Krachend fällt die Eisentür ins Schloss. Kleine Hände umfassen die Stäbe und rütteln verzweifelt. Arme versuchen durch das Draht zu flüchten, doch es gelingt nicht. Keine 3 Meter weit entfernt steht ein 2. Käfig, auch diese Tür ist verschlossen.
In dem kleinen Jungen erkenne ich dich. Wir sind gefangen, Beide! Eingeschlossen und getrennt. Silbergraue Käfige, wie für ein Kaninchen, gleichgroß, nah und doch so weit auseinander. Das Licht, welches sich durch das kleine Fenster stielt, lässt die Tränen erkennen, die in deinen Wimpern hängen. Zwei weitere Tränen, die mich an kleine schimmernde Glasperlen erinnern, rutschen ganz langsam deine Wangen herunter. Unsere Blicke treffen aufeinander und unsere Herzen verbinden sich.
Was ist bloß geschehen, wie kommen wir hierher in diesen dunklen Raum, warum sind wir eingesperrt und voneinander getrennt. Ja und wieso bist du ein kleiner Junge? Ich sehe auf meine Hände, die sich ganz klein und verzweifelt an dem Gitter festkrallen und dann schaue ich an mir herunter. Bitte, Liebster sag mir, was ist los, wieso sind wir Kinder. Wir sind doch erwachsen und gehören zusammen. Du sagst keinen Ton, nur dein Blick, der ist so unendlich traurig.
Es muss doch eine Lösung geben. Es gibt immer einen Ausweg, das weiß ich ganz genau. Man muss sich etwas ganz fest wünschen und daran glauben, dann findet man einen Weg. Erinnerst du dich denn nicht was passiert ist, schließlich bist du groß und kräftig. Nein, bist du nicht, du bist zwar ein bisschen größer als ich, aber auch klein, eben ein Kind, genau wie ich.
Mir wird bewusst, dass ich kein Wort sage, sondern all das nur denke. Warum sage ich denn nichts und warum schaust du mich nur so traurig an. Bitte mein Schatz, lass uns miteinander reden, bitte.
Ich habe die Worte in mir und sie wollen auch zu dir fliegen, aber kein Ton kommt. Nichts, außer der warmen Atemwolke, die in dem kleinen Licht, aussieht wie ein duftiger grauer weißer Schleier, der um meinen Mund schwebt. Ich versuche meine Gedanken zu dir zu schicken, so wie wir das sonst auch machen.
Wie oft habe ich am Abend eine Kerze auf das Fensterbrett gestellt und dann ganz fest an dich gedacht, weißt du noch? Erst gestern Abend habe ich das gemacht, gestern Abend. Woher weiß ich, dass es gestern war? Aber wenn ich mich daran erinnern kann, dann muss ich doch auch wissen, wie ich hierhergekommen bin. Was war in der Nacht, irgendetwas muss doch anders gewesen sein. Mein Kopf brennt und klopft, es ist als würde ihn jemand festhalten und zusammenpressen. Nicht mit einem Griff, nein, es geht mit meinem Pulsschlage zusammen. Es ist so, als würde mein Herz mit jedem Schlag eine Anweisung an mein Gehirn geben: *Achtung, jetzt ganz fest drücken und dann loslassen*. Ja genau so ist dieses Gefühl. Der Schmerz ist da, aber nicht so ganz wirklich, er tut weh, aber er lässt mich noch klar denken.
Deine Augen blicken verzweifelt zu mir rüber, sie schreien ganz laut um Hilfe. Sag doch was, hauche ich dir mit diesem Atemschleier entgegen und dann wird mir bewusst, dass wir beide nicht sprechen können.
Also noch einmal von vorn. Ich habe um 23:30 die Kerze, die nach Rosen und Jasmin duftet und mit kleinen Engeln und Glitzersternchen beklebt ist, an mein Bett gestellt und du doch auch an deines, oder?
Du schaust tief in mich und nickst kräftig mit dem Kopf. O wie schön ist das denn, wir können uns also immer noch verbinden, wir können miteinander kommunizieren. So, du und ich haben also am Fenster gestanden und an den anderen gedacht. Etwas Besonderes ist das ja nun nicht, wir machen das ja fast jeden Abend. Ich träume dann ganz wunderschön von dir und fühle mich lieb von dir gehalten. Ich kuschel mich in deinen Arm und spüre deinen Kuss in meinem Nacken, deine Hände die sanft über meinen Körper fahren und gemeinsam schlafen wir ein. Also das kann nicht schuld daran sein, dass wir hier in 2 Käfigen sitzen. Wie Hänsel und Gretel, genau so krabbelt mir ein Gedanke in den Kopf. Ja aber das waren Geschwister und die waren auch immer Kinder. Wir aber waren schon erwachsen oder sind es immer noch, nur eben in der Gestalt von einem Jungen und einem Mädchen. Ich fühle ja auch gar nicht wie ein Kind. In mir ist eine große Liebe für dich, so wie immer, so wie jeden Tag und jede Nacht.
Nein sag nichts, ich weiß dass alles was wir tun verboten ist oder nicht sein sollte, aber sei ehrlich, kann man sich gegen die Liebe wehren. Kann man sagen: *Geh Liebe, ich seh dich nicht, such dir jemanden anders aus, aber lass mich in Ruhe?* Wir haben es doch versucht, immer und immer wieder und was war, meine Gedanken haben dich und deine mich gesucht und immer öfter gefunden. Wir haben uns ja nicht einmal gesehen. Ja doch natürlich haben wir uns gesehen, aber nur mit dem Herzen. Du weißt wie ich das meine, halt so richtig, mit allem, mit echtem Berühren und im Arm halten. So direkt voreinander stehen, so vor aller Welt. Zusammengehören, das ist das Zauberwort, was ich meine.
Ach bitte schau mich doch nicht so an, du hast ja recht unsere Gedanken sind verbunden, also haben wir uns auch richtig lieb. Wir müssen nicht im realen Leben sein, wir haben uns und das immer. Weißt du, mein Schatz, ich glaube wir haben uns viel mehr und tiefer, als Menschen die jeden Tag alles gemeinsam machen.
Meinst du unsere Liebe hat uns in diesen Käfig gesetzt, sind wir gefangen in der Liebe, meinst du das? Will dein Blick mir genau das sagen? Sind wir nur Kinder geworden, damit wir sehen und begreifen, dass unsere Liebe unschuldig und rein ist. Unsere Liebe vielleicht. Aber unser Handeln, das ist es nicht, das ist nicht rein und ehrlich. Was will uns das hier nun alles zeigen, sollen wir bestraft werden, sollen wir uns zu unserer Liebe bekennen und Schmerzen in Herzen pflanzen, die uns lieben?
Ach ich würde so gern immer bei dir sein und den Weg gemeinsam mit dir gehen, aber sag mir wo soll der hinführen. Weg von allem, von unserer Vergangenheit, weg von den Kindern, die uns brauchen und lieben?
Wieso denke ich *weg von den Kindern*.
Liebling genau das ist es, was uns gefangen hält. Verstehst du nun was passiert ist? Wir sollen mit den Augen unserer Kinder sehen, ihre Trauer, ihren Schmerz und ihre Hilflosigkeit körperlich spüren. Unsere Kinder sind es, die uns hier hergebracht haben und uns zeigen was wichtig ist im Leben. Sie brauchen unsere Liebe viel mehr. Sie haben doch nur uns und vertrauen uns doch auch.
Unsere Liebe können wir einschließen und behalten, wenn wir wollen für immer, aber den Kindern die Liebe wegnehmen, nein mein Herz, das dürfen wir nicht. Sie sind so unschuldig und rein, wir dürfen sie nicht enttäuschen. Sie glauben an uns. Wenn ich in deine Augen schaue, sehe ich den Schmerz meiner und deiner Kinder.
Ich kann nichts mehr sehen, gar nichts mehr. Meine Augen brennen, ich möchte sie so gern aufmachen, aber es geht nicht. Ich hebe die rechte Hand und lege sie mir auf mein Gesicht, es ist ganz nass. Langsam drehe ich mich zur rechten Seite suche nach dir, nach dem Gefühl dich hinter mir zu spüren, aber es ist nichts, ich bin allein. Mein Blick fällt auf den goldenen Stern der neben mir liegt. Meine Hand gleitet zu meinem Hals, er ist nackt, schmerzlich nackt. Dort wo sich gestern noch die zarte Kette warm und leicht anschmiegte, da ist nichts mehr. Wie eine Schlange liegt sie neben mir, wie zu einer allerletzten Mahnung wirft die Sonne brennende Strahlen auf das Schmuckstück. Züngelnde kleine Flammen tanzen um den Stern. Ich muss mir dein Geschenk wohl in dieser Nacht abgerissen haben.
Neue Tränen rinnen mir über das Gesicht. Traurig nehme ich das kleine goldene Schächtelchen, in dem du die Kette so liebevoll verpackt hattest, lege die beiden Teile hinein und schließe alles zuerst in mein Herz, dann in den kleinen Schrank, in dem ich meine Vergangenheit verwahre. Du gehörst ab heute dazu.
„Mama“ rufen die Kinder und ich weiß, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Meine Entscheidung für die Liebe, die Liebe meiner Kinder.
© UteAnneMarie Schuster.