissen, was die zwei im Wald getrieben hatten.
„Tut mir Leid“, stammelte ich unbeholfen. War das peinlich.
„Schon ok“, antwortete er immer noch mürrisch. Er wandte sich an Luca. „Was hast du denn mit ihr gemacht, dass sie so ausrastet?“
Luca hob abwehrend die Hände. „Nichts, ich schwöre.“ Dann lächelte er. „Na ja,
gut, ich wollte sie küssen. Du kennst ja mein ewiges Leid.“
Nun lachte auch Dennis. Er hielt mir seine starke Hand entgegen um mir vom Boden aufzuhelfen. Dann zog er mich in seine Arme und flüsterte mir ins Ohr: „Wenn ich du wäre, würde ich mir so einen heißen Typen nicht entgehen lassen.“ Er machte eine kurze Pause und lachte leise. „Und vielleicht solltest du noch einmal darüber nachdenken, wieder eine Therapie zu beginnen. Du musst deine Angst mal unter Kontrolle bekommen.“
Ich schaute ihn mit großen Augen an, mir bewusst, dass sich sofort Tränen darin sammelten.
Dennis konnte es nicht wissen. Niemand konnte es wissen.
Eine Therapie würde mich nicht beschützen können.
Zwei
Mit einem lauten Stöhnen ließ ich mich auf den Beifahrersitz von Lucas kleinem Auto fallen. Die Tür quietschte protestierend als ich sie mit Gewalt hinter mir zu zog. „Sorry, ich musste noch schnell mit Samson raus. Wenn der zu lange keine Bewegung bekommt, nimmt der mir die Bude auseinander. Heute müssen wir ja so lange an der Uni bleiben.“ Mit einem eleganten Schwung beförderte ich meine Umhängetasche zu dem übrigen Chaos auf die Rückbank.
Luca lachte, während er sich zu mir beugte und wir uns umarmten. „Sollte eine achtjährige Tibetdogge nicht schon
etwas ruhiger sein, besonders in der Wohnung?“
„Eigentlich schon, aber ihm wird leider schnell langweilig.“
Luca startete den Motor, der uns erst beim dritten Versuch geräuschsvoll mitteilte, dass er auch schon bessere Tage erlebt hatte. „Dreckskarre“, hörte ich Luca leise fluchen, während er mit quietschenden Reifen vom Straßenrand los fuhr, bevor ihm die Straßenbahn den Weg versperrte. Der Verkehr um diese Zeit war schlimm. Entweder, man war dreist oder man wartete ewig, bis man von der Stelle kam. Trotzdem konnte ich es nicht leiden, wenn er so etwas machte. „Ganz ruhig, wir haben noch
Zeit“, sagte ich sanft. „Ich komme lieber zu spät als gar nicht an.“
Verzweifelt stieß Luca die Luft aus. „Ich müsste mich noch ein bisschen vorbereiten.“ Unruhig bewegte er die Finger über das Lenkrad. Das war längst nicht die ganze Wahrheit.
„Auf den Test oder was?“, fragte ich ihn erstaunt. „Der soll doch angeblich so easy sein.“
„Ja, aber wir waren ja gestern so lang weg.“ Er starrte stur gerade aus, als könne er sich nur noch auf den Verkehr konzentrieren.
Ich schaute ihn skeptisch an und erkannte sofort, dass ihm das Thema unangenehm war. „Der Termin für die
Prüfung steht doch schon seit Wochen fest.“
Er blickte mich an, als wolle er sagen, dass ich es doch besser wissen müsste. Ich musste lachen. Luca und ich studierten gemeinsam Meeresbiologie an der Leonhard-von-Salzing Universität in Brachfurth und er war eher der Auf-den-letzten-Drücker-Lerner. „Also ich hätte den Test auch schon letzte Woche schreiben können. So viel ist das nicht“, meinte ich selbstgefällig.
„Du vielleicht. Bei mir gibt es immer etwas Wichtigeres zu tun.“ Er zwinkerte mir zu.
„Du wirst den jawohl bestehen. Ich hab keine Lust nächste Woche mit Fremden
zu tauchen“, beschwerte ich mich scherzhaft.
„Ja, ich schaff das schon.“ Er hielt kurz inne. „Wie ging es dir denn gestern Nacht noch, nachdem du dich von dem Schrecken erholt hattest?“, wechselte er das Thema, um nicht weiter darüber reden zu müssen.
„Eigentlich ganz gut, kaum der Rede Wert. Viel schlimmer war, dass Dennis erst viel später nach Hause kam und sich so hysterisch mit seinem Lover im Bett herum gewälzt hat, dass ich nicht mehr schlafen konnte. Selbst Samson hat die Krise bekommen.“
„Das ist widerlich“, sagte Luca abfällig.
„Ja, so sind Schwule eben.“ Ich machte
eine kurze Pause und sah aus dem Fenster, als wir auf die Stadtautobahn auffuhren, von der man einen fantastischen Blick auf das Meer hatte. Das Wasser glitzerte fast magisch im sanften Licht der aufgehenden Sonne. „Ich hatte heute Nacht schon wieder so einen abgefahrenen Traum.“
Luca schaute mich kurz an, bevor er sich wieder auf den Verkehr konzentrierte und einen Kleinlaster überholte. Deutlich konnte ich das angestrengte Brummen des Motors in den Beinen spüren. Der Windschutz über dem kleinen Dachfenster knatterte, als wolle er uns bald verlassen. „Was für einen?“, fragte er
mich.
„Von meinem damaligen Freund.“ Ich seufzte und war mir nicht sicher, ob es richtig war mit Luca darüber zu reden. So lange wir uns bei dichtem Verkehr auf einer mehrspurigen Straße befanden, konnte ich ohnehin nicht klar denken.
„Der, der verschwunden ist? Was damals so lange in den Medien war?“
„Ja.“ Für einen Moment schloss ich die Augen und sah ihn im Geiste vor mir. Wie er mich anlächelte, meine Hände in den seinen hielt und mir versprach mich nie zu verlassen. Unwillkürlich wurden meine Augen feucht und ich drehte mich schnell zum Fenster, so dass Luca es nicht sehen konnte. Dabei sah ich in den
Kombi, den wir gerade überholten und beneidete augenblicklich die fröhlichen Gesichter auf der Rückbank.
„Was hast du denn geträumt?“, fragte er mich nun.
Ich holte tief Luft. „Das geht seit ein paar Wochen so. Ich träume fast jede Nacht von ihm, sogar tagsüber muss ich extrem oft an ihn denken. Ich versteh das nicht. Es ist so viele Jahre her und ich habe mit der ganzen Sache abgeschlossen. Eigentlich.“
„Na ja“, meinte Luca und blickte mich kurz wieder an. „Du weißt nicht, wozu unser Unterbewusstsein alles in der Lage ist.“
„Ich weiß“, sagte ich leise. „Aber es ist
trotzdem seltsam. Du hast gestern selbst erlebt, wie abgedreht ich auf einmal bin. Ich weiß echt nicht, was auf einmal mit mir los ist.“
„Ach, das bekommst du schon wieder in den Griff“, beruhigte mich Luca und nahm meine Hand. „Ich bin immer für dich da, das weißt du.“
„Ja ich weiß. Kannst du das Lenkrad bitte festhalten?“, fragte ich, als ich sah, dass er mal wieder nur mit den Knien lenkte. Zögernd ließ er meine Hand los und umfasste das Lenkrad. Ich lehnte mich an die Kopfstütze und schloss die Augen. Das war doch echt verrückt.
Nach kurzem Schweigen, das ich einfach
brauchte, um mich wieder zu sammeln, riss er mich erneut aus meinen Gedanken. „Du könntest mir noch einen riesigen Gefallen tun, Kayla.“
Ich schaute Luca wieder an. „Was denn?“
„Erzähl mir doch bitte noch einmal das Wichtigste, was wir fürs Tauchen wissen müssen. Ich hab echt keinen Bock durchzufallen.“
Sofort musste ich lachen und war froh auf andere Gedanken zu kommen. Luca und das Wasser waren eigentlich eine Einheit. Im Sommer verbrachte er jeden Tag am Meer, surfte mit seinem Brett in den Wellen und machte den Mädels schöne Augen. Doch das Tauchen war nicht wirklich seine Stärke. Voller
Begeisterung breitete ich all mein Wissen bis ins kleinste Detail aus und erzählte noch immer, als er mir schon die Tür aufhielt. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie er den Motor abstellte, als wir längst auf dem unteren großen Uniparkplatz standen.
„Ich denke“, meinte er wohlwollend, während er mir meine Tasche hielt. „Jetzt bin ich gut genug informiert, um zumindest zu bestehen.“ Sein Grinsen war ansteckend. „Wenn wir erst einmal den Kurs hinter uns gebracht haben, fragt doch eh keiner mehr nach irgendwelchen Vornoten.“