2. Kapitel
Irgendwo am Ende der Stadt, begann ein komplett anderer Tag.
Das Reichenviertel in Nashville.
Hier scheinte die Sonne nicht vorsichtig-im Gegenteil-sie weckte ihre Bewohner frohlockend und kitzelte Emily richtig aus dem Schlaf heraus. Verschlafen, aber mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht, betrachtete sie ihre Uhr, bis sie endlich realisieren konnte, wie spät es war.
Emily war glücklich, denn sie wusste, was heute für ein Tag war.
Heute würde ihr Vater sie mit nach New York nehmen, ein herrliches Geschenk zu ihrem Geburtstag!
New York war für sie immer unerreichbar gewesen und jetzt würde sie einen Schritt in die Millionenstadt machen. Den Schnee unter ihren Füßen zerknirschen lassen-der Schnee von New York.
Es würden 1000 Lichter über ihrem Kopf hängen und der Tannenbaum würde gewaltig sein, sie würde ihren Freundinnen noch lange von New Yorks Schönheit erzählen können.
Verträumt hielt sie inne und sprang mit einem Satz aus ihrem Bett. Immerhin hat sie ihrem Vater versprochen, pünktlich zu sein. Ihr Koffer lag schon bereit und sie brauchte sich nur noch anzuziehen.
Als sie ihre Tür öffnete, drang ein immenser Geruch von frischen Brezen zu ihr hinauf und ließ ihr Herz noch schneller klopfen.
Sie war aufgeregt und wenn es Brezen gab, dann war Michael da! Michael war ein Bekannter ihrer Eltern und brachte jedesmal Brezen mit, wenn er auf Geschäftsreise war. Er hatte einen wahnsinnigen Tick, jedesmal, wenn er aus dem Haus ging, das Grab seiner Frau aufzusuchen. Dieses lag in der Nähe von Emilys Haus und der Bäckerei und Michael vergötterte Emily. „Ich hätte gerne eine Tochter wie du. Weißt du das?“ Das war das Erste, was Michael zu ihr gesagt hat, als sie ihm vorgestellt wurde und seitdem liebte Emily ihn.
Blitzschnell huschte sie die Treppe hinunter und vergaß die Tatsache, dass sie sich noch gar nicht angezogen hatte.
"Michael!"
Ein dröhnendes Lachen erklang und sie wusste, dass Michael sie gesehen hat. Zu spät hat sie ihre Frisur in Kenntnis genommen, ihre blonden Haare steckten noch in Lockenwickler und-grauenvoll. Mehr konnte sie auch nicht denken, nur noch an Michael und sein Lachen.
Auch wenn ihr durchaus bewusst war, dass er über SIE gelacht hat, war sie immer noch verzaubert von dem Glitzern in seinem Auge, von seinem breiten Grinsen, bis sie fluchtartig nach oben rannte.
Sie musste sich praktisch losreißen, um der Faszination zu entkommen.
Dann hörte sie nur noch ein Türeschlagen und ein Auto-ist Michael gegangen? Hastig machte sie sich auf dem Weg nach unten. Er war weg!
Sie verzog ihre Miene und entdeckte einen kleinen Karton.
Un Cadeau. Ein Geschenk. Ein Geschenk von Michael! Aufgeregt stürzte sie sich auf das Geschenk und entdeckte eine kleine Spieluhr. Sie war verrostet und die wenigen Verzierungen sind alle verwaschen worden. Richtig schön war sie nicht. Enttäuscht ließ sie ihre Hand sinken-sie war besseres gewohnt. Eine Spieluhr? Sie war doch kein Waisenkind...
Vielleicht hat er ja noch etwas versteckt?
Ihre kleinen Hände durchwühlten den Karton bis sie auf einen Zettel stieß.
Er war gelblich und sie musste sich überwinden, um ihn überhaupt anfassen zu können.
Nashville.
Waisenhaus.
Michel.
Rollstuhl.
Verwirrt hielt sie inne. Warum hat Michael ihr einen Zettel gegeben, wo so etwas draufsteht? Sollte da nicht Michael stehen, statt Michel?
Und warum Rollstuhl und Waisenhaus?
Die Spieluhr lag in der Ecke-vergessen-und erst nach ein paar Monaten würde sie sich erst raustrauen.
3. Kapitel
Es war still im Waisenhaus, die Gänge waren leer und verlassen und von draußen dröhnte das Kindergeschrei nur noch schwach herein.
Ein paar Waisenhaus-Schwestern eilten durch das verlassene Gebäude, um noch ein paar Sachen zu erledigen.
Das Gewusel war durchschaubar-nur wenige hielten sich um diese Uhrzeit im Waisenhaus auf.
Alle Kinder waren draußen und spielten.
Alle bis auf Michel.
Sie war allein, hatte sich verschanzt, dort, wo die Schwestern sie nicht finden würden. Es war ihr nicht erlaubt, nach draußen zu gehen-nicht jetzt, wo es auf den Wegen rutschig ist und der Schnee den Rollstuhl behindern wird.
"Wir haben kein Geld, wenn dir etwas zustößt!", haben sie ihr immer wieder erklärt. Geld haben sie keines, der Staat würde Unfälle nicht bezahlen und sie seien schon froh, überhaupt Lohn zu bekommen.
Die ewige Leier und sie dachten überhaupt nicht dran, dass Michel nicht wüsste, dass sie das übrige Geld in Kuchen investierte.
Das war der Vorteil, wenn man nicht rausdarf, man kann in Ruhe Leute ausspionieren. Natürlich wäre es viel spannender, wenn sie draußen fremde Leute beobachten könnte, aber das war ihr ein nicht zugeteiltes Privileg.
Es war ruhig, die Stille verharrte hörbar im Raum.
Sie seufzte.
Ein Geräusch drang an ihrem Ohr-die Türklingel!
Wer das wohl sein mochte?
Aufgeregt spitzte sie ihre Ohren und rollte leise näher, bis das Klingeln immer lauter wurde. Sie stand jetzt draußen im Treppenhaus und konnte von oben ganz bequem nach unten blicken.
1. Kapitel
Der Tag sah viel versprechend aus.
Es war noch dunkel und der Schnee glitzerte schwach im Schein einer Laterne, aber Michel war schon längst wach. Ihre Nase wurde gegen die Fensterscheibe gedrückt und ließ die Eisblumen schmelzen. Ganz langsam lösten sich die winzigen Tropfen auf und machten sich auf dem Weg nach unten-zu dem Schnee.
Michels Gedanken waren rein, unschuldig, wie die Gedanken eines jungen Mädchens sein sollten. Sie wusste nicht, was Krieg war und die Leiden eines Soldaten konnte sie sich nicht vorstellen. Die Schmerzen, die sie erleiden musste, als der Unfall passierte, waren schon lange vorbei. So lange, dass Michel sich gar nicht mehr daran erinnern konnte.
Aber noch war sie ein unwissendes, kleines Kind, noch konnte sie nicht ahnen, was alles auf sie zukommen wird, noch war sie unschuldig. Und noch musste sie in dem Waisenhaus bleiben. Sie konnte nur darauf hoffen, dass bald jemand komme und sie abhole.
Der Schnee war noch unberührt, verführerisch funkelte er in allen möglichen Farben und Michel konnte sich einfach nicht satt sehen. Sie konnte nur zugucken, wie der Schnee unter Kinderlachen in die Luft geworfen wird, wie sich aus der glatten Fläche langsam unter Kinderhänden ein Schneemann geformt wird. Aber sie konnte nur zusehen, keiner würde jemals mit ihr spielen, keiner wird ihr zeigen, wie schön Schnee ist.
Michel saß im Rollstuhl fest.
Vom Fenster aus gesehen, konnte man es nicht erkennen, ihre dunkelbraunen Augen sahen verträumt aus und um ihren Mund konnte man ein leichtes Lächeln erkennen. Nein, Michel war nicht unglücklich. Sie war nie unglücklich-jedenfalls nicht um diese Zeit. Sie hatte noch genügend Zeit, traurig zu sein. Aber erst, wenn sie einen Grund hatte. Nun aber war sie allein und sie genoss es, die hämischen Blicke ihrer Kameraden zu vergessen. Die Blicke von fremden Besuchern, wie sie hinter ihrer Hand, anfangen zu tuscheln oder mit dem Finger auf sie zeigen.
Vom Fenster aus, sah sie wie ein Engel aus mit ihren süßen Locken und niemand würde erkennen, dass Michel ein Todesengel sein würde.
4. Kapitel
Emily wollte sich gerade umziehen, als ihre Mutter die große Treppe hinauf hetzte. "Em!"
Überrascht drehte Emily sich um und erblickte eine etwas rundliche Frau, deren Wangen vom Laufen erhitzt waren. Couchpotato nannte man solche Menschen. Dieses Couchpotato brachte offenbar eine Nachricht, die von großer Bedeutung war.
"Was ist geschehen, Mama?"
"Em...", ihre Stimme war leise, sanft und man konnte ihre Beunruhigung richtig ansehen und steigerte sich bis zum Ende des Satzes in hörbare Hysterie, "Michael hatte einen Unfall."
Die Uhr tickte leise im Takt.
14 Mal musste sie ticken, bis Emily aus ihrer Starre erwachte.
14 Mal musste sie ticken, eine lange Zeit, die der Mutter nicht sehr behagte.
Sie wusste, wie sehr Emily an Michael hing. Michael war sicher schon alt, aber Emily war er wie ein Bruder gewesen. Oder wie ein Traumprinz. Sie wusste gar nicht, ob Emily diese Nachricht überhaupt verkraften würde. Zu ihrer Überraschung war Emily schnell zu sich gekommen und erkundigte sich nach Michaels Befinden.
"Er ist tot."
Man konnte die Panik im Raum praktisch riechen. Michael sollte tot sein? Niemals... „Niemals!“, brüllte Emily vor Wut, doch sie wusste, dass sie es sich irgendwann eingestehen musste. Man konnte nicht vor dem Schicksal weglaufen, das war ihr schon als kleines Kind eingetrichtert worden.
Emily wechselte ihre Farbe wie ein Chamäleon.
Zuerst wurde sie ganz blass, danach erschien eine kräftige rote Farbe auf ihrem Gesicht und sie wurde wieder ganz blass.
Sie war geschockt, verzweifelt-und wütend.
Wütend darüber, dass das an ihrem Geburtstag passierte.
Wütend darüber, dass New York warten musste.
Wütend darüber, dass sie Michael nicht mehr fragen konnte über den Zettel.
Und wütend darüber, dass er sie alleine gelassen hat.
Ja, Emily war ein verwöhntes, reiches Gör.
Tot. Michael.
Diese Worte kreisten ununterbrochen in ihrem Gehirn rum.
Immer und immer wieder.
In Emilys Faust war Michaels Zettel.
Zerknittert war er, aber es interessierte Emily nicht.
Warum auch?
Ordnung hielt die Putzfrau, sie hat sich nie darum kümmern müssen.
Fest entschlossen wollte sie ihren Geburtstag im Waisenhaus verbringen.
Wenigstens diesen letzten Wunsch von Michael wollte sie ihm erfüllen.
Das Gebäude sah heruntergefallen aus und Emily fühlte sich gar nicht wohl.
Was da wohl für Leute hausten? Wahrscheinlich irgendwelche Bettler in Lumpen... Bei diesem Gedanken grauste es ihr und sie betrachtete sich selbst: Markentop, Markenrock, Markenschuhe, echte Goldkette, Silberohrringe und eine 400-Euro-Uhr. Zweifelnd blickte sie zum Haupttor rüber.
Und wie hielten sie es hier drinnen aus? Emily war ratlos und so etwas wie Mitleid kroch in ihr Herz.
Als die Luxuslimosine vor dem Waisenhaus Halt hielt, zögerte sie eine Weile, aber schließlich ließ sie sich doch aus dem Auto hinaushelfen. Verstohlene Kinderaugen starrten sie an, denn es war äußerst selten, so hohen Besuch zu bekommen. Genauso verlegen betrat sie das Haupttor und ließ den Schnee unter ihren Füßen knirschen, bis sie an der Tür ankam und die Klingel bestätigte.
5. Kapitel
"Kann ich Ihnen helfen?"
"Können Sie was mit diesem Zettel anfangen?"
Ein Knistern, dann wieder Stille.
Michel hörte den Schock der Schwester, er war hörbar.
Sie hatte ein gutes Gehör.
"Michel? Was wollen Sie von ihr?"
Das hat sie nicht erwartet. Michel fragte sich, was sie wohl von ihr wollten?
Ihr Herz klopfte so laut, dass sie sich fragte, ob Menschen mit schlechtem Gehör ihren Herzschlag erkennen konnten. Aber keiner von den beiden bemerkte sie.
"Ich möchte gern mit Ihr sprechen."
Erschrocken schnappte sie nach Luft und tauchte hastig ihren Kopf nach unter, als dieses fremde Mädchen nach oben guckte.
Vielleicht war es ja ihre Schwester? Ein kleiner Schimmer Hoffnung nistete sich in ihrem Kopf ein, doch trotz allem blieb sie misstrauisch.
Die Kleine war blond. Und sie steckte nicht im Rollstuhl.
Sie dagegen war brünett und sie war behindert.
Ob sie trotz allem Schwestern sein könnten?
Ihr kindlicher Verstand fantasierte weiter herum, bis sie von hinten Schritte hörte. Zum ersten Mal ließ sie ihr Gehör im Stich!
Erschrocken blickte sie in zwei hellgraue Augen und blinzelte das Mädchen an.
"Ich heiße Emily.", kam aus dem blonden Mädchen raus und eine perfekte Zahnreihe blitzte bei einem Versuch eines Lächelns.
Dieses Mädchen machte Michel Angst. Sie lächelte-ohne zu lächeln.
Emily war wie Michel. Perfekte Masken, die nur Kinder durchschauen konnten.
6. Kapitel
Irgendetwas war anders im Waisenhaus.
Robert roch es. Irgendetwas war merkwürdig.
Irgendetwas war weg.
Robert sog die Luft tief in seine Nase ein.
Was war es bloß?
Oder besser gesagt: Was war da nicht?
Seine schwarzen Haare verdeckten sein halbes Gesicht. Sein leichter Bart vollendete diesen verwegenen Look. Für seine 15 Jahre sah er schon sehr erwachsen aus, doch das hinderte ihn nicht, im Waisenhaus zu bleiben und dort sein Unheil zu treiben.
Robert war ein Werwolf. Seiner Familie, die menschlichen Blutes waren, war er nicht geheuer, weil er ständig behauptete, seine Mutter hätte es mit einem anderen Mann getrieben. Wie sonst könnte er ein Werwolf sein? Er, der Sprössling einer anständigen und angesehenen Familie?
Es war ihm ein Rätsel und er war seiner Familie ein Rätsel.
Irgendwann stand er allein da. Als er aufwachte, war das gesamte Haus leer und alle waren weg. Keine Menschenseele hat ihn beachtet, denn schon seit Wochen wussten die Nachbarn, dass die Familie Roberts wegziehen würde.
Robert Roberts war kein Roberts mehr. Er war ein Niemand.
Merkwürdige Ironie, aber das half ihm nicht weiter-kaum war er aus dem Haus getreten, begann ein harter Alltag bis ihm eine Schwester aufnahm.
Robert Niemand war abgrundtief böse.
Seine Familie hat seine Seele schwarz angemalt.
Wie ein weißer Pinselstrich hielt das Gute sein Herz umklammert, wollte nicht weg-noch nicht. Robert Niemand war doch noch so jung, wie konnte er so böse werden?
Zum Glück wurde keiner im Waisenhaus sein Opfer-bis auf Michel.
Er konnte in ihre Seele blicken, und das, was er da erblickte, war mehr als zufriedenstellend. Sie war weiß. Noch war sie weiß.
Aber es wird nicht lang dauern, dann würde sie sich langsam-ganz langsam-dunkel färben.
Robert wollte sehen, wie sich das Weiße wehrt und schreit, wie es langsam seinem Untergang entgegensieht.
Wollte sehen, wie es sich quält und wie es Robert verflucht.
Wollte sehen, wie sein Herz immer dunkler wird und das Gefühl auf der Haut spüren, etwas Gutes für das Böse getan zu haben.
Er liebte diese Momente.
Michel war genau die Richtige für seine Pläne. So unauffällig wie sie war, könnte sie sein Todesengel werden.
Er wusste, dass sie sich jeden Abend aus dem Bett schlich.
Er wusste, was hinter ihrer Maske steckte.
Und er wusste, wie er sich das zu Eigen machen konnte.
Aber nun war sie weg.
Ihr himmlischer Geruch nach Unschuld und Hoffnung war weg und seine Nase musste sich wieder an diese ungewohnte Umgebung gewöhnen.
7. Kapitel
"Esseeeeen!"
Aus der Pforte strömte eine Kolonie von Kindern rein, es wurde geschubst und gedrängelt. Jeder wollte sich den besten Platz schnappen, am besten ganz nah an der Kantine. Das Waisenhaus füllte sich wieder mit Stimmen.
Endlich haben sich alle versammelt und sie wunderten sich-zum ersten Mal hatte jeder Platz und ein Stuhl war gar übrig!
Lange mussten sie nachdenken bis sie endlich bemerkten, dass Michel und Robert nicht da waren-so fremd waren die beiden für sie.
8. Kapitel
Die Sonne brannte mit voller Wucht vom wolkenlosen Himmel runter.
So schnell konnte die Zeit vergehen, so schnell, dass fast ein halbes Jahr vorbei war. Sommer.
In der großen Villa war es schön kühl-Klimaanlage nannte man das, was Michel noch lernen musste. Schon seit einem halben Jahr nistete sie sich bei Emily ein und ihre Hautfarbe schien schon gesünder auszusehen. Ihre Wangen glühten vor Freude und ihr Lachen bezauberte alle in ihrem Umkreis. Michel war ein Sonnenschein und fast wäre Emily eifersüchtig, wenn sie nicht beste Freunde wären.
Seit März waren sie beiden blutsverwandt, haben ihr Blut ausgetauscht und sich geschworen, sich zu lieben-auf dass der Tod sie scheidet.
Sie teilten sich ein großes Zimmer, sie tauschten sich ihre Klamotten aus und niemand konnte ahnen, dass Michel ein Waisenkind war. Niemand konnte ahnen, dass Michel nicht schon immer in wunderschöne, seidige Kleider gekleidet war.
Nein-Michel hat ihre Herkunft vergessen und allmählich schwand ihr auch die Tatsache, dass sie keine Eltern hat.
Immer weiter neigte sich ihre Nase der Sonne entgegen, immer größer wurde ihre Hochmut, immer lauter lachte sie.
Das Glück flog täglich zu ihr und nahm sie mit auf seinem Luftballon. Emily durfte natürlich auch mit, auch wenn sie neidisch auf sie war. Warum war ihr das Glück länger gegönnt als ihr selbst? Michel hat es doch mehr verdient, oder?
Wenn sie nicht grad lachte, grübelte sie darüber nach und empfand eine Wut gegen das Schicksal. Emily sollte im Waisenhaus sein! Emily sollte im Rollstuhl sitzen!
Das war einer der Momente, die darauf hindeuten, wie das Schicksal mit ihr spielte. Hinweise, dass es nicht mehr lang dauern würde, bis Michel Todesengel spielen würde.
Das Schicksal hat schon lange entschieden. Die Würfel sind gefallen. Nur noch ein paar Schritte, bis sie alle verlieren.
Robert währenddessen lag seitdem auf der Lauer. Michels Aura war so stark, dass er sie schon im Hotel gegenüber spüren kann. Was aber nicht bedeutet, dass er im Hotel nächtigt-im Gegenteil, er gehörte zu einer der bedeutendsten Straßenjungenbanden Nashvilles. Aber auch, wenn er mit seinen Kameraden in der Stadt herumzog und das eine oder andere stibitzte, konnte der ihre Aura immer noch spüren und nichts konnte ihn davon abbringen, aus ihrer Nähe zu weichen. Ihr Duft war ein Bestandteil seines Lebens geworden-sein Lebenssinn. Sein Lebenselixier.
Er spürte ihre Unschuld, er spürte ihr Glück und er spürte die Schwierigkeit darin, ihre Unschuld zu vernichten. Aber er hatte sie fast. Er erkannte das Böse in ihr-nur eine geringe Menge-aber genug, um zu siegen. Um zu triumphieren. Der Neid fraß sie auf. Er wusste nicht, worauf sie neidisch war, aber er würde es herausfinden. Warum sollte er auch auf seinen Füßen gehen, ohne ein Geräusch von sich zu geben? Ganz einfach-um seine Pläne zu verwirklichen.
Warum sollte er ein Werwolf sein? Um dem Teufel zu dienen.
Diese Antworten setzten sich in seinem Gehirn durch und flößten seinen Kameraden Angst ein. Doch er war dort geduldet, denn er war ein wichtiges Teil in ihrer Arbeit. Mit ihm war alles besser, schneller und vor allem effektiver.
Warum sollten sie ihm was antun, wenn er niemanden was antut?
So dachten sie, und es war sein Glück, dass sie die Realität nicht erkannt haben.
Ein Schrei hallte durch das große Haus, erschütterte dessen Wände, ließen Emily zusammenschrecken. Ein Schrei zerstörte das friedliche Zusammenleben. Ein Schrei, der große Folgen hatte.
Plötzlich war er da. Seine Hände griffen nach ihren Hüften und zogen sie unsanft weg. Michel versuchte, sich zu wehren-doch ohne Erfolg. Ihr Entführer war stärker als sie. Die stummen Tränen flossen ihr über das Gesicht, bis sie die Hand ihres Entführers auf ihrem Mund benässten. Es tat weh-so weh. Ihre Beine musste sie mit größter Anstrengung gerade halten und die Schmerzen schossen ihr im Takt durch den Körper. Immer wieder musste sie die Zähne fest zusammenkneifen und konnte keine Hilfe erwarten. Geschweige denn, sich zu beschweren, wie auch? Ihren Mund konnte sie nicht öffnen und weglaufen konnte sie auch nicht. Die Tränen wurden immer zahlreicher.
Auch zuhause flossen Tränen.
Immer noch rief Emily nach Michel, während am Horizont die Sonne sich bereit macht, unterzugehen.
Gerade hatte sie noch eine beste Freundin, gerade noch war sie glücklich und wenn sie bloß nicht dieses dumme Eis kaufen wollte, wäre Michel vielleicht noch da.
Nashville trauerte. Noch nie hat eine Straßenbande versucht, mitten am helllichten Tag einen Menschen zu entführen. Noch nie geschah etwas im Reichenviertel und jetzt trafen gleich 2 neue Fälle ein. Nashville war am Boden zerstört. Wie konnte das passieren?
Warum haben die Polizisten nicht aufgepasst?
Fragen über Fragen und auch wenn sie die hätte beantworten können-Michel würden sie nicht zurückkriegen.
9. Kapitel
"Hast du Hunger?" Die Männerstimme klang schroff und flößte Michel Angst ein. Doch ihr Magen überredete sie, ihm zu antworten. Ein zaghaftes "Ja" kam ihr über die Lippen und hoffte, sich nicht wieder bewegen zu müssen. Ihr Entführer sah nicht aus wie ein Mensch. Er sah aus wie ein Erwachsener, doch ein kindliches Funkeln in seinen Augen war klar erkennbar. Nein-Michel konnte er nicht übers Ohr hauen.
Schließlich siegte ihr Herz über ihrem Verstand. Sie MUSSTE einfach herausfinden, warum sie hier war und erkundigte sich ängstlich danach, was er mit ihr vorhabe.
"Ich möchte dich retten."
Das war ihr neu. Warum rettete er sie, indem er ihr Schmerzen zufügte?
Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, reichte er ihr ein paar Schmerztabletten. "Hab ich ganz vergessen, du bist ja behindert."
Sie erwartete ein höhnisches Lächeln-aber es kam nicht. Das Gesicht, in das sie blickte, war von Ernst gezeichnet und von Lebenserfahrung.
"Wir können uns später weiter unterhalten. Du hast doch schließlich Hunger und man lässt Leute, die man liebt nicht verhungern, oder?"
Er hat sich währenddessen schon abgewendet, sodass sie nicht erkennen konnte, ob er die Wahrheit sprach, oder nicht. Er liebte sie?
Er liebte sie?
Er liebt mich.
Diese Gedanken fuhren ihr immer wieder durch ihr Gehirn.
Immer wieder, bis sie ihm schließlich glaubte.
Noch nie hat sie jemand geliebt. Selbst Emily nicht und nun offenbarte sich jemand ihrer.
Ein Gefühl, das ihr bis jetzt unbekannt war, schlich in ihr Herz.
Voller Schmerz wand er sich ab, er wusste, dass ihr Herz jetzt fast komplett weiß sein würde. Indem er ihr seine Liebe offenbarte, würde das Gute wieder siegen, würde ihr Herz mit Glück füllen und das war genau das Umgekehrte, das er beabsichtigt hat.
Schleunigst machte er sich auf dem Weg nach draußen. Er, Robert, hat es fast geschafft. Er musste nur noch ihr Herz schwärzen.
Musste nur noch ein paar Tage mit ihr weilen. Dann war es geschafft.
Ein selbstzufriedenes Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.
Aber jetzt musste er erst einmal Essen besorgen und aufpassen, dass seine Kameraden nichts von ihr erfahren.
Ihre Aura brannte in seiner Nase und ihm war es nicht schwer gefallen, sich von ihr zu trennen. Jahrelang hat er nach diesem Duft gestrebt und jetzt, wo er sie hatte, war sie ihm unangenehm. Manchmal verstand selbst Robert die Welt nicht mehr.
10. Kapitel
Vielleicht war es Liebe, vielleicht war es aber auch nur pure Verzweiflung, doch zwischen denen befand sich ein festes Band, das die beiden verband. Schnell lernte Michel sich anzupassen, denn Robert war durchaus reizbar. Sie wollte nicht, dass er wütend auf sie war, deshalb versuchte sie alles, was er von sich gab, zu merken, um ihn glücklich zu machen. Mittlerweile gab es keinen anderen Sinn mehr für sie. Ihre braunen Haare waren etwas zersaust und ihre grauen Augen nahmen langsam den gleichen irren Ausdruck an wie bei Robert.
Robert hatte Zeit für sie und er gab ihr den Eindruck, als ob er sie wirklich lieben würde.
Doch auch er befand sich in einer anderen Denkweise, als er geplant hat. Er wusste nichts mehr. Es war, als ob er sie wirklich lieben würde. Sie war die Einzige, die ihn so vergötterte.
Die Einzige, die ihm wirklich zuhörte und für ihn wirklich alles tun würde. Zwar gefiel es ihm, aber oftmals plagte ihm ein schlechtes Gewissen, sodass er beschloss, noch einige Tage zu warten, bevor er ihre reine Seele tötete. Noch nie hat er so große Gefühle gehabt, nicht einmal, als seine Familie abgehauen war.
Manchmal lag er auch neben ihr und lauschte ihrem Atem. Es tat ihm weh, daran zu denken, dass die Luft, die sie einmal ausatmen wird, dunkel und schwarz sein würde. Dass sie einmal so verdorben sein würde wie er. In diesen Augenblicken stockte sein Herz und er bemerkte, dass auch er-Robert Niemand- Gefühle haben konnte.
Doch eines schönen Tages, als die Vögel am Himmel zwitschernd ihre Runden drehten, als die Sonne hoch am Zenit stand, an diesem Tag zerstörte Robert Michels Welt.
Er küsste sie-wie jeden Tag-und er flüsterte ihr immer während den flüchtigen Küssen zu, dass er wüsste, wer ihr Vater sei. Er konnte es sehen, sehen wie sich ihre Augen weiteten und wie sie sich von seinen Lippen wegriss. „Wer?“, keuchte sie. Er konnte das Weiße in ihren Augen erkennen, das Irre, die Hoffnung, die sie verrückt machte. „Frag doch Emily..., die kennt ihn ja. Die weiß alles. Er heißt Michael und er ist gestorben.“
Sie weinte. Sie wusste nicht warum, noch hat sie es nicht realisiert. Sie weinte trotzdem. Das Schluchzen ließ ihren kleinen Körper erbeben und Robert stand hilflos daneben. Es war wohl doch schwieriger, als er gedacht hat. „Bitte, Michel, er hat dich lieb gehabt! Es ist nur, weil Emily ihn getötet hat und...“
Ihr wahnsinniger Blick erstummte ihn. Gespannt wartete er ab, er bemerkte den Schatten, der sich über das Weiße in ihrem Herzen erhob. „Sie. Hat. Ihn. GETÖTET?“
Er hat es geschafft, er sah das Schwarze, er sah ihre mordlüsternen Pläne, er sah ihre Gier nach Rache und vor allem sah er seinen Erfolg. Michel war böse geworden. „Herzlichen Glückwunsch.“, murmelte er sich selber zu.
„WAS willst du jetzt machen, kleine Michel? Willst du deinen Daddy nicht rächen? Wenn Emily nicht zu sehr auf ihre Figur geachtet hätte, wäre Michael nicht so schnell gegangen, dann wäre der Unfall auch nicht passiert, nicht wahr? Na, willst du Emily nicht töten? Du weißt doch: Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ So säuselte er auf Michel zu. Immer wieder, bis die Worte sich in ihr Gehirn eingebrannt haben. Worte, die mit Hass geschrieben worden sind.
11. Kapitel
Plötzlich war sie da.
Ihre Silhouette war eine dunkle, gekrümmte Gestalt, die mit erstaunlicher Geschwindigkeit Emily zusteuerte. „Michel!“, rief Emily aufgeregt und ja-sie freute sich, denn noch weiß sie nicht, was passieren wird. Hinter Michel regte sich jemand, eine zweite, etwas linkische Gestalt bewachte sie auf Schritt und Tritt. Es sah so aus, als wollte er sichergehen, dass ihr auch ja nichts passiert. Verwirrt beschloss Emily, Michel doch nicht zu umarmen, denn die Angst schlang bereits die Arme um sie. „Michel?“, fragte Emily wieder, doch diesmal zaghafter und zögernd. Was war nur mit ihrer Freundin los? Der fröhliche, unbekümmerte Ausdruck aus ihrem Gesicht war verschwunden, stattdessen machte er einer halb verrückten Miene Platz. Instinktiv bewegte sich Emily nach hinten, während Michel immer näher kam. „Was hast du mit Michael gemacht?“ Emily kannte Michel zu gut, sie wusste, dass sie nur monoton klang, doch in ihrem Innern tobte ein Feuer.
Michael. Was soll mit ihm sein? Er ist tot. Fertig.
„Was meinst du damit? Er hat mir einen Zettel mit deinem Namen hinterlassen, bevor er starb, mehr nicht!“
Das Keuchen kam immer näher, immer lauter wurde es und ließ einen Schauer über Emilys Rücken gleiten. „Grundgütiger. Was ist nur mit ihr los?“, flüsterte Emily und versuchte, sich zu bewegen. Doch ihre Arme und Beine waren wie erstarrt, nur zusehen konnte sie, wie Michel mit ihrem Rollstuhl immer schneller zu ihr rollte. Nun war auch sie an der Reihe, zuzusehen, und nicht Michel. Endlich konnte auch Michel etwas bewirken und das Schicksal verändern.
Der Todesengel war in ihr erwacht und nur noch der Tod von Emily konnte das letzte Stückchen Reinheit in ihrem Herzen auslöschen. Und Robert stand draußen und freute sich darauf, bald Blut zu sehen. Er war stolz, stolz auf seinen Todesengel und stolz auf das Mädchen seiner Träume.
In den letzten Tagen hat er seine Gefühle nicht mehr zurückhalten können, er wusste es jetzt ganz genau. Schon geplant hat er alles. Flitterwochen und Las Vegas. Nur noch ein paar Minuten, immer wieder blickte er auf seine Armbanduhr. „Die müssen mal wieder viel reden. Typisch Mädchen.“, murmelte er und lehnte sich locker an die Wand. Er konnte selbst hier die Macht spüren, die er so begehrte, er konnte sich alles genau vorstellen.
Menschen sind so naiv, dass sie sich einbilden, er würde nichts merken?
Das Messer wurde gezuckt.
Robert wirbelte herum, blickte in das Haus hinein. Ja, das Finale, es fängt an.
„Langsam zerschneiden. Macht mehr Spaß, verstanden?“, hatte er ihr erklärt und hoffte, dass er diese Tortur miterleben durfte. „Michel. Bitte.“, hauchte Emily, vielleicht das letzte, was sie sagen konnte.
Das Messer kam immer näher, es blendete Emily, denn es reflektierte das Licht. Die Angst ließ sie fast ersticken, die Angst vor Schmerzen und die Angst um ihre beste Freundin.
„Michel... ich dachte, ich dachte, wir wären beste Freunde? Sind wir doch..oder? Oder?“ Doch nicht das Letzte, was sie von sich gab. „Schon wieder diese Schnulzennummer...“, knurrte Robert und befahl Emily im Geiste sofort Emilys Leben zu beenden und hoffte, sie könnte gedankenlesen.
„Waren wir einmal. Bis du Michael getötet hast. Meinen Vater.“ Die Hysterie war deutlich zu hören in diesen Worten, auch wenn sie nur geflüstert waren. „Verräterin.“
„Nein! Ich habe ihn nicht getötet! Wirklich nicht, es war..., es war ein Unfall..“
Emily war am Ende ihrer Kräfte und sie würde nicht mehr lange durchhalten. Die Angst machte sie fertig und brachte sie um. „Beste Freunde sterben doch zusammen, oder?“
Die Luft vibrierte, die Stille hang bedrohlich in der Luft.
„Stimmt...“
„Neeein! Was machen die da? Warum wird sie weiß?!“ Entsetzt sprang Robert auf und ab und wedelte mit den Armen, doch Michel sah ihn nicht.
„Beste Freunde sterben zusammen... Erinnerst du dich noch? Wir sind doch Blutschwestern.“
Am Samstag, den 25. 4., ereignete sich ein Blutbad im Reichenviertel Nashvilles. 3 Teenager kamen um. 2 erlitten schwere Körperverletzungen, die von einem Messer stammen. Der Junge zündete das Haus in Brand und stürzte sich in die Flammen. Wahrscheinlich hatten alle 3 Selbstmordgedanken.
Von dem Haus blieb nur noch eine verrostete Spieluhr übrig.
Nashville leidet in diesem Moment mit den Betroffenen.