Einleitung
Wach halten. Nicht einschlafen.
Eine gemeinsam verfasste Kurzgeschichte von den Hobbyautoren Timo W. und Lisa S
Das Fremde
Jason wusste genau, dass er nachts nicht draußen sein sollte.
Eine undefinierbare Kraft hatte an ihm gezerrt, ihm befohlen sein warmes, gemütliches Bett zu verlassen, nur um am Balkon hinunterzuklettern und in die bedrohliche Nacht einzutauchen.
Er irrte verwirrt durch die vom Regen nassen Straßen und war nicht Herr seines Körpers. Seine Beine lenkten ihn auf eine große Wiese, auf der er sich machtlos niederlegte. Sein schwarzes Haar glitzerte in dem seichten Schein des vollen Mondes.
»Nicht mehr lange«, ertönte eine
fremdartige Stimme in seinem Schädel. »Es ist bald vorbei.«
Lass mich endlich in Ruhe! Jason versuchte sich aufzuraffen, versuchte gegen die Macht anzukämpfen, die ihn auf das feuchte Gras drückte. Mit aller Gewalt gelang es ihm, dem mysteriösen Band, das ihn versuchte zu fesseln, zu entkommen. Er sprang auf und wollte nach Hause rennen. Sein klatschnasser Pyjama klebte an seinem Körper und erschwerte ihm jede Bewegung. Der Stoff schmiegte sich an jede noch so kleine Hautfalte und jagte Jason einen unangenehmen Schauer über den Rücken.
Lass mich in Ruhe, lass mich in Ruhe. »Lass mich in Ruhe!«, schrie er.
Vom Schweiß und Regen durchnässt kam Jason zu Hause an. Das große, prunkvolle Haus bäumte sich vor ihm auf, wie ein Monster, dass ihn zu verschlucken drohte. Leise kletterte er an dem Rohr der Dachrinne den Balkon nach oben, bedacht darauf seine Eltern nicht zu wecken. Das würde nur erneuten Ärger bedeuten. Er stieg behutsam durch das Fenster und schloss es vorsichtig und lautlos. Sofort riss er sich die nassen Kleider vom Leib und kramte in seinem Schrank nach einem anderen Pyjama.
Was sollte seine Mutter nur denken, wenn sie den nassen Schlafanzug
entdecken würde? Die Wahrheit würde sie ja doch nicht glauben wollen. Er schnappte sich die durchnässten Kleider und hängte sie über seine Heizung, die er ungern anschaltete, da es viel zu warm in seinem Zimmer war.
Jetzt begann wieder der unangenehme Teil der Nacht. Er musste versuchen sich krampfhaft wach zu halten. Beinahe stumm lag er halb zugedeckt in seinem vom Mondschein durchfluteten Zimmer. Der glatt schillernde Stoff seiner Decke kratzte an den spröden Stellen der Haut, wo öfters Fingernägel vor Nervosität entlang gleiten.
Wach halten. Nicht Einschlafen.
Unbewusstes Schaben besänftigt das
Unterbewusstsein. Nicht darauf hören. Nicht darauf achten. Die Hitze, welche sich über den Tag ansammelte, machte sich nun in seiner vor Durst schreienden Kehle bemerkbar. Jason schloss die vor Müdigkeit unterlaufenen Augen und fächelte sich Luft ins glühende Gesicht. Unangenehm spürte er das bedrohliche Jucken seiner Narben. Er dachte an frisches kaltes Wasser, welches kühl beim Herunter laufen seine Kehle benetzt. Als er die Lider bewegte, durchfuhr ihn ein stechender Ruck.
Er stand vor weißem Keramik über wohltuend kühlen Kacheln, über dem der ebenfalls weiße, verbotene Kasten hing. In seinem Bauch tanzten die Stromstöße.
In dem hellen Licht leuchtete das kleine Wandschränkchen, wie eine Krankenhausapotheke. Metallisch funkelte das Vorhängeschloss und grinste ihn verlockend an.
Die Stromschläge wurden härter. Schnell wandte er den Blick ab.
Wach halten. Nicht Einschlafen.
Jason drehte am Hahn und erfrischte sich am fallenden Nass. Danach verließ er das Bad und kehrte verstört in sein Zimmer zurück. Inmitten seines kleinen Reiches blieb er stehen. Minuten vergingen, ehe er auf die Idee kam den Fernseher einzuschalten, um sich von den bewegten Bildern beduseln zu lassen. Er durfte sich dabei nicht aufs
Bett legen, er durfte nicht einschlafen. Musste sich die ganze Nacht wach halten, wie schon viele Tage zuvor.
Eine Weile blieb er vor dem Fernseher stehen. Wahllos zappte er durch die Programme, doch keines sprach ihn an. Immer schwerer wurden die von der Hitze trockenen Augenlider. Für den Bruchteil einer Sekunde klappten sie ihm zu und er geriet ins Wanken. Schnell öffnete er sie wieder.
Die Dunkelheit schien ihn zu verschlucken. Die schillernden Farben des Fernsehers waren verschwunden. Verwirrt blickte er sich um. Vor ihm befand sich die Schlafzimmertür seiner Eltern. Ein Kribbeln durchfuhr seinen
schlanken Körper, das Herz raste, der Schweiß perlte an seiner glatten Haut. Er schüttelte sich kräftig, um die entstehende Erregung zu unterdrücken und schlich in sein Zimmer zurück.
Wach halten. Nicht Einschlafen.
Die Narben brannten. Hilflos lief er durch den Raum, die Glieder schwer wie Blei. Eine salzige Flüssigkeit tropfte auf Teppichfasern. Er dachte verzweifelt daran wo sich der Schlüssel befand.
Wach halten. Nicht Einschlafen.
Die Fasern saugten gierig. Jason setzte sich mitten aufs Bett und schlang Arme um Beine. Fleisch in Fleisch. Langsam wiegte er mit seinem gesamten Körper hin und her und versuchte sich nur auf
den einen Gedanken zu konzentrieren.
Wach halten. Nicht Einschlafen.
Neuronen feuerten. Synapsen zuckten...
Als seine Mutter am nächsten Morgen das verlassene Zimmer vorfindet, schreit in ihrem eine leere Schublade viel zu spät um Hilfe.