Kurzgeschichte
Mein lieber Freund

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"Mein lieber Freund"
Veröffentlicht am 01. August 2010, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Mein lieber Freund

Mein lieber Freund

Mein lieber Freund

Ich hörte (glaubte zu hören?) die Stimme, vermeinte sie zu erkennen und ergab mich wieder der Dunkelheit und dem Gefühl zu schweben. Obwohl ich mit geschlossenen Augen und fern jeder Wahrnehmung in einem Bett auf der Intensivstation lag, sah ich einen düsteren Ring farblosen Lichts, der mich in seinen Bannkreis zu ziehen versuchte.
…Axel….

Der Tod. Ich wusste, dass war der Tod. Ich verspürte Angst, wollte schreien, wollte fliehen doch ein wacher Teil in mir erinnerte mich daran, dass die Chance zur Flucht schon längst vergangen war. Aus einem Reflex ruckte meine linke Hand kurz nach oben und traf auf Stahl. Sie hatten mir Handschellen angelegt. Als könne ich fliehen…
…Axel….

Was kommt danach? Egal, ob katholisch, evangelisch oder Satanist meinetwegen: man dachte schon mal über die gehörten Geschichten nach, die einem vom Jenseits erzählen; vom Ewigen Tanz mit den Engeln, einem netten Schwatz mit Big Boss und einer geilen Gitarre voll mit Marlboros. Ja, so stell ich mir auch den Himmel vor. So musste es sein.
Aber ich hatte Angst.
Und auch allen Grund dazu.
Die grüne, gezackte Linie auf dem EKG erklärte, dass ich lebte, also lebte ich. Ich konnte sie beobachten (obwohl seine Augen geschlossen waren!) und hörte das leise Piepen, das schon lange nicht mehr störend wirkte. Ebenso die Stimmen der Ärzte, die meiner Frau mitteilten, dass mein Zustand kritisch, aber stabil sei. Alles war super, eben.
Von wegen.
Für einen kurzen Moment erlaubte sich mein Verstand langsam wieder die Vorherrschaft zu übernehmen, erklomm das Firmament meines Seins und brach vor Schmerzen zusammen. Was war das? Das Erwachen schmerzte höllisch. Der Körper war geschunden, die Plastikschläuche saugten oder pumpten mich voll, waren Rettungsanker in einer Welt, die ich so nicht verlassen wollte. Nicht so. Nicht hier.
Nicht nach so einem Leben…
..Axel… hast du Mist gebaut? Hast du wieder nicht nachgedacht, wie ich es dir immer gesagt habe? Ich habe immer gesagt, dass du auf mich hören sollst. Das du nicht zum Denken taugst. Taugst du zum denken, Axel? Die zehn Schläuche in deiner Brust sagen Nein.
Verpiss dich.
Ich bin dein Freund.

Ich hätte fast gekotzt, wenn ich in der Lage gewesen wäre. Aber ich war nicht in der Lage, genauso genommen konnte ich nicht mal zwinkern. Ich erinnerte mich noch gut an die letzten Minuten, als ich in die Wohnung gekommen war und mich mit einem Baseballschläger bewaffnend dem Rentner genähert hatte…
… ich will die Einnahmen, alter Sack, ich will sie sofort denn ich weiß, dass dein Neffe dir die Kasse immer nach Dienstschluss bringt. Das weiß ich genau….
… doch der alte Mann war zwar erschrocken gewesen, aber er hatte auch Freunde gehabt. Keine Kasse diesmal, sondern zwei Freunde. Zwei dicke Freunde mit drahtigen Muskeln und geifernden Zähnen, die auf die Namen Pluto und Hannibal hörten…
…was zum Teu…
…Hannibal war schon losgesprungen, noch bevor der alte Mann die Leine losgelassen hatte. Und Pluto wollte nicht nachstehen. Er wollte auch einen Teil. Er nahm ihn sich. Oh, verdammter Jesus Christus, gleich einen Hoden davon…
…und der alte Mann brüllt: „Jetzt weißt du wieder, was geht, was? Jetzt weißt du es wieder? Euch Scharlatanen zeige ich es! Pluto! Hannibal! Macht ihn kaputt!“
Scharlatan?
Sehe ich aus wie ein Vertreter oder so?
… ich starre wie blöd auf die beiden Pittbulls, die mich mit ihrem Gewicht und ihrer Kraft gegen die Kommode neben der Tür schleudern und etwas bricht mir im Rücken, aber wisst ihr was? Das juckt mich nicht im Geringsten. Darauf lege ich einen großen Haufen. Denn ich kann meine Augen nicht von den Zähnen lassen, diesen großen Zähnen…
…und ich schreie, wie am Spieß, als der eine (Hannibal? Pluto?) mir ins Gesicht beißt, während der andere sich den Unterteil von mir nimmt. Ich glaube, ich habe den einen getreten, aber das Tier ist so drauf voll mit Adrenalin und Killpower, dass es ihm herzlich wenig ausmacht. Sofort setzt er nach, beisst und schüttelt seinen Kopf, während er zieht und zerrt.
Heh, das sind doch Erinnerungen, oder? Lustig, ein echter Witz, denn das könnte das Ergebnis eines wundervollen Lebens sein, sozusagen eine Zusammenfassung. Denn so war mein Leben: hierin gerutscht, ein paar auf den Kopf, dahin gerutscht, und einen Tritt in den Hintern, dann dieses Ding, dann die Polizei, dann den Typen in der Wirtschaft, der mit dem Messer mich gekitzelt hat, und dann die Abfuhr beim Arbeitsamt, dann der Knast, und dann…das, eben. Zwei Pittbulls kauen auf mir herum. Eben Vergangenheit. Aber irgendwie bin ich doch abgerutscht in die Vergangenheit. Das darf ich nicht. Ich muss fit bleiben. Ich muss stark bleiben, denn ich bin am Leben und muss wach bleiben.
…Zurück zum Hier und Jetzt. Und den Schmerz.
Schmerz. Dauerhaft. Wie eine Welle.
Welle nach Welle.
Ich stöhne.
„Axel…!“
Diesmal war es eine andere Stimme. Nicht so wie eben, sondern anders…
Ich öffne die Augen, und dann sah ich es.
Oben an der Decke, zwischen Zimmerdecke und Wand, dort kristallisierte sich etwas,…
Das Licht war der Tod.
Kalt und schneidend.
Das Licht formte einen Kreis, nein, es waren zwei Kreise…
…es waren Augen…
…und ich kenne diese Augen…
Konnten das nicht die Augen meines lieben Freundes Roger sein, weil die Augen meines Freundes so hämisch grinsend und spöttisch schon von dem Kindergarten waren? So herablassend und arrogant, dass ich mir wünschte sie nie wieder zusehen? 
…ich sah die Augen meines alten Freundes, so sanft…
…ich sah das Gesicht seines alten Freundes, ein längliches Gesicht mit Aknenarben und verschlagenem Grinsen. Unattraktiv für Frauen, aber verschlagen genug um Idioten wie mich hereinzulegen… wieder und wieder…
Ich sehe meinen Freund Roger.
Er war tot.
Und mein Freund Roger sagte: „Jetzt wird alles gut, Alter. Ich bin jetzt bei dir.“
Ich sage: „Du elender Idiot. Du hast mich nur hereingelegt… wieder und immer wieder!“

Ich rutsche wieder ab in die Erinnerungen. Blickte als Geist auf die Geschehnisse und konnte sie nicht ändern. Ich war Gast in meiner eigenen Erinnerung gefangen…
Roger war da, wenn man ihn nicht brauchte. Er stahl Axel sein Spielzeug, wenn keiner hinsah. Er knuffte Axel nur so zum Spaß und ergötzte sich an seinem Tränen. Er hetzte die anderen gegen ihn auf, und schon war Axel allein. Im Kindergarten, wie auch in der Grundschule. Doch Axel war dumm. Dumm genug, um zu versuchen sich bei Roger einzuschmeicheln, da er seine eigene Schwäche verachtete und nur zu den Starken gehören wollte. Er schenkte Roger seine Pfeife, und Roger blies darauf, dass die Spucketropfen aus dem Pfeifenschlitz spritzten und warf sie weg. Doch Axel blieb da. Er hasste sich selbst dafür, dass er zu schwach war um gegen Roger aufzubegehren, diesen Nachbarsjungen, der immer schon ein Auge auf Axel geworfen hatte. 
Axel gab nicht auf. Er wollte dazugehören, er wollte ihm seine Comics schenken (hier, schau: Captain Future. Na, ist das was?) und Roger sagte nur: „Ganz nett.“ Er las sie durch, beschmierte sie mit Filzstiften und warf sie achtlos weg. Axel hörte nicht auf seine Eltern, hörte nicht auf andere, und hoffte nur, dass es Besser wurde. 
Aber: Überraschung! (Alles kommt überraschend, wenn man ein Idiot ist!) Roger änderte sich nicht. Er änderte sein verhalten kein bisschen, als solle doch die Welt sich um ihn verändern. Und wenigstens tat ihm Axel den Gefallen.
So wie die Sache mit den Zigaretten auf dem Jungenklo: Roger rauchte in der Realschule heimlich, und Axel musste sie mit sich herumtragen, da Roger nicht erwischt werden wollte. Wurde er auch nicht. Axel schon, und zwar bei einer Taschendurchsuchung als seine Klamotten so verdächtig nach Nikotin rochen. Axel bekam den Verweis und den Ärger. Roger folgte ihm zwei Jahre später auf die Hauptschule, weil er ein Mädchen unsittlich berührt hatte.
Klar war mal Pause zwischen ihnen – Axel war nach der Geschichte mit den Zigaretten so sauer auf seinen alten Freund, dass er ihn am liebsten gesteinigt hätte. Doch Roger zog an der Hauptschule wieder seine Fäden und erlaubte sich nach einigen Wochen seligen Frieden dann einen üblen Scherz: Erzählte überall herum, dass Axel gerne satanische Praktiken mit Nazikreuzen im nahen Bunker abhielt. Weil er Hitler so toll fand.
Roger fand das spaßig.
Einige Schüler nicht.
Man fand Axel früh am einen Dienstagmorgen auf den Srtufen der Schule wimmernd und blutend liegen, man hatte ihm die Theorie und gleich auch die Praxis des berüchtigten „Bordsteinkicks“ gezeigt – wie der geht, sollte man lieber verschweigen aber Axel erinnerte sich noch gut dran. Schließlich war er der erste vierzehnjährige mit einer Teilprothese im Oberkiefer gewesen, nachdem fünf Frontzähne verschwunden waren.
So ging es weiter und weiter… Axel folgte Roger wie ein geprügelter Hund, der noch nicht genug Prügel bekommen hatte. Nach dem Schulabschluss ging es in die Lehre für beide. Um es kurz zu machen: beide schafften es nicht, und alles war wieder Rogers Schuld.
„Du bist zu blöd, um was zu kapieren. Verstehst du es? Du musst mehr auf mich hören.“
Axel wusste, was das Ergebnis werden würde. Aber er schwieg.
Nach Zigaretten kamen harte Drogen, nach Schnaps heftige Partys, nach Mutproben kriminelle Handlungen.
Das Ding nannte Roger „Dinge besorgen“, was nicht besonders originell war aber den Kern der Sache traf. Roger stahl, gab es an Axel weiter- und umgekehrt. Natürlich ging einiges schief und wie es der Teufel wollte, musste Axel den Kopf dafür hinhalten.
„Du hast gesagt, du wärest für mich da. Du hast gesagt, wir wären Freunde!“, hatte Axel ihm nach den Knastaufenthalt vorgeworfen. Der Jugendknast war ein Schock gewesen, für ihn und für seine Eltern. Mit Tränen hatte sich Axel vor Roger hingestellt und trotzig sein Kinn vorgeschoben.
Sein alter Freund lachte, hatte sich den Bauch gehalten und mit seinem verlebten Gesicht mit den Aknenarben hämisch gegrinst. „Du verdienst es nicht besser, du Idiot. Tja, dann habe ich dich wohl belogen, was? Ich muss ein verdammter Lügner sein! Wahrscheinlich ein gottverdammter Lügner. Nichts zu machen!“
Wütend und frustriert hatte sich Axel abgewandt, ohne Bildung und ohne Ziel, hatte später wieder zu ihm gefunden, hatte mit ihm ein Bier nach dem anderen getrunken und gehofft, dass er sich geändert hatte. Oh, lieber Gott, lass ihn sich ändern!
Doch Gott machte gerade Urlaub oder es war ihm egal: Roger änderte sich nicht, zog Axel weiter in seinen Bann und machte etwas, was nicht zu entschuldigen ist: er duckte sich zu spät beim U-Bahn-Diving und nahm die nächste Unterführung voll mit. 
Roger war tot, aber da war es schon zu spät.

Hier und jetzt.
…ich schaue zu dem Gesicht von Roger, wie er mich lächelnd und gar nicht mehr spöttisch ansieht, so als täte ihm alles unendlich leid. Und das sagt er auch. Er sieht gut aus, fast braungebrannt und ausgeruht. Nicht mehr verlebt und düster. Doch ich habe dazugelernt.
„Schau mich nicht an, Roger. Hau einfach ab…“, sage ich in Gedanken.
Roger wirkt verletzt. „Es tut mir alles so leid, mein Freund“, er schluckt. „wenn ich es nur wieder gut machen könnte. Dir einen Weg weisen aus diesem tiefen Tal des Schmerzes. Ich könnte dich befreien, wenn du willst…“
„Lass mich. Hau ab. Du warst nie ein Freund.“
Er lächelt längst nicht mehr. „Es tut mir leid, Axel. Ich war nie der Freund, den du brauchtest. Aber ich bin jetzt bei dir. Ich war so dumm, aber jetzt kann ich sehen, Axel. Kannst du es auch sehen? Das Licht?“
Und ich kann es sehen. Das Licht des Todes. Aber da ist noch mehr… eine Melodie…
Während ich panisch um mich greife(nicht bildlich gesprochen!), fasst Roger meine linke Hand und drückt sanft zu. „Ich bin bei dir, mein Freund. Mein lieber Freund. Wir beide gehen zusammen durch dieses Licht und ich werde dir das Himmelreich zeigen. Würde dir das gefallen?“
„Du bist tot.“
„Ja.“
„In der Hölle.“
„Nein, Axel. Hier ist es schön. Keine Zeit und alle Orte, die du gerne sehen möchtest. Hier ist die Luft klar und das Bier geht nie aus. Die Drinks gehen alle aufs Haus und die Miezen machen alles- alles, Axel. Alles, was du willst. Wenn ich dir schon kein guter Freund im Leben sein konnte, dann lass mich ein Freund jetzt sein. Ich helfe dir über den Schmerz hinweg…“
Die Schmerzen sind unerträglich geworden, Licht flackert überall herum, ich schmecke Blut und Galle und spüre, dass jetzt die Entscheidung ist: gehen oder bleiben. Erlösung oder Schmerzen.
Ich war noch nie gut im Schmerzen aushalten.
Ich umfasse Rogers Hand, nicke ihm feierlich zu und lasse mich gehen, treiben, treiben, bis der Raum sich verzieht und ein langes Piepen einsetzt…
….Pieeeeeeeeeeeep… die Deadline… besetzt, kein Anschluss unter dieser Nummer, versuchen Sie es später noch einmal…
…ich tauche mit Roger in das Licht, sehe noch die Schwester, wie sie panisch zu den Geräten läuft, und im nächsten Moment weiß ich, das etwas nicht stimmt…

Die Luft ist heiß, brennt wie Säure und schält meine Haut, während Zangen meine Zähne ziehen und Rasiermesser meine Augen vierteilen. Der Chor der Verdammten kreischt mir entgegen und mit Ketten werde ich an Lavafelsen für immer angekettet. Ich schreie, aber es nützt nichts. Ich starre zu Roger hoch, der mir mit feuerroten Haaren irre lachend entgegenstarrt und genau wie ich alle Pein erträgt. Weil er muss. Weil er wie ich bin. Mit der letzten Kraft heule ich ihm meine Schmerzen entgegen: „Du hast gelogen! Du hast gelogen!“
Und er lehnt sich zurück, lacht wie verrückt und entgegnet: „Ich muss ein verdammter Lügner sein! Wahrscheinlich ein gottverdammter Lügner. Nichts zu machen!“

ende

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vany

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KarinRegorsek Die Geschichte - ist ja heftig, aber gefällt mir gut, von der Idee her!

Sie ist gut und spannend erzählt!

Liebe Grüße an Dich vany! Karin
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